Der Hausbesuch: Er gibt nicht auf

Torsten Kirschke will mehr Inklusion für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Er reist zu Demos, engagiert sich gegen rechts. Und er will in den Bundestag.

Ein Mann steht in einer Wohnung

Stets engagiert: Torsten Kirschke in Berlin Foto: Julia Baier

Was Torsten Kirschke am stärksten spürt: Dass er nicht wie die meisten anderen behandelt wird. Dabei strengt er sich sehr an.

Draußen: Sozialer Wohnungsbau und Szenekneipen prägen das Straßenbild. Der Wedding kommt, heißt es in Berlin immer wieder. An der Ecke, wo Kirschke wohnt, mag das stimmen. Spätis, Dönerläden, Geschäfte und Bars reihen sich aneinander, Hipster fallen nicht auf. Trotzdem: Kirschke will weg. „Mir ist es hier zu dreckig, überall werden Drogen verkauft.“ Es zieht ihn in den Prenzlauer Berg, wo er aufgewachsen ist. „Aber das wird bestimmt nichts, ist ja alles so schickimicki und teuer da.“

Drinnen: Hinter der Wohnungstür ist der Wohn- und Essbereich, vieles hier zeugt von Kirschkes politischem Engagement: Ein Poster vom jüngst verstorbenen Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele mit dem Slogan „Entwaffnet die Finanzmärkte“ hängt an der Wand. Seine Zimmertür ist übersät mit Aufklebern: FCK AfD, Gegen Nazis, Refugees Welcome, Antifa. Auf dem Couchtisch stehen eine Flasche Cola und eine Tiefkühlpizza frisch aus dem Ofen, Thunfisch. Kirschke isst oft Fertiggerichte, weil er immer auf dem Sprung ist. Auch jetzt ist sein Zeitfenster begrenzt; am Abend ist noch eine Kundgebung geplant.

Nebenan: Aus dem Nebenzimmer ertönen laute Stimmen. Dort spricht eine Mitarbeiterin der Lebenshilfe mit Klient:innen; es ist ihr Büro. Er klopft an die Tür, fragt, ob das etwas leiser ginge, bitte? Weil er kognitiv beeinträchtigt ist, lebt er in einer betreuten Wohngemeinschaft. Das Büro in der Wohnung ist jeden Tag von 12 bis 18 Uhr von einer Be­treue­r:in besetzt. Unterstützung braucht er selten, aber dass jemand da ist, auch einfach zum Quatschen, findet er gut.

Familie: Torsten Kirschke ist 1982 geboren, in der DDR. Er wächst als Jüngster mit vier Brüdern und einer Schwester auf. „Ich war das Nesthäkchen, dem alles in den Hintern gesteckt wurde, das würden zumindest meine Brüder sagen.“ Seine Eltern lernten sich bei der Post kennen. Um sich um die Kinder zu kümmern, bleibt die Mutter zu Hause. Der Vater arbeitet bis zur Rente bei der Post. „Er war keinen Tag krank.“

Sein Weg: Als Torsten fünf Jahre alt ist, kommen er und seine Geschwister für eine Zeit ins Kinderheim Makarenko in Schöneweide, die Eltern seien überfordert, meint das Jugendamt. „Da hat man mir den Mund zugeklebt“, erzählt er. Über diese Zeit redet er nicht gerne. Mehrfach lief er weg.

Zum Glück durften die Kinder bald wieder zurück zu den Eltern. Torsten besucht eine Schule für geistig- und lernbehinderte Kinder, zieht in eine betreute WG in Lankwitz, später lebt er alleine in einer Wohnung in Friedrichshain. Seit sechs Jahren wohnt er jetzt im Wedding. Früher fühlte er sich manchmal allein und wünschte sich mehr Ansprache; jetzt sehnt er sich wieder nach Ruhe und nach den eigenen vier Wänden.

Auf eigenen Beinen: Torsten Kirschke ist sich sicher, dass er es alleine schaffen würde in einer eigenen Wohnung. Er ist viel unterwegs, mit dem Zug reist er durch Deutschland zu Veranstaltungen, Hilfe holt er sich vielleicht mal für Behördengänge. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagt er, und: „Probieren geht über Studieren.“ Er liebt Sprichwörter und Redensarten. „Ich versuche eben alles so lange, bis es funktioniert. Und falls nicht, habe ich ja eine große Familie.“ Einfach wird die Wohnungssuche nicht, glaubt er. „Es muss zentral sein, ich will nicht ewig zur Bahn laufen.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Politisches Erwachen: Kirschke engagiert sich politisch. Nicht nur, aber auch, weil er sich benachteiligt fühlt. In seinen Zwanzigern besuchte er Veranstaltungen verschiedener politischer Parteien. Als er bei den Grünen Joschka Fischer kennenlernte, machte es klick. Der Mann beeindruckte ihn, die Ideale der Partei überzeugen ihn. Er wird Mitglied der Öko-Partei. Wenn es um Politik geht, redet er sich richtig in Rage. Seine Standpunkte macht er problemlos klar, wiederholt sich dabei öfters, weil ihm die Themen wichtig sind, vor allem Sozialpolitik und Inklusion.

Enttäuschung: Seine Partei rühme sich stets, Inklusionspartei zu sein, sagt Kirschke, doch es passiere nichts. Er wünscht sich, dass Menschen wie er endlich mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Er würde gerne arbeiten, kassiert aber eine Absage nach der anderen, erzählt er, selbst für Hilfsarbeiten im Lager wird er abgelehnt.

Immerhin, ein Praktikum bei der Grünen-Bundestagsabgeordneten Canan Bayram konnte er machen und war begeistert. Mehr ergab sich aber nicht daraus. „Die Strukturen fehlen einfach überall. Und die Unternehmen wollen sie auch gar nicht schaffen, weil ihnen das zu teuer ist. Lieber kaufen sie sich frei.“ Das zu ändern, wäre Sache der Politik. „Aber da fehlt das Interesse, weil wir keine Lobby ­haben.“

Klare Kante: Werkstätten, wo Menschen mit Behinderung arbeiten, lehnt er nicht per se ab, fordert aber eine Lohnreform. Das Entgeltsystem müsse komplett überdacht werden. „Wir sind doch keine Dumping-Arbeitskräfte, die die Wirtschaft ausbeuten kann, so wie es ihr gefällt.“ Das wäre alles anders, wenn es Menschen wie ihn im Bundestag geben würde oder sie wenigstens Gehör fänden, ist Kirschke überzeugt. Tatsächlich sind Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag mit 3,2 Prozent deutlich unterrepräsentiert – gegenüber den 9,5 Prozent in der Gesamtgesellschaft. „Inklusion heißt für mich auch im Bundestag“, sagt Kirschke.

Sticker mit politischen Botschaften

Sticker und Poster zeugen von Kirschkes politischen Engagement Foto: Julia Baier

Ein Listenplatz: Bei der vergangenen Bundestagswahl versucht er es; von seiner Partei lässt er sich in Berlin für einen Listenplatz aufstellen. Es ist das erste Mal, dass jemand mit Lernschwierigkeiten auf einer Liste auftaucht. Sein Listenplatz ist die 16, nur die Berliner Be­wer­be­r:in­nen bis Platz 4 ziehen in den Bundestag ein.

„Da war ich schon sehr enttäuscht, irgendwie hatte ich ein bisschen Hoffnung, dass es klappt.“ Worüber er sich besonders ärgert: Es habe kein Wahlprogramm in leichter Sprache gegeben, zumindest nicht auf Papier, nur im Netz, aber nicht jeder könne mit dem PC umgehen. „Das hat wieder gezeigt, dass sich die Leute in der Partei um uns keine Gedanken machen.“

Kandidatur: Beim Bundesparteitag der Grünen werden Annalena Baerbock und Robert Habeck als Vorsitzende verabschiedet, eine neue Parteispitze wird gewählt. Spontan entscheidet sich Torsten Kirschke zu kandidieren, er wird digital zugeschaltet. „Ich möchte kandidieren, um zu zeigen, dass Menschen mit Behinderung genauso in den Bundesvorstand können wie normale Menschen“, beginnt er seine Vorstellungsrede, die er ad hoc immer noch aufsagen kann.

Er bemängelt, was seines Erachtens im Bundestagswahlkampf schiefgelaufen ist. „Es ist wichtig zu zeigen, dass wir kein Klotz am Bein sind und dass wir politisch mithalten können und wollen.“ Mit seiner Kandidatur wolle er gegen Diskriminierung und Benachteiligung eintreten, sagt er, und für mehr Inklusion. „Wir sind Menschen erster Klasse.“ Souverän beantwortet er die Fragen der Delegierten. Gewählt wird er nicht. „Damit habe ich natürlich auch nicht gerechnet. Aber es war eine tolle Chance, meine Themen mal vor einem so großen Publikum vorbringen zu können.“

Ein Treppenhaus

Als er allein lebte, fühlte er sich manchmal einsam. Heute hätte er gerne öfter seine Ruhe Foto: Julia Baier

Diskriminierung: Schon seit Jahren reist Torsten Kirschke von einer Demo zur nächsten, engagiert sich gegen Rechtsextremismus. Inzwischen hat er einen Presseausweis und betreibt engmaschig Demobeobachtung, er filmt, vor allem, wenn es zu Verstößen der Polizei kommt. Unter dem Namen Demokratie Frei Haus twittert er, hat fast 1.000 Follower:innen. Gerade erst kommt er von einer Gerichtsverhandlung, bei der es um eine Beleidigung auf einer Kundgebung ging.

Er selbst werde häufig Opfer von Diskriminierung, sagt er, von Nazis, aber auch von der Berliner Polizei. „Da werde ich teilweise umkreist und die machen eine La-Ola-Welle um mich rum, mein voller Name wird bei Querdenker-Demos gerufen. Das ist gefährlich.“ Sein Name tauche auch immer wieder in Telegram-Kanälen auf, sagt er. Wenn er das Gefühl hat, ungerecht behandelt zu werden, fackelt er nicht lange. „Ich bringe dann sofort ein Strafverfahren auf den Weg.“

Hummeln im Hintern: Torsten Kirschke packt den Rest der Pizza in eine Tupperdose und entschuldigt sich, er muss wieder los. Um 17 Uhr ist eine Kundgebung gegen Rechtsextremismus, vorher trifft er sich noch mit einigen Aktivist:innen. „Ich bin ein Hans Dampf in allen Gassen. Meine Mutter hat schon immer gesagt, ich hätte Hummeln im Hintern. Zu Hause rumsitzen kann ich nicht, das ist mir zu blöd.“ Von seiner Partei ist er gerade wieder enttäuscht. Er war beim Bundesparteitag in Bonn, auf Inklusionspolitik sei dort nicht eingegangen worden. Er hofft trotzdem, dass sich bald etwas bewegt. „Ich werde nicht aufgeben; es können doch nicht nur Pro­fes­so­r:in­nen im Bundestag sitzen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.