: Suche nach der verlorenen Zeit
Einst galt Friedenau als Zentrum der literarischen APO. Mehr als diesen Rückblick hat Friedenau anläßlich des 125jährigen Bestehens nicht zu bieten ■ Von Uwe Rada
Nein, Trauer war es nicht. Auch kein Trotz. Vielleicht war es ein Zug von Ironie in Anbetracht des Unvermeidlichen, mit dem Nicolas Born die Stillegung des „Bundesecks“ kommentierte. Damals, es war 1975, kaufte das Rote Kreuz das Grundstück Bundesallee 70. Die Dichterkneipe, in der vor allem Born, der politische Dichter des Alltags, und Hans-Christoph Buch auf dem Grund der Biergläser nach literarischem Stoff suchten, mußte schließen. Eigentlich sei das Rote Kreuz ja dazu da, Leben zu verlängern, und eine Kneipe, das sei ja immerhin auch Leben, frotzelte Born damals.
Als „literarische Hochburg der Studentenbewegung“ sieht sich Friedenau noch heute gerne. Nicht nur Born und Buch, die beide in der Dickhardtstraße 48 wohnten, hatten in Friedenau ihre Zelte aufgeschlagen, sondern auch Hans Magnus Enzensberger, Günter Herburger, Christoph Meckel oder Günter Bruno Fuchs. Sie alle gesellten sich zu den bereits etablierten Autoren wie Günter Grass oder Max Frisch, die von Uwe Johnson, seit 1959 in der Niedstraße 14 im ehemaligen Atelier von Karl Schmidt-Rottluff ansässig, in den Frühsechzigern mit Wohnraum versorgt wurden. Denkt man an Friedenau, schrieb Helene Rafalovics 1968 in Berliner Leben, „so ließe sich, dem Wohnstil nach, leicht an St. Germain des Pres und an Schwabing denken“.
So entstehen Legenden. Daß die – durchaus ungewöhnliche – Summe von Dichterbehausungen noch lange kein Literatenviertel macht, haben die Künstler als erste erkannt. Zwar gab es mit dem Bundeseck, dem Buchhändlerkeller in der Görrestraße und Wolffs Bücherei in der Bundesallee ein – wenn man so will – literarisches Leben. Doch nicht das literarische Leben war es, daß die Dichter nach Friedenau zog, sondern – nach eigenen Aussagen – die billigen Mieten, die großen Wohnungen, die Abgeschiedenheit eines bürgerlichen Wohnviertels. Friedenau blieb für die meisten Dichter Durchgangsstation, und selbst Günter Grass verließ sein Landhaus in der Niedstraße 13 Anfang des Jahres für immer.
Erst jüngst, auf einer Veranstaltung anläßlich des 125jährigen Bestehens, erwies sich die von den Filmemachern Christel und Heinz Blumensath dem Stadtteil angedichtete Kontinuität von „ästhetischer Innovation und kritischem Geist“ als nett gemeinte Fiktion. Die Filmemacher zeigten ihren Film „LiteraTouren – Friedenau im Film“, in dem Uwe Johnson über seinen Friseur sprechen und Hans Magnus Enzensberger ein Gedicht über den Eskapismus vortragen durfte. Die Schauspielerin Vera Ziegler feierte den 1960 nach Berlin zurückgekehrten Verleger Victor Otto („VauO“) Stomps als schillernde Persönlichkeit, und das Publikum spielte mit im Erinnerungsreigen. Die Gegenwart, sie scheint in Friedenau nur der Stoff, aus dem die Trauer ist, der Standpunkt, aus dem man die Reise nach gestern antritt, die Suche nach der verlorenen Zeit.
Im Westen also nichts Neues? Als ob es derzeit keine Debatten über Ost-West-Identitäten, Kulturkampf gäbe, als ob das scheinbar Unvermeidliche nicht gerade die Phantsasie und Kreatitvität zu Höchstleistungen anspornen könnte, hält man sich selbst in den saturierten Vierteln des Westens an das, was man hat: die Vergangenheit. Von der Ironie eines Nicolas Born ist nichts mehr zu spüren. Da paßt es auch ganz gut, daß seit 1. September der letzte Dichter Friedenau verlassen hat. Es ist Hans-Ulrich Treichel, der noch vor kurzem in seinem Gedicht „Sommertag in Friedenau“ die Villenkolonie gelobt hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen