Süchtig nach Ketamin: Ein ziemlich neues Leben
Das Narkotikum Ketamin wird als Droge auf den Clubtoiletten gehandelt. Unser Autor war erst fasziniert, dann abhängig. Die Geschichte einer Rettung.
E s ist frühmorgens, Heiligabend 2022. In zwei Stunden fährt der Zug zu meiner Familie, die Tasche ist fertig gepackt, meine Tüte mit Geschenken vorbereitet, es kann losgehen. Ich habe mir vorgenommen, meine Drogen zu Hause zu lassen. Dann plötzlich: Herzklopfen, Panik. Schaffe ich das, unbewaffnet in die Heimat, zu all den alten Gefühlen, Konflikten, dem Unausgesprochenen? Ich fange an zu schwitzen, Gedanken rasen in meinem Kopf. Zeit für eine dicke Line Ketamin. Ich entspanne, setze mich auf die Couch. Und verpasse meinen Zug.
Erst als mein Vater mich eigentlich schon am Heimatbahnhof abholen sollte, traue ich mich zu schreiben, dass ich es nicht geschafft habe. Per Whatsapp sage ich ab, schiebe es auf meine fehlende Energie wegen arbeitsintensiver Tage, wegen psychischer Erschöpfung – nur von meinem Drogenproblem, dem eigentlichen Grund, schreibe ich nichts.
Dabei bin ich zu diesem Zeitpunkt längst schwer abhängig von Ketamin, einem Narkosemittel, das weltliche Gefühle betäubt, die Seele auf einen Trip durchs Universum mitnimmt und schließlich zum Ich-Verlust führt. Körper und Geist entfernen sich je nach Dosis immer weiter voneinander. Im extremen Fall fühlt es sich an, als habe sich der eigene Körper aufgelöst und der Geist rase durch das Weltall, heimgesucht von einem Meteoritenschauer aus Erkenntnissen über existenzielle Zusammenhänge.
Vertieft im Keta-Rausch hat eine Freundin von mir zwei Stunden auf meinem Badezimmerboden gesessen und mit ihrer toten Mutter gesprochen. Danach konnte sie mit diesem traumatischen Verlust abschließen. Eine andere Freundin kam im K-Hole zu der Erkenntnis, dass der frühe Tod ihrer Schwester die Wurzel ihrer Depression ist. Und auch ich hatte während eines Trips das Gefühl, „telepathisch“ mit meinen biologischen Eltern, die ich nie kennengelernt habe, zu kommunizieren.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Doch mit der Zeit hat sich die Droge für mich zu einem Dämon entwickelt. Und deshalb sitze ich an diesem Heiligabend einfach weiter auf meiner Couch in Berlin und trippe vor mich hin, statt bei meiner Adoptivfamilie zu sein. Es sind Momente wie diese, in denen ich aus meinen Rauschträumen aufwache und erkenne: Nichts ist okay.
Deshalb schreibe ich diesen Text auch unter Pseudonym. Ketamin hätte fast mein Leben ruiniert und ich möchte nicht, dass mein neuer Arbeitgeber weiß, dass ich bis vor Kurzem süchtig danach gewesen bin.
Kristalline Parallelwelten
„Pferdebetäubungsmittel“ – unter diesem Spitznamen ist Ketamin zum Superstar auf den Clubtoiletten geworden. Denn Keta wird für die Schmerzbetäubung von Tieren verwendet, aber auch in der Notfallmedizin. 1962 wurde es zum ersten Mal synthetisiert mit dem Ziel, ein Narkotikum zu finden, das keinen Effekt auf die Atmung und die Herzfrequenz hat. Bereits im Vietnamkrieg wurde es zur Behandlung verletzter US-Soldaten eingesetzt. Die Weltgesundheitsorganisation führt es in ihrer „Liste der unverzichtbaren Medikamente“ auf. Keta ist strukturell verwandt mit seinem LSD-ähnlichen Vorgänger PCP Phencyclidin, kurz PCP, der auch Angel Dust genannt wird.
Ketamin fällt nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Wer illegal damit handelt, verstößt gegen das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NPSG). Ketamin ist mit 20 bis 30 Euro pro Gramm sehr teuer. Vor allem in den Metropolen wird es wegen seiner unmittelbaren und verlässlichen Rauschwirkung hoch gehandelt. Wenn nach zwanzig Stunden Durchfeiern nichts mehr wirkt, auf Ketamin ist immer Verlass. Anfänger:innen putschen sich mit der meist als Pulver eingenommenen Substanz für den nächsten Tanz auf, bei dem sie ganz in sich versinken und es nur noch sie und die Musik gibt.
