TTIP-Eklat im EU-Parlament: Huch, was is’n da los?
Wochenlang hatten sich Abgeordnete des EU-Parlaments auf die TTIP-Debatte vorbereitet. Dann sagte Martin Schulz sie plötzlich ab.
Ursprünglich wollten die EU-Abgeordneten ihre Positionen zu den Schiedsgerichten ebenso wie Umwelt- und Gesundheitsschutz, Sozialstandards und vielen anderen kniffligen Themen in einer Resolution festlegen. Damit hätten sie Einfluss auf die bereits seit zwei Jahren laufenden Verhandlungen zwischen der EU und den USA genommen. Zwar wäre das Votum nicht bindend – da das Parlament am Ende den fertigen TTIP-Text annehmen muss, hätte es aber eine wichtige Signalwirkung.
Doch der Widerstand ist groß: Die Bürgerinitiative „Stop TTIP“ meldete Anfang dieser Woche 2 Millionen Unterschriften gegen das Abkommen, einen neuen Rekord.
Gleichzeitig starteten die Wirtschaftsverbände eine massive Kampagne Pro TTIP. Der Investorenschutz dürfe nicht angetastet werden, forderten die Lobbyisten. Genau das war aber das Ziel zahlreicher Änderungsanträge im Parlament. Am Ende zog Schulz die Notbremse – sehr zum Ärger vieler TTIP-Kritiker. „Selbstherrlich“ habe Schulz gehandelt, kritisiert Grünen-Vordenker Reinhard Bütikofer. Von einem „demokratischen Skandal“ spricht sein Fraktionskollege Sven Giegold. Wie kam es dazu? Schulz begründete seine Entscheidung mit der großen Zahl von Änderungsanträgen – angeblich waren es über 200. In solchen Fällen sei es üblich, das Thema zurück in die Fachausschüsse zu überweisen.
Tumultartige Szenen
Die Geschäftsordnung des Parlaments sieht dies vor. Doch dass auch eine Plenardebatte abgesagt wird, ist absolut unüblich. Nur mit der äußerst knappen Mehrheit von 183 zu 181 Stimmen konnten konservative und liberale Abgeordnete ihren Antrag auf Vertagung durchsetzen. Die Debatte solle nicht von der Abstimmung getrennt geführt werden, hieß das Argument in den Reihen von CDU/CSU.
Schulz ließ dieses ungewöhnliche Manöver in letzter Minute zu. Viele Abgeordnete, die sich seit Wochen auf die große TTIP-Debatte vorbereitet hatten, reagierten empört. Es kam zu tumultartigen Szenen, bei denen sich die Parlamentarier mit Vorwürfen bombardierten.
Zeitrahmen: Beim G-7-Gipfel in Elmau haben die Staats- und Regierungschefs vereinbart, die TTIP-Verhandlungen zu beschleunigen. Noch im Jahr 2015 sollen die "Umrisse eines Abkommens" stehen. Obama will TTIP vor dem Ende seiner Amtszeit im Januar 2017 unter Dach und Fach haben.
Nächste Schritte: Die Verhandlungen haben im Juni 2013 begonnen, zuletzt trafen sich die Unterhändler von EU und USA im Mai. Dass die Abstimmung über die gemeinsame Stellungnahme des EU-Parlaments verschoben wurde, habe keine Auswirkungen auf die Verhandlungen zwischen EU und USA, heißt es von Seiten der EU-Kommission. Die Gespräche würden wie geplant fortgesetzt.
Wann: Die nächste Runde ist noch "vor dem Sommer" geplant. (vb)
„Mir macht es Angst, wenn ich sehe, wie die Links- und die Rechtsradikalen hier im Haus sich gegenseitig in Rage reden und die Grünen an der Seite dieser Leute stehen“, sagte der Chef der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU). Zusammen mit Schulz gibt Weber den Ton in Straßburg an. Darauf entgegnete die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rebecca Harms: „Wenn jetzt jeder, der kritisch ist gegen TTIP und private Schiedsgerichte, an den Pranger gestellt wird als links und rechtsradikal, dann frage ich mich, was wir für eine Basis der Zusammenarbeit haben.“
Das Tischtuch ist zerrissen, die Fronten sind offen aufgebrochen. Ziel der wochenlangen Debatten war es, eine gemeinsame Haltung zu den TTIP-Verhandlungen zu finden, die bereits seit zwei Jahren ohne parlamentarische Kontrolle laufen.
Sozialdemokratisches Lavieren
Die Haltung des Parlaments wäre zwar nicht bindend, die EU-Kommission könnte sich darüber hinwegsetzen. Aber das Votum der EU-Abgeordneten hätte großes Gewicht gehabt, da sie am Ende das fertige TTIP-Abkommen annehmen müssen – oder auch ablehnen können. Vor allem die Wirtschaft hofft auf ein klares „Ja“. Aber auch Kanzlerin Angela Merkel machte Druck, zuletzt beim G-7-Treffen in Elmau.
Zu spüren bekamen dies vor allem die Genossen von Präsident Schulz. Die europäischen Sozialdemokraten hatten nämlich in letzter Minute versucht, das Parlament auf eine Ablehnung von privaten Schiedsgerichten festzulegen. Diese geben ausländischen Investoren das Recht, gegen Gesetze zu klagen und Entschädigung zu fordern.
Vor zwei Wochen hatten die Sozis noch einer weichen Formulierung zugestimmt, die ISDS irgendwann durch einen neuen Handelsgerichtshof ersetzen, aber nicht völlig ausschließen sollte. Das wollte der Vorsitzendes des Handelsausschusses, Bernd Lange (SPD), nun nachbessern. Er reichte einen Änderungsantrag ein, der festlegt, dass zur Beilegung von Investorklagen „nicht auf private Schiedsgerichte zurückgegriffen wird“. Es müsse klargestellt werden, „dass private Schiedsgerichte tot sind“. Doch da spielten Konservative und Liberale nicht mit.
Wie es weitergeht, ist unklar. Die letzte Entscheidung liegt bei Schulz – er muss nun zeigen, wie viel ihm an der demokratischen Meinungsbildung wirklich liegt.
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