Theater in der Tiefgarage: Isoliert im eigenen Auto

Das Deutsche Theater in Göttingen inszeniert Juli Zehs Überwachungs-Text „Corpus delicti“ in einer Tiefgarage. Die Zuschauer sitzen dabei im Auto.

Ein Zuschauer sitzt in einem Auto

Einziger Wermutstropfen des Stücks: Der Pkw erlebt einen Boom als Ort des Kunsterlebens Foto: Thomas M. Jauk

GÖTTINGEN taz | „Liebes DT, wir vermissen euch“, hat jemand ans Portal des Deutschen Theaters (DT) in Göttingen geschrieben. Und wurde erhört. In Zeiten von Social Distancing wollen auch die Bühnenkünstler vor allem wieder unter Menschen, vor Zuschauern spielen. Und die Göttinger zeigen als erstes Theater im Norden, dass derzeit mehr möglich ist, als Social-Media-Formate zu bedienen und Aufführungsmitschnitte zu streamen: eine Premiere mit körperlich live anwesenden Schauspielern und Zuschauern.

„Isolationstheater“ nennt Regisseurin Antje Thoms ihr Projekt, was einerseits den aktuellen Abstandsregeln und Reinlichkeitsvorschriften geschuldet ist, andererseits aber auch das Thema der Stunde. Recht frei adaptiert Thoms „Corpus delicti“, Juli Zehs gesellschaftsphilosophisches Diskursstück über das fragile Verhältnis von Freiheitsrechten des Individuums und den für das Zusammenleben im Kollektiv notwendigen Einschränkungen. Ausgangspunkt ist bei Zeh der Wunsch nach einem von Krankheiten befreiten, perfekten Körper, bei Thoms schwingt auch das Aushungern von Covid-19 mit.

Natürlich stromern die Besucher nun nicht einfach ins Parkett und die Darsteller auf die Bühne. Ein Security-Typ mit Schutzanzug versperrt breitbeinig den Zugang zur Theatertiefgarage. Um dort an fünf Spielorten vorfahren, parken, zuschauen zu dürfen, wird alle 15 Minuten ein Wagen eingelassen. Drive-through-Theater sozusagen. Nur mit dem Auto ist es möglich, gleichzeitig öffentlich mit anderen Kunst zu genießen und virologisch geschützt im Privaten zu sein. Ärgerlich, dass so der Privat-Pkw gerade wieder als Sicherheitsgarant einen Boom erlebt.

Am Eingang bekommt jedes Automobil eine Lautsprecherbox zur O-Ton-Übertragung aus den zusätzlich noch per Glas, Plexiglas oder Folie abgeriegelten Spielorten. Aus einem Kirmeskassenhäuschen verkündet eine dauerlächelnde PR-Sprecherin „Die Methode“, so der Stücktitel: also die Regeln in der Garagenwelt, wo ein glückliches ein gesundes Leben zu sein hat, jede Gefährdung auszuschließen ist und daher alle entsprechenden Ernährungs-, Körperreinigungs-, Partnerwahl- und Putzvorgaben streng einzuhalten sind. Dass Kameras, Mithöranlagen, implantierte Datenchips und vielleicht auch Tracing-Apps zum Überwachungseinsatz kommen, liegt nahe.

Mehr Theater geht bundesweit derzeit wohl nicht. Dass Göttingen das möglich gemacht hat: Respekt

Zur Einübung im Widerstandsgeist begegnen die Theaterbefahrer einem vor raubeiniger Vitalität strotzendem Kerl in einer historischen Chrysler-Limousine: Moritz Holl. Bei Zeh ist er Auslöser des Theaterstücks, sein Leben abseits der Gesundheitsdiktatur bringt ihm Anklagen aller Art ein, schließlich begeht er Selbstmord. Was seine Schwester Mia von der gedankenlos Angepassten zur kritischen Melancholikerin mutieren lässt. Plötzlich ignoriert sie ihren Abwasch, reißt Joggingkilometer nicht ab, raucht Zigarette. Schwankend zwischen Einsicht in die Unterordnung und Aussicht auf Freiheit. Davon erzählt Zeh.

Antje Thoms setzt den Bruder ins Zentrum. Er suhlt sich im Außenseitertum, tönt großkotzig, dass er das Hygienegebiet verlassen habe, „hier beginnt die echte Welt“, erzählt vom Sex-&-Drugs-&-Rock-’n’-Roll-Leben und freut sich, nicht nach Produkten eines Drogeriemarktes, sondern „gut“ zu riechen, „nach Mensch“. Wie ein Liedermacher stimmt Holl das Leitmotiv des Abends an, den Song „Which side are you on“. Einst von streikenden Bergarbeitern ihren noch unschlüssigen Kollegen entgegengesungen, jetzt als Frage gemeint, ob man lieber formatiert und virenfrei dahinvegetieren oder mit Krankheit und Tod leben will.

Weiter geht es zu einer Beamtin. Ihr Büro ist eine Seilbahngondel in einem Tannenwald. Direkt spielt sie die Autofahrenden als Herrn Holl an, will ihm „Methode“-feindliche Reden, seine Unzufriedenheit ausreden. Versucht ihn – wie aktuell ja auch die Politik – mit Schuldgefühlen unter Druck zu setzen und droht schließlich mit Sanktionen. Als diabolische Manipulatorin spielt Angelika Fornell diese Systemverteidigerin. Sehr schön auch, wie Helikoptergeräusche und Polizeisirenen als Verweis auf den Überwachungsstaat zugespielt werden, wenn ihr ein Nieser entfährt und nicht ordnungsgemäß in der Armbeuge entsorgt wird.

Der nächste Autostopp gilt einem Anwalt, der sich eine Verteidigung Holls aber nicht zutraut. Das Urteil ergeht: einfrieren auf unbestimmte Zeit. In diesem dystopischen Zeh-Land ist Widerspruch tödlich, derzeit muss aber Denken ja noch nicht bei der Regierung oder beim Robert-Koch-Institut abgeben werden. Die Autorin selbst sprach sozusagen als Fortsetzung ihres Textes in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, der Staat habe mit seiner „Bestrafungstaktik“ das Grundrecht auf Leben über alle anderen gestellt – und fragt, ob diese Beschneidungen verhältnismäßig waren.

Der Parcours endet bei Mia. Müde räsoniert sie das Schicksal ihres Bruders. Und warum eine fürsorglich gemeinte Politik zu einem repressiven Regime führte. Ob sie nun revoltieren soll für Selbstbestimmung oder devot zur sogenannten Volksgesundheit beitragen?

„Die Methode“: bis 5. 6., Göttingen, Deutsches Theater; Termine und Karten gibt es hier.

Die fünf Monologe machen diese aktuellen Debatten auf, es sind Argumente für besonders harte Schutzmaßnahmen wie für besonders umfangreichere Lockerungen zu hören. Die Regie spart sich in der nach Freiheit dürstenden, Beschränkungen kritisierenden, mit dem Widerstandsvirus infizierenden Inszenierung die explizite Abgrenzung vom verschwörungstheoretischen Geschrei, das derzeit von Reichsbürgern, Rechtspopulisten und ihren Nachplapperern zu hören ist. Aber es sitzen ja auch mündige Bürger im Auto. Mehr Theater geht bundesweit derzeit wohl nicht. Dass Göttingen das möglich gemacht hat: Respekt. Und Hochachtung vor der künstlerischen Leistung.

Zu sehen ist „Die Methode“ bis Spielzeitende fast täglich 16 Mal, für jeweils ein Auto, also teilweise in einer 1:1-Betreuung des Fahrers als Zuschauer. Alle Ensemblemitglieder sind trotz Kurzarbeit in den Aufführungsmarathon eingespannt – jede Rolle ist fünfmal besetzt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.