Fortgeschrittene vertiefen sich in bedeutungsschwere Deeptalks mit anderen Keta-Konsument:innen, Profis ziehen sich komplett in sich selbst zurück, hören auf, mit der Außenwelt zu kommunizieren, und wirken wie Charaktere in einem Computerspiel, bei dem die Gamer:in den Controller weggelegt hat.
Dabei hat der Stoff – maßvoll konsumiert – durchaus seine positiven Seiten, auch das gehört zum Gesamtbild. Ärzt:innen erproben Keta seit Längerem auch zur Behandlung von Depressionen und suizidalen Gedanken. In klinischen Studien zeigt sich ein belegbarer positiver Effekt schon nach Stunden. Forscher:innen arbeiten noch daran, zu entschlüsseln, wie sich die antidepressive Wirkung im Gehirn ganz genau erklären lässt.
Auch bei mir ist Ketamin zunächst ein Gamechanger. Plötzlich sind meine Depressionen verschwunden, wenn ich high bin, fange ich an, verschiedene Dinge über mich und die Welt zu begreifen. Anfangs macht mich das durchaus zu einer spannenden und angenehmen Gesellschaft.
Dem Körper schadet ein exzessiver Konsum allerdings schnell. Zwar macht Ketamin nicht physisch abhängig wie etwa Nikotin, aber eine Gewöhnung tritt ein, durch die man die Dosis erhöhen muss. Eine psychische Abhängigkeit kann entstehen. Der Stoff greift die Nieren an, führt zu irreparablen Schäden der Harnwege und Inkontinenz. Auf emotionaler Ebene kann es gleichgültig machen gegenüber weltlichen Banalitäten und der eigenen körperlichen Unversehrtheit.
Und auch wenn Ketamin unter bestimmten Voraussetzungen bei Depressionen hilft, kann ein Langzeitkonsum wiederum später zu Depressionen führen. Das Hirn verlernt sozusagen, Stresssituationen nüchtern auszuhalten. Wird Ketamin nicht richtig zerkleinert, zieht man sich scharfkantige Kristalle durch die Nase, welche das sensible Innenleben schädigen – Nasenbluten ist da noch die harmloseste Folge. Auf Dauer wird die Nasenscheidewand immer weiter abgetragen. In extremen Fällen kann das kristalline Pulver ein Loch in diese reißen.
Einer Studie aus Taiwan zufolge könnte früher Ketaminkonsum sogar die Gehirnentwicklung beeinflussen. Laut den Forscher:innen bilden sich durch den Konsum Hirnzellen zurück, und das bei jungen Konsument:innen stärker als bei älteren. Betroffen sind Bereiche des Hirns, welche für komplexe Leistungen wie etwa die Verarbeitung von räumlich-visuellen Informationen und das Abrufen episodischer Erinnerungen zuständig sind.
Auf der Suche nach Identität
Wenn ich darüber nachdenke, bin ich eigentlich schon mein ganzes Leben suchtaffin. Meine biologische Mutter ist während der Schwangerschaft abhängig von Medikamenten, und schon früh wird mir deshalb ein angeborener Hang zu Suchtverhalten prophezeit. Als Adoptivkind lerne ich meine „echten“ Eltern nie kennen, was mir bis heute zu schaffen macht. Hinzu kommt, dass ich in eine deutsche Familie hineinadoptiert werde. Da mein biologischer Vater afrikanische, meine biologische Mutter osteuropäische Wurzeln hat, sehe ich nicht besonders deutsch aus. Ich bin fast das einzige dunkelhäutige Kind in meiner 150.000-Seelen-Heimatstadt, und da ich die Frage „Wo kommst du her?“ nie genau beantworten kann, entwickle ich eine Identitätskrise. Ich fühle mich weder dazugehörig noch ganz ausgegrenzt. Am Ende werde ich nie richtig Teil einer Gruppe, einer Clique.
Dazu die üblichen Nachwirkungen von Adoptionen wie fehlendes Urvertrauen und massive Bindungsprobleme. Meine Liebesbeziehungen halten bis heute im Schnitt etwa ein halbes Jahr, auch wenn ich mich nach einer tieferen Verbindung zu einem anderen Menschen sehne.
In meinem Heimatort fühle ich mich stets ein bisschen wie ein Alien unter lauter Eingeborenen. Mit 14 Jahren fange ich an, mich dem Alkohol hinzugeben. Meine überdurchschnittliche Toleranz sorgt dafür, dass ich immer etwas mehr als andere trinke und immer ein wenig länger auf Partys bleibe. Und am nächsten Tag gleich wieder Lust auf mehr habe. Ein paar Jahre später kommt das Kiffen hinzu, und beides in Kombination schießt mich regelmäßig derart ins Nirwana, dass oft unangenehme Abstürze mein Partyleben begleiten.
Erst mein Umzug nach Berlin mit Mitte zwanzig gibt mir das Gefühl, vielleicht doch nicht so ganz allein auf dieser Welt zu sein. Berlin gilt als Hauptstadt der „Misfits“, also jener, die nirgendwo reinpassen. Da fühle ich mich zum ersten Mal richtig angekommen, vielleicht sogar verstanden.
Aber so einfach ist es nicht. Berliner Beziehungen funktionieren oft über kollektives Trauma-Bonding. Erlebter Schmerz ist der erste vereinende Faktor vieler Communities. Zur Selbstvergewisserung ist dies Seelenbalsam, zum Aufbau stabiler sozialer Kontakte reicht es oft aber nicht.
Und so sind auch meine ersten Jahre in der Millionenmetropole eher geprägt von Freundschaften, die sich vor allem aus gemeinsamen Einzelinteressen speisen, nicht aus echter Verbundenheit: sei es durch das gemeinsame politische Interesse, den gleichen Musikgeschmack oder irgendetwas anderes. Die ideelle Gesamtfreundin finde ich nicht so recht, romantisch oder platonisch. Ich fühle mich – wieder – vereinzelt.
Bis meine damalige Partnerin mich eines Tages mit auf eine Technoparty nimmt und mir meine erste Line Speed unter die Nase hält. Es ist zwar nicht mein erstes Cluberlebnis, aber meine erste Technoparty auf Chemie. Und wow, was soll ich sagen: Ich fühle mich wie neugeboren. Dass dies rückblickend den Anfang meines schleichenden Absturzes markiert, kann ich damals nicht wissen.
Es ist mein Einstieg in die Welt der Chemikalien. Und mein Ausstieg aus der Welt alltäglicher Banalitäten. Nun kann ich die Nächte durchfeiern und trotzdem morgens relativ frisch auf der Arbeit erscheinen. Die Wochenenden werden zu endlosen Exzessen, freier und oft belangloser Sex mischt sich mit einer nicht enden wollenden Schar neuer Bekanntschaften, manchmal Freundschaften. Clubbing wird mir zur zweiten Natur und das Loch in meiner Seele, welches nach Erfüllung giert, verstummt für immer längere Zeiten.
Irgendwann aber flaut die Kurve ab. Ecstasy und MDMA fordern Tage nach dem Konsum ihren Tribut: Sie verschießen körpereigene Glückshormone, bis die Reserven leer sind, die Folge sind depressive Katertage, die so grau wie die Partys bunt sind. Ich will das nicht mehr. Und dann kommt Ketamin.
In den USA wird Ketamin bereits in den siebziger Jahren populär. Zunächst als Straßendroge, irgendwann taucht es auf den Dancefloors der Technoclubs auf. In meiner Generation taucht es Mitte der Zehnerjahre auf und gilt als die sagenumwobene nächste Stufe nach den standardmäßigen Partydrogen wie Speed, Koks und Pillen.
Ketamin ist übrigens auch unter Humanmediziner:innen sehr beliebt, sie und ihre Veterinärskolleg:innen schmuggeln es flaschenweise aus Krankenhäusern und Praxen raus, nutzen es zum Eigenkonsum und verkaufen es weiter. Auch über illegale Wege aus der Pharmaindustrie und das Internet gelangt der Stoff auf den Markt. Im ZDF-Magazin „Frontal 21“ berichtete ein Dealer, Ketamin online lange aus China bestellt zu haben.
Mit dem Asphalt verschmolzen
Meine erste Begegnung mit Ketamin ist etwa 7 Jahre her und ziemlich skurril: Mit meinen besten Freund:innen treffen wir uns damals eines sonnigen Samstagnachmittags bei einer Bekannten. Unser Plan ist, erst ein wenig vorzuglühen und dann gemeinsam auf eine Technoparty zu fahren. Ich habe bis dahin noch nie Keta genommen. Aber weil es so etwas wie die nächste Stufe nach Speed und Ecstasy darstellt, finde ich das spannend und will es unbedingt ausprobieren. Aber dann bekomme ich im vorletzten Moment doch noch kalte Füße und verweigere die angebotene Line.
