Teilmobilmachung in der Ukraine: Freiwillig in den Krieg
Der Entschluss der Regierung, neue Soldaten einzuziehen, stößt im Land auf Zustimmung. Dabei ist klar: Eine militärische Lösung gibt es nicht.
KIEW taz | „Am vergangenen Wochenende hat der Feind sämtliche Skrupel verloren. Er ließ uns nicht einmal mehr die Verletzten aus dem Donezker Flughafen bergen. Sollen wir da noch schweigen?“, empört sich der ukrainische Militärexperte Gennadij Schulga in der ukrainischen Ausgabe der Komsomolskaja Prawda.
„Wenn du einen ganzen Monat im Feuer ausharrst, nicht zurückschießen darfst, dann staut sich viel Wut an. Nachdem man nun unseren Kämpfern freie Hand gegeben hat, hat sich ihre ganze Aggression entladen und sie sind nach Donezk vorgerückt“, so der Experte. Auch in Gorlowka hätten ukrainische Kämpfer die Gunst des Augenblicks genutzt und dem Gegner ihre Kraft vor Augen geführt, so Schulga.
Er ist nicht der einzige Experte, der sich hinter das militärische Vorgehen der ukrainischen Führung stellt. Auch Wiktor Sokolow vom renommierten Gorschenin-Institut unterstützt die Entscheidung, den Flughafen von Donezk mit Waffen zu verteidigen. „Seit 243 Tagen wird der Flughafen von ukrainischen Einheiten gehalten. Er ist ein Symbol des Mutes unserer Leute. Es wäre kontraproduktiv, ihn aufzugeben.“
Doch gleichzeitig gehe es um mehr als Symbolik, so Sokolow. Solange sich ukrainische Truppen im Donezker Flughafen hielten, ließe sich ein Vorrücken von Aufständischen und russischen Truppen auf Dnepropetrowsk und Charkow verhindern. Auch andere strategisch wichtige Orte müssen gehalten werden. Sollte der Eisenbahnknotenpunkt Debalzewo dem Gegner in die Hände fallen, könnte Russland den gesamten Nachschub per Eisenbahn in die Ostukraine schaffen und wäre nicht mehr auf Lkws angewiesen.
Poroschenko hat keine Wahl
Trotzdem glaubt der Experte nicht, dass Präsident Petro Poroschenko eine militärische Lösung wolle. „Im Donbass steht uns Russland gegenüber. Der Kreml würde jeden militärischen Erfolg unserer Streitkräfte sofort mit einer weiteren Aufstockung seiner Truppen beantworten. Wir können diesen Konflikt nicht militärisch lösen. Deswegen müssen wir eine diplomatische Lösung suchen.“
Doch auf die setzt ein Großteil der Gesellschaft schon längst nicht mehr. Vielmehr glauben viele, dass Poroschenko keine andere Wahl habe, als militärisch auf die russische Aggression zu reagieren. „Er wird nicht zulassen, dass die Separatisten ihre Kontrolle auch auf andere Gebiete ausweiten“, sagt der Politologe Wladimir Fesenko. Die Eskalation habe man Putin zuzuschreiben, der die Vereinbarungen von Minsk nicht umsetzen, sondern neu interpretieren wolle.
Seit Dienstag dieser Woche läuft eine Teilmobilisierung der ukrainischen Streitkräfte. In den kommenden 90 Tagen sollen 50.000 neue Soldaten für die „Anti-Terror-Operation“ im Osten der Ukraine rekrutiert werden. Die Akzeptanz der Mobilisierung ist offensichtlich höher, als von den Behörden erwartet worden war. Gegenüber der Komsomolskaja Prawda beklagt sich der 30-jährige Jurist Andrej, dass man ihn nicht zu den Streitkräften einziehen wolle, obwohl er sich sofort nach Bekanntwerden der Mobilisierung als Freiwilliger bei der Wehrbehörde gemeldet hatte.
Auch der 57-jährige Wladimir aus Kiew ist bereit, in den Krieg zu ziehen. „Ich bin ein friedliebender Mensch“, erklärt er. „Natürlich ist die Einberufung eine beunruhigende Angelegenheit. Aber wer soll sonst gehen, wenn nicht wir?“
Kriegsverweigerer vor Gericht
Wer nicht in den Krieg ziehen will, bemüht sich, diesem ohne großes Aufsehen zu entgehen. Im schlimmsten Fall droht einem Verweigerer eine Haftstrafe von fünf Jahren. „Ich habe erfahren, dass unser Hausmeister für die Zustellung der Einberufungsbefehle zuständig ist“, erklärt Igor. „Ich habe ihm zehn Euro gegeben. Er hat mir zugesichert, er werde der Wehrbehörde mitteilen, dass er mich leider nicht angetroffen habe. Und solange mir niemand nachweisen kann, dass ich einen Einberufungsbefehl erhalten habe, kann man mich auch nicht vor Gericht stellen.“
Einer der wenigen, die sich der Einberufung widersetzen wollen, ist der westukrainische Journalist Ruslan Kozaba. Kozaba, der sich aktiv an den Aktionen auf dem Euro-Maidan und bei der Orangen Revolution 2004 beteiligt hatte, erklärte in einem über das Internet verbreiteten Video, er werde sich nicht an diesem „brudermörderischen“ Krieg beteiligen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut