Sufi-Popstar in Ägypten: Allah Superstar
Mitten in der ägyptischen Wüste spielen Sufi Mostafa und seine Band „Die Söhne Al-Ranans“. Tausende Pilger geraten in Ekstase.
A llah“ haucht eine tiefe Stimme ins Mikrofon. „Allahh“ scheppert es aus den Boxen im Saal. Der Teppichboden vibriert. Ein paar Männer winden sich aus ihren Schneidersitzen und treten dichter an die beiden Verstärker heran, die am Ende des Raums auf einer Bank thronen. Ein kleiner Holzkoffer liegt daneben. Seine Aufschrift „Söhne des Abdelnabi Al-Ranan“ ist abgewetzt. „Allahhh“, dröhnt es ein drittes Mal aus den Lautsprechern auf dem Dach. Soundcheck hinein ins Dunkel einer Freitagnacht im August.
Mostafa betritt als Letzter die Bühne. Die Flipflops hat er ehrfürchtig unter den Arm geklemmt, weil die Männer auf dem Teppich sonst beten. Seine drei Brüder Khamis, Alaa und Ramadan warten bereits auf ihn, nippen abwechselnd Anistee aus Gläschen mit zuckrigen Rändern. Der alte Saboury klopft mit den Fingerspitzen auf seine Handtrommel. Im Takt wippt die Zigarette in seinem Mundwinkel. Auch Mostafa greift zur Trommel und räuspert sich heiser. Nun ist die Band bereit für ihren wichtigsten Auftritt des Jahres, inmitten der ägyptischen Wüste.
Drei Tage ist es her, dass die Geschwister in zwei Minibussen gestiegen und Hunderte Kilometer über karge Wüstenstraßen gepoltert sind. Vorbei an bunten Lastwagen, auf deren Ladeflächen sich Sufis aus ganz Nordafrika für die kommenden Tage in Stimmung klatschen. Sie sind die Anhänger der als mystisch beschriebenen Lehre des Islam und wollen Gott näherkommen, indem sie meditieren, singen, tanzen. Und das zu Liedern von Bands wie den Söhnen Al-Ranans.
Über das Jahr verteilt ziehen die Musiker mitsamt den Sufi-Anhängern von einem Ort zum nächsten, bauen rings um die Schreine von verehrten Sufi-Gelehrten und Mitgliedern der Prophetenfamilie Mohammeds kleine Zeltstädte auf. Moulids werden diese Sufi-Feste genannt, eine Mischung aus spiritueller Pilgerfahrt und Festivalgetümmel. Es gibt sie in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern. Aber in Ägypten hat sich daraus eine Art anarchische Parallelwelt entwickelt – verachtet von vielen Muslimen für die als unislamisch empfundenen Praktiken, argwöhnisch betrachtet vom ägyptischen Staat, der aus Angst vor der politischen Opposition öffentliche Räume streng bewacht.
Dieses Mal hat der Moulid Mostafa und seine Brüder nach Humaithara geführt, einem Bergdorf mit versprengten Ziegelhäusern und einer sandfarbenen Moschee, deren vier Minarette in die Landschaft ragen. Am Tag nach seiner Ankunft ruht sich Mostafa im Innenhof des Gasthauses aus, das ihn und seine Brüder für die kommenden Tage beherbergt. Einige wohlhabende Sufis haben die Gasthäuser rings um die Moschee gebaut, andere errichten große Zelte für die Reisenden. Rund um die Uhr bieten sie den Angereisten Schwarztee an, zweimal am Tag gibt es etwas zu essen. Abgewiesen wird niemand, so will es die sufistische Lehre. Begutachtet wird jeder. Denn auch wenn der Sufismus von vielen Außenstehenden als eine Art freiheitsliebender Islam angesehen wird, sind die Strukturen hierarchisch geregelt.
Mostafa war 17 Jahre alt, als er das erste Mal auf einem Moulid aufgetreten ist. Die neun Stunden Zugfahrt nach Kairo musste er damals allein antreten. Seine Brüder waren auf dem Rückweg von einem Auftritt in Indien und kamen direkt vom Flughafen zur Kairoer Hussein-Moschee. Dort wartete Mostafa im Meer aus bunten Lichterketten auf sie. Als er im traditionellen Gewand, der Dschallabija, gekleidet das erste Mal die Bühne betrat, wunderten sich viele Sufi-Anhänger über sein Alter. Noch heute erinnert er sich, wie stark sein Herz damals schlug. Die Aufregung ist bis heute geblieben. Denn auch wenn die Söhne Al-Ranans fast jeden Tag kleine private Auftritte spielen: „Berühmt wird man auf den Moulid“, sagt Mostafa. So wie sein Vater vor ihm.
„Er war kein gebildeter Mann“, sagt Mostafa: „Aber mein Vater hatte eine Gabe. Und Talent.“ In den 1980er Jahren scharte der Bauer Abdelnabi Al-Ranan aus dem südägyptischen Esna mit seiner eindringlichen Stimme viele Anhänger um sich. Er sang klassische Sufi-Gedichte, schrieb aber auch eigene Lieder über das Leben und die Liebe. Bald nachdem er anfing, auf Moulids im ganzen Land aufzutreten, wurde Al-Ranan über seinen Heimatort hinaus bekannt. Wann immer er nicht spielte, sangen er und seine zwei Ehefrauen den Kindern die Lieder vor. Mostafa und seine Geschwister merkten sich die Texte. Er rezitiert sein Lieblingslied:
Warum weinst du Taube?
Du erinnerst mich an meine Geliebten.
Mein Herz ist schwer, seit sie fort sind.
Der Sufismus Als Sufis werden MuslimInnen verschiedener Strömungen bezeichnet, die eine spirituelle, oft als Mystik bezeichnete Form des Islam leben. Im Zentrum der Glaubenspraxis steht das Dhikr, ein Ritual, das Meditation und Trance verbindet, um Gott nahezukommen. Bekanntestes Beispiel sind die Drehenden Derwische in der Türkei. Streng sunnitische Gläubige sehen in diesen Praktiken sowie in der Heiligenverehrung der Sufis eine Abkehr vom wahren Glauben.
Die ägyptischen Orden Rund 15 Prozent der ÄgypterInnen gehören einem Sufi-Orden an oder verfolgen Sufi-Praktiken. Mehr als 77 registrierte Sufi-Orden sind im Obersten Rat der Sufi-Orden vertreten, einer Schnittstelle zwischen Staat und Gläubigen. 2017 verübten militante Islamisten einen Anschlag auf eine Sufi-Moschee auf der Sinai-Halbinsel.
Der Trend Das ägyptische Regime unter Abdel Fattah al-Sisi versucht die traditionellen und meist unpolitischen Sufi-Orden als Gegenentwurf zu Extremismus sowie zum politischen Islam der Muslimbruderschaft zu stärken. In den vergangenen Jahren hat der Sufismus in Ägypten ein Revival auch unter gut gebildeten jungen ÄgypterInnen erlebt. (taz)
Sie haben mich eingeschlossen und den
Schlüssel mitgenommen.
Gesagt, es gibt keinen Wärter.
Keine Luke, kein Fenster.
Eine Kassette hat der alte Al-Ranan nie aufgenommen. Trotzdem finden sich Fanmitschnitte bei YouTube. Sein Lied über die Taube hat dort mehr als 200.000 Klicks. Das klingt zunächst nach nicht viel. Ist es aber, wenn man bedenkt, dass die Sufi-Musik davon lebt, live gespielt zu werden. Mostafa, der jüngste Sohn, war zwölf Jahre alt, als der Vater starb. Bestürzt von seinem Tod, ermutigten Al-Ranans Fans seine Söhne, das musikalische Erbe des Vaters anzutreten. „Das ist eine große Verantwortung“, sagt Mostafa.
Aber seitdem spielen sie: Khamis und Ramadan die Handtrommeln mit den Schellen, Alaa die Flöte und Mostafa die Trommel, so groß wie eine Kuchenform. Dann gibt es noch Mahmoud, der gerade seine Hochzeit vorbereitet. Und den 83-jährigen Saboury, „der Geduldige“, mit der schiefen Brille. Bei jedem Konzert hämmert er stoisch auf seiner Tabla, hütet den abgewetzten Mikrofonkoffer wie einen Schatz und plant auch sonst alle Termine der Band. Er ist zwar kein Verwandter, aber ein alter Weggefährte Al-Ranans. Und gehört somit zur Familie.
Vom Gasthaus sind es nur wenige Schritte bis zum Vorplatz der Moschee mit ihren sandfarbenen Torbögen. Auf dem gefliesten Boden drängen sich die Menschen so dicht aneinander, dass man die Hitze der anderen Körper durch die eigene Kleidung spürt. Sie warten darauf, endlich ins Innere zu können, wo in einem Schrein die Gebeine Abul Hassan Shazilis begraben sein sollen. Shazili war ein marokkanischer „Sheikh“, ein hoher Gelehrter. Ihm zu Ehren wird der Moulid in Humaithara gefeiert. 1258 brach er zur großen Pilgerfahrt nach Mekka, dem Hadsch auf, die jeder Muslim wenigsten einmal im Leben antreten soll, wenn er dazu die finanziellen Möglichkeiten hat.
Al-Shazili wurde auf der Reise krank und starb in Humaithara. Deswegen fällt der Moulid im Bergdorf fast gleichzeitig mit dem Hadsch nach Mekka zusammen und wird als „Hadsch der Armen“ bezeichnet. Denn besonders unter der ärmeren Bevölkerung ist der Sufismus beliebt und in Ägypten, wo jeder Dritte von zwei Dollar am Tag lebt, bleibt die Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien für viele gläubige Muslime ein unerreichbares Ziel. Und die Moulids mit ihren Verkaufsbuden, Essensständen und nächtlichen Konzerten sind eine willkommene Abwechslung zum tristen Alltag der Menschen.
Unter der mit Blumenornamenten verzierten Kuppel im Inneren der Moschee beginnen in Schwarz gehüllte Frauen zu tanzen. „Shaz-li, A-bul Has-san“ ruft eine Gruppe Männer immer wieder den Namen des Sufi-Gelehrten und läuft gegen den Uhrzeigersinn um den Schrein. Wie beim Umrunden der Kaaba in Mekka. Der schwarze Sarg mit den Koranversen und seine Einfassung aus Gold sind von einem Glaskasten umgeben. Die Scheiben sind so dick wie Aschenbecher und trüb vom fettigen Film, den die Gläubigen darauf hinterlassen, wenn sie mit ihren Fingern darüberstreichen und ihre Stirn zum Murmeln der Gebete daran pressen.
Offiziell gehören 15 Prozent der ägyptischen Bevölkerung einem der über 70 anerkannten Sufi-Orden an. Im Obersten Rat der Sufi-Orden werden alle seit 1903 zusammengefasst. Wenige Jahre zuvor hatte die britische Kolonialmacht versucht, Sufi-Praktiken wie das Essen von Glas oder Kohle zu verbieten. Sie betrachteten die Rituale als Verweigerung der Moderne.
Glas schluckt in Humaithara niemand. Mostafa ist das Gewusel trotzdem oft zu viel. Erst tief in der Nacht, wenn das letzte Lied gesungen und das tägliche Konzert der Söhne Al-Ranans in der Gebetsnische des Gasthauses vorbei ist, mag er es, über den Moulid zu streunen. Dann lugen hinter den Verkaufsbuden die Beine der schlafenden Händler hervor, die am Tag pinke Stoffpuppen, Plastikgewehre oder religiöse Kleidung anbieten. Auf dem Platz vor der Moschee schlafen Eltern mit ihren Kindern zusammengekuschelt auf dem Asphalt. Nur die Schafe und Ziegenböcke sind dann noch wach. Blöken den sternenverhangenen Himmel an, vielleicht ahnend, dass es ihre letzte Nacht sein könnte. Denn der Moulid in Humaithara findet gleichzeitig zum Hadsch nach Mekka und zum islamischen Opferfest statt. Dem heiligsten Feiertag im Islam, an dem die Tiere geschlachtet werden.
Mostafa lässt sich in einem Straßencafé auf einen Plastikstuhl fallen. Zusammen mit einem Schwager aus Esna und einem Freund beugen sie sich über sein Smartphone. Kleine Verschnaufpausen vom Leben als Sufi-Popstar. Dann ist er nicht Mostafa Al-Ranan, Sohn des großen Sängers. Sondern Mostafa Ortega, wie ihn seine Freunde und er sich selbst auf Facebook nennen. Nach dem argentinischen Fußballspieler. Auf Facebook gibt es auch Fotos, die Mostafa in T-Shirt und Jeans zeigen. Erst bei ihrem Anblick fällt auf, dass sein fein rasierter Haarschnitt nicht ganz zu der traditionellen Dschallabija passt, die er bei Auftritten trägt. Noch zwei Nächte bis zum wichtigsten Auftritt: Al-Laila Al-Kabira, die „große Nacht“, der Höhepunkt am Ende eines Moulids.
Am nächsten Nachmittag schleicht sich Mostafa aus dem Gasthaus. Er ist gerade erst aufgestanden, seine Augen sind verquollen. Er blinzelt entgegen der Sonne zum Berg Humaithara hinauf, wo Hunderte Menschen beten und Selfies machen. Neben der Umrundung des Schreins ist die Besteigung des Berges der wichtigste Teil der Pilgerfahrt. Mostafas Lederflipflops bleiben beim Anstieg im sandigen Boden stecken. Er nimmt das gewickelte Tuch von seinem Kopf, hält es mit der Hand über Mund und Nase. Wegen des Staubs. Und der Blicke. Viele Menschen erkennen ihn, sprechen ihn ehrenvoll als „Sheikh“ an und wollen Fotos mit ihm machen. Mostafa lehnt oft ab.