Erst als das Taxi schon auf dem Weg zu uns ist, greife ich zu – es ist eine Portion, die selbst gestandene User:innen in die Schranken gewiesen hätte. Ich schnappe mir einen Strohhalm, vernichte die Line in einem lässigen Schwung und tue so, als sei dies für mich reine Routine. Als Erstes fällt mir der Geschmack auf. Nicht toxisch-chemisch wie Speed, nicht den Kotzreiz triggernd wie Ecstasy und MDMA. Sondern irgendwie gut, fast erfrischend.
Danach muss alles ganz schnell gehen: Schuhe anziehen, Jacken überwerfen und die Treppe hinunterspurten, schließlich ist das Taxi schon fast angekommen. In der Eile habe ich gar keine Zeit, mich mit der unmittelbaren Wirkung des Narkotikums zu befassen. Erst als ich aus dem Treppenhaus auf die Straße trete, beginnt sich irgendetwas zu verändern.
Ich schaue umher und entdecke plötzlich eine Art Kolosseum, es könnte auch die Fankurve eines Fußballstadions sein. Auf jeden Fall blicke ich auf Hunderte Köpfe und Körper, die sich in einer Masse hin und her bewegen, eng zusammengequetscht auf einer Art Stadionrang. Ich kann Gesichtszüge erkennen, alle blicken in eine Richtung, wiegen ihre Köpfe hin und her und scheinen in Aufruhr zu sein.
Ich bin überwältigt von dem überraschenden Anblick. Bis ich durch das ankommende Taxi aus meinem Ketatraum gerissen werde und erkenne, dass ich eine gewaltige Baumkrone angestarrt habe und dass es Blätter und nicht Menschen sind, die da im Wind wanken. Mit letzten Geisteskräften schiebe ich mich in das Großraumtaxi und versinke endgültig im K-Hole: also in dem Zustand maximalen Rausches, in dem sich Körper und Geist maximal voneinander entfernen.
Ich weiß, dass ich nun ein Riesenproblem habe. Als der Wagen hundert Meter von der Clubschlange entfernt anhält, hieven mich meine Freund:innen schmunzelnd von meinem Sitz. Ich kann noch „Ich komme gleich nach“ sagen und stehe starr mitten auf dem Bürgersteig. Meine Gliedmaßen verweigern jede Zusammenarbeit, es scheint, als seien meine Füße mit dem Asphaltboden verschmolzen – mein erster Keta-Trip, mein erstes K-Hole, da ist es also.
So unangenehm diese Erfahrung im Nachhinein ist: Ich bin begeistert. Hat man so etwas schon erlebt? Geist, Seele, Wirklichkeit, Universum, Ich, Über-Ich – all dies verschmilzt zu einem somnambulen Ringelreihen atemberaubender Schönheit. Erkenntnisse regnen vom Himmel, die Kreativität sprudelt, das Leben ist schön. Und das Beste: kein Depri-Kater. Von da an wird Ketamin zu meinem regelmäßigen Begleiter in endlosen Clubnächten. Wenn ich schon meine Identitätskrise nicht auflösen kann, so habe ich doch wenigstens einen Anker gefunden, der mich durchs Leben manövriert.
Trippen auf der Couch
Heute muss ich erkennen, dass mich exakt dieser Anker ganz langsam in die Tiefe gezogen hat. Es mag übertrieben dramatisch klingen, aber: Ich fühle mich von Keta betrogen. Wie in einer toxischen Beziehung, bei der man irgendwann erkennt, dass der Partner die eigene Liebe nie wirklich erwidert hat.
Aus den überschwänglichen Joyrides durch Kreuzberger Nächte werden mit der Zeit narkotische Sessions des Vor-sich-hin-Dämmerns. Aus kreativen Meteoritenhageln, die den Geist beflügeln und Kunst wie von selbst erschaffen, wird mittelmäßige Selbstergriffenheit. Aus dem geselligen Gast wird ein in sich gekehrter Sonderling, dessen geistiges Innenleben nur noch für ebenbürtige Konsument:innen decodierbar ist. Aus dem zuverlässigen und kümmernden Freund, der ich war, wird ein dauerbetäubter Egomane, der im Rausch zu toxischen Rundumschlägen neigt und seine engsten Freund:innen irritiert bis vergrault.
Meine beste Freundin, mit der ich jahrelang mehrmals die Woche Zeit verbracht habe, manchmal jeden einzelnen Tag, redet heute nicht mehr mit mir. Im Rausch bin ich besessen davon gewesen, ihre Probleme zu lösen, von denen sie mir erzählt: Ich erschaffe wilde Theorien über ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Familie und ihre Probleme beim Dating. Ich tue dies in bester Absicht, nur ist das für sie sensibelstes Terrain und meine Keta-induzierten Interventionen ein Affront. Das verstehe ich erst viel später und ich hoffe, sie kann mir eines Tages vergeben.
Aus zwei Gramm an Wochenenden wird ein Gramm pro Tag, auch alleine, ohne jedes Ziel oder jeden Plan. Statt auf dem Dancefloor trippe ich nun auf meiner Couch, melde mich kaum noch bei irgendwem und verbringe die nüchterne Zeit hauptsächlich im Bett in stundenlangen Fieberträumen. Sicher geglaubte Jobs schicken Absagen, Rechnungen türmen sich auf, die Schulden bei Dealern und Freund:innen wachsen an. Liebesbeziehungen zerbrechen, die Depressionen kommen wieder. Als ich es nicht einmal mehr an Weihnachten zu meiner Familie schaffe, stelle ich mir endgültig die überfällige Frage: Fuck. Wie bin ich da nur reingeraten?
Meine Keta-Schulden erdrücken mich nun, sie sind im mittleren fünfstelligen Bereich. Und je erdrückter ich mich fühle, desto mehr Keta ziehe ich. Ein Teufelskreis, der mir bewusst ist.
Irgendwann kann ich auf das dauernde „Ich mache mir Sorgen“ meiner Freund:innen nur noch antworten: „Ich mir auch“. Als ich eine fristlose Kündigung vom Vermieter in letzter Sekunde abwenden kann und mein Bruder zu einem unangekündigten Interventions-Besuch nach Berlin kommt, weiß ich, so geht es nicht weiter. So kann, so darf es nicht weitergehen. Allein, mir fehlt die Kraft, um daraus auszubrechen. Bis sich meine langjährige Freundin Viola meldet und mir, Stand jetzt, das Leben rettet.
Sie ist Erzieherin in einer Kita und ist damals in etwa auf dem gleichen Junkie-Level wie ich. Sie erzählt mir von ihrem Plan, einen stationären Entzug zu machen: Für zwei Wochen würde sie in die Psychiatrie gehen, um von ihrer Sucht loszukommen.
Auch Viola sieht zu diesem Zeitpunkt anders aus als zu der Zeit, in der ich sie kennengelernt habe. Wie ich hat sie sichtbar an Gewicht verloren, die Wangen sind leicht eingefallen, und sie hat ein neues Tattoo. Ab und zu treffe ich sie zufällig, wenn ich mir abends mein Gramm Ketamin bei meinem Stammdealer abhole, natürlich in gleicher Mission.
Ihre Entzugspläne nehme ich interessiert, aber doch widerstrebend zur Kenntnis. Wenn sie das macht, was bedeutet das für mich? Wird es dann nicht auch für mich langsam Zeit, etwas zu verändern?
Wenn man süchtig ist und noch ein bisschen Restverstand besitzt, spielt man zwangsläufig diverse Exit-Szenarien durch. Wie man ab sofort Sport machen, wieder mehr rausgehen oder andere Dinge machen will, die nichts mit konsumieren zu tun haben. Vom Gedankenkonstrukt zur Verwirklichung ist es allerdings ein großer Schritt, und ich bin Viola unendlich dankbar, dass sie mir diesen vorweggenommen hat und ich sozusagen in ihre Fußstapfen treten konnte.
Denn als sie nach einigen Wochen aus dem Entzug herauskommt, ruft sie mich an und erzählt mir begeistert von der positiven Erfahrung. Wie nett und verständnisvoll das Personal gewesen sei, wie aufbauend das tägliche Programm und wie viel besser sie sich nun fühle. Ich rufe sofort die Seite des Krankenhauses auf und melde mich. Weil Feiertage bevorstehen, dauert es nicht lange, bis ich eine Zusage für einen der sonst begehrten Plätze bekomme.
Angst vor den eigenen Abgründen
Einen Monat später stehe ich mit gepackten Taschen an der Rezeption, um mich aufnehmen zu lassen. Ich bin aufgeregt, die Nacht davor konnte ich kaum schlafen, habe eine Panikattacke bekommen und angefangen zu heulen. Weil ich Angst vor der fremden Umgebung habe, Angst vor den eigenen Abgründen, Angst davor, das alles nicht zu schaffen. Es ist ein Gefühl, das ich lange erfolgreich verdrängt habe. Teils mit Selbstbetrug, teils mit Intoxikation. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. Ich werde auf die psychiatrische Station gebracht und weil ich noch auf mein Zimmer warten muss, soll ich schon mal im Gruppenraum Platz nehmen. Dort treffe ich auf die anderen Bewohner:innen, mit vielen von ihnen werde ich die nächsten zwei Wochen verbringen.
Das ist es also: Psychiatrie. Auf den ersten Blick wirken hier alle normal, wenn es so was gibt. Ich werde freundlich, fast herzlich empfangen und offenherzig nach „meiner“ Substanz gefragt. Es ist eine gemischte Station, mit Depressions-Patienten und Süchtigen. Ich bin überraschenderweise der einzige Ketamin-Abhängige, die anderen sind meist auf Schmerzmitteln wie Tilidin oder Tramadol, auf Alkohol, Kokain oder Schlaftabletten. Einer von uns, vielleicht knapp 30 Jahre alt, ist seit 18 Jahren auf Heroin und anderem Straßenzeug wie Crack.
Für mich läuft der kalte Entzug erstaunlich gut. In meiner Wachzeit verschwende ich kaum einen Gedanken an die Droge, außer wenn ich in Gruppentherapien darüber spreche. Ich stehe um 7 Uhr morgens auf, esse viel, denke nach, rede mit Ärztinnen und Therapeuten und gehe um 22 Uhr ins Bett. Ein Lifestyle, den ich mir noch Tage zuvor nie hätte träumen lassen.
Apropos träumen: Genau dahin haben sich meine Entzugserscheinungen interessanterweise verdünnisiert. Spüre ich am Tag kaum eine Regung, die mich an Ketamin erinnert, so dominieren sie nachts meine Träume, in einer Intensität, die aus Träumen filmrealistische Langsequenzen macht. Ich träume davon, Keta zu kaufen, es aufzubereiten, es zu konsumieren. Mit der Zeit allerdings wird der Inhalt weniger explizit: Dann taucht Keta zwar noch auf, ich nehme es aber nicht mehr. Irgendwann spüre ich nur noch das „craving“, also das starke Verlangen danach. Bis irgendwann auch diese milde Variante aufhört und ich nachts meine Ruhe habe.
Tagsüber sitzen wir in Gruppen zusammen und erzählen uns unsere Suchtgeschichte. Mal im Beisein einer Therapeutin, mal nur unter uns. Jede:r von uns muss während der Zeit einen entsprechenden Aufsatz schreiben, und über den eigenen Konsum und die Gründe dafür reflektieren. „Schonungslos“ sei meiner, wird mir nach meinem Vortrag anerkennend gesagt, ich bekomme viel Anerkennung für meine Offenheit und merke, dass das auch auf einer Suchtstation keine Selbstverständlichkeit ist.
Bei den privaten Eins-zu-eins-Sitzungen mit Ärztinnen wird mir die Absurdität meines Konsums immer wieder vor Augen geführt. Es ist eine Sache, sich mit anderen Junkies auszutauschen. Etwas anderes ist es, „Außenstehenden“ die Liste an Drogen und die Frequenz, in der man sie nimmt, aufzulisten.
Ich sehe, wie die Augen meiner Ärztin immer größer werden, je mehr ich aufzähle, was ich schon alles genommen habe: Speed, Koks, Mephedron, Cannabis, MDMA, Ecstasy, 2CB, Pilze, natürlich Keta und noch einiges anderes. Und während ich das tue, dämmert mir, dass ich in einer eigenen Realität lebe, die kein Dauerzustand sein kann. Ich fühle mich gut, befreit, weil mir dieser Gedanke in dieser Klarheit bisher selten gekommen ist und weil ich nun Menschen um mich herum habe, mit denen ich das besprechen kann, ohne verurteilt zu werden.
Auch der Austausch mit den anderen Patienten bringt mir viel. Vor allem Ältere haben oft sehr extreme Erlebnisse hinter sich und viel verloren. Ein Mann zum Beispiel hat durch Koks- und Alkoholkonsum seine Ehe zerstört, den Kontakt zu seiner Tochter verloren, seine Karriere verspielt, und ist nun bankrott und einsam. Das will ich nicht für mich, sage ich mir, und spüre eine neue Motivation, endlich etwas zu ändern. Ich will leben und am Leben teilnehmen. Das habe ich hier verstanden.
Ich fühle mich frisch, clean, gewappnet
Nach zwei Wochen Klinik will ich fast nicht mehr nach Hause – so sehr sind mir meine Mitbewohner:innen, die Belegschaft und überhaupt das Krankenhaus ans Herz gewachsen. Immerhin, ich fühle mich frisch, clean und gewappnet für die Zeit danach, in der es gilt, den ersten Achtungserfolg einzutüten. Vorsorglich habe ich schon vor meiner Krankenhauszeit alles, was an Konsum erinnert, aus meiner Wohnung verbannt: Ziehröhrchen, leere Tütchen, Plättchen zum Zerkleinern. Als ich zurück nach Hause komme, empfängt mich eine saubere Wohnung, die sich irgendwie nach einem neuen Leben anfühlt.
Ein paar Wochen später meldet sich Viola, die mir ursprünglich von der Krankenhaustherapie erzählt hat. Sie ist rückfällig geworden. Die zwei Wochen haben für sie nicht gereicht. Auch von gemeinsamen Freunden bekomme ich besorgte Nachrichten über sie und komme ins Grübeln. Viola hat sich mittlerweile für einen zweiten Aufenthalt entschieden, wozu ich sie beglückwünscht habe. Und auch ich bin jederzeit bereit, meine Therapie zu wiederholen.
Während ich dies hier schreibe, bin ich seit etwas mehr als vier Monaten „clean“ von Ketamin. Okay, nicht ganz: Einen Rückfall hatte ich. Aber ich bin geneigt, diesen als Ausrutscher zu deklarieren. Seit meinem Entzug war ich mehrfach wieder in Technoclubs, auch, um mir zu beweisen, dass ich mich nicht künstlich isolieren muss, um ein Leben ohne K zu führen. Das hat viele Male auch sehr gut funktioniert, bis ich eines frühen Morgens in einer Clubtoilette doch schwach geworden bin und die angebotene Line Ketamin gezogen habe. Eine Ausnahme, dachte ich mir, und etwas tiefer in mir drin dachte ich: „Was für eine lahme Ausrede.“
Es hat sich nicht mal gelohnt, die Wirkung war milde und hat meine Stimmung nicht gehoben, stattdessen machte ich mir am nächsten Tag Vorwürfe. Rückfälle gehören dazu, auch das habe ich während meiner Therapie gelernt. Und ich hoffe, es bleibt mein einziger.
Abgesehen davon bin ich stolz auf mich. Stolz, weil ich selbstständig in den Entzug gegangen bin. Stolz, weil ich plötzlich wieder Dinge des alltäglichen Lebens hinbekomme: Ich sage keine Verabredungen mehr grundlos ab, ich schaue regelmäßig in meinen Briefkasten und öffne die Post, ich habe endlich wieder einen Job und aufgehört, ständig Notlügen zu erfinden, um meine Situation vor anderen zu verschleiern. Meine depressiven Episoden sind immer weniger geworden, ich flüchte mich bei Konflikt- und Stresssituationen nicht mehr in tagelangen Schlaf. Ich habe acht Kilo zugenommen, wirke nicht mehr abgemagert und dehydriert.
Freund:innen gratulieren mir zu dem Schritt, auch sie sind stolz auf mich. Und weil meine Familie nun auch im Bilde ist, zeigt sie viel mehr Verständnis für mich als vorher.
Aber natürlich habe ich auch viele mir nahestehende Menschen verletzt. „Ich hoffe, du schaffst es irgendwann einmal, Verantwortung für dich selbst zu übernehmen“ – das war das Letzte, was meine damals beste Freundin zu mir gesagt hat, bevor ich nie wieder von ihr gehört habe. Gestern war ihr Geburtstag, der erste seit Langem, den wir getrennt voneinander verbringen. Es bricht mir das Herz. Ich hoffe, sie irgendwann wiederzusehen. Nüchtern, emotional stabil. Nicht toxisch. Nicht high.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“