Teilhabe von Menschen mit Behinderung: Mindestlohn für alle
Die Bundesregierung feiert sich für die baldige Einführung des 12-Euro-Mindestlohns. Der gilt aber nicht für alle.
V or mir steht eine Tasse Kakao. Fancy Kakao aka Fair-Trade-Bio-Trinkschokolade, die ich geschenkt bekommen habe. Selbst gekauft hätte ich sie mir nicht. Wie viele andere Menschen muss auch ich nachrechnen, was bei mir in den Einkaufswagen kommt. Nach den Entlastungs-, besser Almosenpaketen wird die Koalition sich nächste Woche mit der Einführung des 12-Euro-Mindestlohns brüsten. Doch der wird angesichts der Inflation für Millionen Menschen kaum etwas ändern im Portemonnaie. Viele erhalten gar keinen Mindestlohn, weil sie durchs Raster fallen. Schlupflöcher – zum Beispiel Saisonarbeitenden und Pflegekräften den Mindestlohn nicht voll auszahlen zu müssen – wurden nicht gestopft.
Wer auch keinen Mindestlohn erhält und wo es seitens der Politik so gar keine Bewegung gibt, sind die Beschäftigten in Behindertenwerkstätten. Bei einem Stundenlohn von etwa 80 Cent bis 2 Euro werden sie von Unternehmen und Vereinen wie IKEA, Daimler, Volkswagen und dem Goethe-Institut ausgebeutet. Behindertenwerkstätten konkurrieren mit Billiglohnanbietern aus dem Ausland. Über 320.000 Menschen mit Behinderung erwirtschaften jährlich einen Umsatz von 8 Milliarden Euro. Ein lukratives Business, außer für die Beschäftigten in den Werkstätten.
Ich staune nicht schlecht, als sich bei meinen Recherchen herausstellt, dass auch das Unternehmen, das meinen Feel-Good-Kakao verkauft, in Behindertenwerkstätten für sich arbeiten lässt. Teilhabe nennen sie das auf ihrer Website. Social Washing nenne ich das, Schönfärberei. Auf der Verpackung meines Kakaos wirbt GEPA, der „größte europäische Importeur fair gehandelter Lebensmittel“ aus Ländern des globalen Südens, mit einer Schwarzen Frau und der Aufschrift „Vom Kleinbauern aus Afrika“. White Charity.
Abschaffung des „Systems Werkstatt“
Auf die Entlohnungspraktik in Werkstätten angesprochen, teilt GEPA auf Nachfrage des enorm-Magazins mit, man gehe nicht davon aus, dass Menschen ausgebeutet werden. Man kann nur mutmaßen, ob GEPA sich unwissend gibt, weil sie davon profitieren. Stillschweigen, leere Versprechen oder Ausreden, weshalb ein Mindestlohn hier nicht umsetzbar sei seitens der Politik. Kein Wunder, dass Behindertenrechtsaktivist_innen eine Reform und gar Abschaffung des „Systems Werkstatt“ fordern, wie auch die UN.
Mit einer ehemaligen Beschäftigten habe ich mich vor Kurzem unterhalten. Sie hat jahrelang in einer Werkstatt gearbeitet in der Hoffnung, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, wie die Werkstätten und das Gesetz es versprechen. Doch der Arbeitsmarktwechsel passiert bei weniger als einem Prozent. Auch bei ihr hat es als ältere Frau im Rollstuhl bislang nicht geklappt. Deutschland hat kein Interesse an der Umsetzung echter Teilhabe. Das haben die vergangenen Jahre, Monate und Wochen gezeigt. Ein solidarischer heißer Herbst kann diese schwierigen Zeiten versüßen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“