Auf halber Strecke zum Gipfel bleibt Mostafa stehen. Er legt den Finger ans Ohr und zeigt auf die Richtung der Zelte im Tal, von woher die Stimme seines Vaters aus einer Box schallt. Das Erbe des Toten, es begegnet Mostafa an jeder Ecke des Mouldis. Auch auf der anderen Talseite. Dort steht das Zelt eines der anderen Sufi-Sänger. Dessen Art zu singen, die Melodie der Flöte … alles erinnert an Mostafas Vater. Nur der Tanz, den seine Anhänger aufführen, wirkt gegen die anmutige Choreografie zur Musik der Söhne Al-Ranans wie eine Sportgruppe aus der Amateurliga. Dass jemand versucht, den Al-Ranan-Stil zu kopieren, erfüllt Mostafa mit Stolz. Sagt er. Wenn er am Zelt des Sängers vorbeigeht, dann schaut Mostafa ihn so lange an, bis er Mostafa vor den Augen des Publikums grüßt. Was eine „Diva“ ist, das weiß er nicht. Mostafa spricht kein Englisch, hat arabische Literatur an der Universität studiert. Aber die Bedeutung des Wortes gefällt ihm. „Vielleicht ändere ich meinen Facebook-Namen.“ Er dreht den Kopf verlegen zur Seite und lacht. Diva Mostafa Ortega, Sohn Al-Ranans.
Oben auf dem Gipfel presst der Wind den Stoff von Mostafas Dschallabija eng um seine Beine. Tief hängt die Sonne über den braunen Bergkappen. Im rot-violetten Licht leuchten die Steinhäufchen, die die Gläubigen auf dem Berg Humaithara aufschichten. Sie sollen Glück bringen und Sufis den Weg weisen, im nächsten Jahr wieder hierher zu kommen. Das Ritual stammt aus der Pharaonenzeit, lange bevor sich der Islam in Ägypten ausbreitete.
Mostafa glaubt nicht an die Kraft der Steine. Auch wenn er sich als Sufi versteht. Das Touren mit der Band – für ihn ist es vor allem ein Job. Im Osten, 1.000 Kilometer Luftlinie über das Rote Meer, erklimmen zur selben Zeit auch die Pilger in Mekka einen Berg – Arafat. Mostafa würde gerne nach Saudi-Arabien reisen. Vielleicht sogar dort arbeiten. Dann allerdings nicht als Sufi-Sänger, denn für das wahhabitische Königreich ist Sufismus unislamisch. Aber könnte er das überhaupt, das Erbe seines Vaters hinter sich lassen?
Sie haben mich eingeschlossen und
den Schlüssel mitgenommen.
Zurück im Tal, macht Mostafa vor dem Zelt einer Reisegruppe aus seinem Heimatort Esna halt. Oum Mahmoud begrüßt ihn und bittet, auf einer Wolldecke Platz zu nehmen. Süßlicher Zwiebelgeruch liegt wie ein Schleier auf ihrer Haut und ihrem lila Kleid. Tee wird serviert: Anis, nicht Schwarztee. Mostafa und Oum Mahmoud erzählen, wie einmal eine ägyptische Reporterin nach Esna kam und verwundert eine Frau auf der Straße ansprach, die einen riesigen Haufen der Gewürzpflanze bearbeitete. „Wofür brauchst du so viel Anis?“, fragte die Reporterin. „Heute Abend spielt die Al-Ranan-Band“, entgegnete die Frau. Anis ist gut für die Stimme. Die Brüder trinken den Tee vor jedem Auftritt.
Warum ihre Kinder sie immer gebeten haben, früh am Abend zu essen und ihre Kleider zu bügeln, wenn die Söhne Al-Ranans spielen, hat Oum Mahmoud nie verstanden. Bis gestern Abend. Obwohl sie schon das sechste Mal in Humaithara ist, hat sie Mostafa gestern das erste Mal singen gehört. „Eine Träne lief ihm aus dem Auge. Da musste auch ich weinen.“ Ihre Kinder umringen die Frau, zeigen Mostafa die Handyaufnahme, die ihre Eltern vom Konzert gemacht haben. Mostafa bedankt sich. Die blaue Tasse Anistee nimmt er mit. Der letzte Auftritt vor der Al-Laila Al-Kabira, der großen Nacht.
Am Freitagmorgen dröhnt die Stimme des Muezzin aus den Lautsprechern der Moschee. Es ist Gebetszeit. Voller Inbrunst hält der Imam eine Rede, preist die Aufopferung des ägyptischen Militärs für die Gesellschaft. 2016 hat das Regime des Präsidenten Abdel Fatah al-Sisi ein eigenes Komitee ins Leben gerufen, das die Freitagspredigten schreibt. Sie werden an alle Moscheen in Ägypten gemailt und gefaxt. Selbst nach Humaithara, inmitten der Wüste.
Die Regierung steht den Sufis zwiespältig gegenüber: Die einflussreichen Orden bergen Gefahr, Zellen der Opposition zu sein. Sie sind aber auch ein Gegengewicht zu den Islamisten, die das Militär im Nordsinai bekämpft. Dort töteten IS-Anhänger 2017 in einer Sufi-Moschee 305 Menschen. Die schlimmste Terrorattacke der ägyptischen Geschichte. Auch Mostafa muss ab Oktober zum Militär. Am Grundwehrdienst kommt selbst ein Sufi-Popstar nicht vorbei.
Nach der Predigt hat sich der Moulid verändert: Auf den staubigen Straßen verstauen viele Menschen ihre Zelte auf Lastwagen und Pick-up-Trucks. Den weißen Lack haben die Menschen mit mattroten Handabdrücken versehen. Es ist das Blut der geschlachteten Schafe und Ziegen. Die Abdrücke sollen vor bösen Blicken schützen. Viele Reisende wollen das anbrechende Opferfest lieber zu Hause feiern als inmitten der Wüste. Andere sind erst heute angekommen: Frauen von der sudanesischen Grenze, nicht in Schwarz, sondern in knallbunten Gewändern gekleidet, besuchen den Markt.
Viele ihrer Fans sind schon abgereist, als die Söhne Al-Ranans ihr Konzert an diesem Abend beginnen. Nur langsam füllt sich der Teppichboden mit tanzenden Männern, von denen nur wenige die Al-Ranan-Choreografie beherrschen. In zwei sich gegenüberstehenden Reihen halten sie die Arme vor dem Brustkorb, die Daumen nach oben, wiegen sich gleichmäßig zu den nachhallenden Stimmen Ramadans und Mostafas. Ein kleiner Junge springt im Kreis und klatscht mit durchgestreckten Armen. Mostafa muss lachen. Alaa trifft den falschen Ton auf der Flöte und auch der strenge Khamis muss seinen Blick abwenden, um sich nicht zu verspielen.
Erst als eine Gruppe von Männern mit orangen und roten Kappen auf den Köpfen den Raum betritt, wirken die Brüder konzentriert. Sie gehören dem Burhaniya-Orden an, den der Gelehrte Abul Hassan Shazili mitbegründet hat und zu dessen Ehren der Moulid in Humaithara stattfindet. Der Boden beginnt nun zu beben. Immer schneller wird der Takt, den der alte Saboury auf seiner Tabla vorgibt. Hinter dem Verstärker drückt die Hitze durch die Gitterstäbe in den Raum, in dem Frauen und Kleinkinder der Aufführung folgen. Ein kleines Mädchen ist auf die Anhöhe geklettert und steckt ihren Kopf durch das grüne Gitter. Sie macht einer Händlerin Platz, die mit zwei schweren Tüten bepackt neben sie tritt. Die Frau wirft die Taschen vor sich und beginnt zu tanzen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.
Als sich der Burhaniya-Orden mit Umarmungen bei den Söhnen Al-Ranans verabschiedet, ist der Saal auf einmal ganz leer. Mostafa greift zum Mikrofon. Er herrscht den plappernden Saboury an, ruhig zu sein. Dann schließt er die Augen, legt die Hände um den Hals. Als wolle er alles um sich vergessen. „Morgen wird der Tag ohne Licht und Schatten kommen …“ Nur seine Stimme hallt durch den Raum, durchdringt den Dunst, den die schwitzenden Männer hinterlassen haben. Auch Mostafa rinnt Schweiß von der Stirn. „Der Unterdrücker hat die Waisen und Frauen schutzlos zurückgelassen. Morgen wird ihnen Gott Recht schaffen.“ Mostafa öffnet die Augen, greift nach seinen sandigen Flipflops und eilt über den Teppich nach draußen. Wortlos. Er braucht eine Pause.
Aus dem Inneren des Gasthauses erklingt die Stimme seines Bruders Ramadan.
Warum weinst du Taube?
Du erinnerst mich an meine Geliebte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies