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Ursprung der Proteste in Serbien: Dacheinsturz am Bahnhof von Novi Sad im November 2024. 15 Menschen kamen damals ums Leben Foto: Kirill Zykov/imago

Studierendenproteste in SerbienWissen will Macht

Die serbischen Studierendendemos stoßen im Land auf breite Zustimmung. Eine atmosphärische Spurensuche in Belgrad nach dem großen Protest vom 15. März.

D as Café Di Trevi in der Resavska-Straße in Belgrad ist ein beliebtes Lokal unter Studenten und Studentinnen, die in der Nähe wohnen. Es gibt dort den billigsten Kaffee in der Nachbarschaft – und das Café di Trevi lag am 15. März, dem Tag der großen Demonstration gegen das serbische Regime, im Epizentrum, diente nicht wenigen als Zufluchtsort. Auf die Frage „Was nun?“ sagt die Studentin der Kunstakademie Irena, die ihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, schlicht: „Wir machen weiter.“

Irena sitzt im Café mit vier anderen Studierenden. Ob sie denn Angst hätten? „Nö.“ Werden sie an weiteren Protesten teilnehmen? „Selbstverständlich.“ Und was, wenn das serbische Regime nicht nachgibt, Menschen, die Studenten angegriffen haben, nicht verurteilt werden? Sind sie sich im Klaren darüber, dass das Regime unter Aleksandar Vučić auf Gesetzlosigkeit, Machtmissbrauch, der Kontrolle der Justiz und der Polizei beruht?

„Natürlich wissen wir, in was für einem Land wir leben. Deshalb blockieren wir doch unsere Fakultät und demonstrieren seit Monaten“, sagt die Kunststudentin Irena stellvertretend für die anderen vier. Alle nicken, fast ein bisschen verärgert.

Die Studierenden werden weitermachen und unermüdlich „pumpen“ – ein Begriff, der ihren Protest prägt. Und wenn sich am Ende doch nichts ändert? „Dann hauen wir eben ab aus Serbien.

„Der Studentenprotest hat keine sichtbaren Anführer. In einem komplizierten Prozess der Direktdemokratie treffen einzelne Unifakultäten mehrheitlich alle Entscheidungen und koordinieren das mit anderen Fakultäten. Rede- und Stimmrecht haben alle Studenten. Es klingt fast unmöglich, doch bis jetzt hat diese Vorgehensweise funktioniert.

Die Studierenden haben in wenigen Monaten wohl mehr bewirkt als serbische Oppositionsparteien in über einem Jahrzehnt. Als in Novi Sad vor einem Monat aus den Parteiräumen der Regierungspartei SNS ein Schlägertrupp Studenten angriff und einer aus dem Trupp einer Studentin den Kiefer brach, trat Ministerpräsident Milos Vučević abrupt zurück. Der Protest sollte sich nicht in ein Fegefeuer verwandeln. Doch erst jetzt, letzten Mittwoch, nahm das Parlament formell seinen Rücktritt an.

Präsident Vučić aber gibt sich völlig unbeeindruckt von den täglichen Protesten im ganzen Land. Das gilt auch für die gegen sein Machtsystem gerichtete Großdemonstration vom 15. März. Vučić bezeichnet sie als „Terror“ einer „aggressiven Minderheit“ gegen die „stille, anständige Mehrheit“.

Auch Biker kamen in Massen zum Schutz engagierter Demonstrierender am 15. März 2025 in Belgrad Foto: Pavel Nemecek/imago

Am Dienstagabend sagte der Staatspräsident in einem seiner täglichen Fernsehauftritte bräsig: „Ich schreibe Geschichte, indem ich mich Lügnern und Hochstaplern widersetze, meine Worte wird man einmal studieren.“ Den Aufruhr in Serbien bezeichnete er als einen „Aufstand der Reichen“ und der „irregeführten Studenten“, deren Anführer von ausländischen Geheimdiensten, namentlich erwähnte er den deutschen Bundesnachrichtendienst, gesteuert würden. Nur dank des „fantastischen Einsatzes“ der serbischen Sicherheitskräfte sei ein geplantes Blutbad verhindert worden.

In einem sind sich hier die verfeindeten Pole der serbischen Gesellschaft tatsächlich einig: Um ein Haar konnte eine gewalttätige Auseinandersetzung mit unabsehbaren Folgen vermieden werden. Doch die Schuld für diese Gefahr, die wird jeweils der anderen Seite zugewiesen. Die Studenten, als der treibende Motor dieser antiautokratischen Rebellion, bestehen auf gewaltlosen Widerstand, wollen eine „Revolution der Liebe gegen den Hass“.

Dem Staatspräsidenten ergebene Medien kreierten vor der Großdemo am 15. März eine Angststimmung, sprachen vom „D-Day“, einem geplanten Staatsputsch und gewalttätiger Machtübernahme. Schlägertrupps der Regierungspartei SNS standen im Zentrum Belgrads erwiesenermaßen bereit und warteten auf das Kommando, Chaos auszulösen. Der Befehl blieb aus. Der Grund dafür?

Er liegt vielleicht in den Worten eines Polizeiobersten, der anonym bleiben wollte, doch dem Belgrader Magazin Vreme sagte: „Glaubt ihr wirklich, dass ich Polizisten auf meine zwei Kinder, die Studenten sind, loslassen würde? Sie nehmen an allen Protesten teil, von Belgrad über Novi Sad, Kragujevac, Niš und jetzt wieder Belgrad.“ Im Falle eines Gewaltausbruches konnten sich also am 15. März die serbischen Machthaber nicht sicher sein, auf wessen Seite sich Sondereinheiten der Polizei stellen würden.

Die Lage hatte sich an dem Tag so zugespitzt, dass sich Veteranen der 63. Fallschirmjägerbrigade in ihren erkennbaren Uniformen den Studierenden als Sicherheitskräfte anboten. Für alle Fälle gerüstet standen sie vor dem Staatsparlament. Dort war die große Kundgebung angesagt.

Unter dem Vorwand, dass dort „brave Studenten, die lernen wollen“, gegen die Blockaden der Fakultäten protestieren würden, bauten „Kontrastudenten“, die das Regime eingespannt hatte, vor dem Präsidentenpalast ein Camp mit Dutzenden Zelten, das wie eine befestigte Militärbasis aussah: Ringsum eine Doppelreihe herangefahrener Traktoren, dann ein Metallzaun. Dahinter, im Dunkeln, die Gendarmerie, eine Sondereinheit der serbischen Polizei. Und auf der anderen Seite, im Einsatz für die wirklich protestierenden Studenten, kamen massenhaft Biker zur Demo – um „auf unsere Kinder aufzupassen“.

Doch hauptsächlich sorgten die Studenten selbst für Ordnung. Tausende von ihnen in gelben Westen passten auf, dass die gewaltige Menschenmasse in Belgrad nicht außer Kontrolle geriet. Die Lage war angespannt, viele schrieben auf die Haut ihrer Unterarme ihre Blutgruppe und die Telefonnummer ihrer Eltern.

Auf Demos: Die Politikwissenschaftsstudentin Milica Tošić (22) aus Belgrad Foto: Andrej Ivanji

„Wir werden ausharren“, sagt in der Redaktion des Wochenmagazins Vreme die 24-jährige Milica Srejić. Die Politikwissenschaftsstudentin im Abschlussjahr arbeitet dort zurzeit als Praktikantin, genauso wie die 22-jährige Politikwissenschaftsstudentin Milica Tošić. „Etwas anderes als Ausharren kommt gar nicht infrage“, sagt Srejić. „Wir haben jetzt schon vier Monate unsere Fakultät blockiert, wir haben praktisch das ganze Semester geopfert!“

Und immer noch, nach allem, was passiert sei, seien ihre Forderungen nicht erfüllt worden. „Wenn wir jetzt aufgeben, werfen wir alles ins Wasser, was wir getan und geopfert haben.“ Die Studentin erwartet „noch mehr Blitzaktionen“ aus ihren Reihen. Die Unterstützung, die sie hätten, werde immer größer, vor allem in der serbischen Provinz. „Das gibt uns noch mehr Kraft, weil wir sehen, dass wir bei vielen Menschen Hoffnung und Willen erweckt haben, mit uns im Kampf für Gerechtigkeit auszuharren“, sagt Milica Srejić lebhaft.

Sie hebt im Gespräch auch „Solidarität“ hervor – etwas, das in Serbien so lange eingeschläfert gewesen sei. „Und jetzt sind plötzlich so viele Menschen solidarisch mit anderen Menschen in Not, jetzt sind wir plötzlich alle füreinander da. Und das scheint unwiderruflich zu sein.“

Ihre Kollegin bei Vreme, Milica Tošić, war am 15. März Zeugin des noch immer nicht ganz geklärten Ereignisses, bei dem wohl eine sogenannte Schallkanone vom serbischen Regime eingesetzt wurde. In der Belgrader Kralja-Milana-Straße standen Tausende Demonstranten, um still der Opfer aus Novi Sad zu gedenken. Ohne jeglichen sichtbaren Grund gerieten diese Menschen plötzlich um 19.11 Uhr in nackte Panik und flüchteten auf die Bürgersteige.

Es sah auf Videos aus, als ob eine unsichtbare Macht sich einen Weg durch die Masse bohrte. Am Tag danach berichteten Medien, das Regime habe gegen friedlich demonstrierende Bürger eine in Serbien verbotene Schallkanone eingesetzt. Bald bestätigten serbische und internationale Soundexperten nach Analyse der mit Smartphones gemachten Aufnahmen, dass tatsächlich so eine Waffe im Einsatz gewesen war. Eine Waffe, die die serbische Polizei laut einer Recherche des Balkan Insight Research Networks bereits im November 2023 gegen Geflüchtete in der Vorstadt der serbischen Stadt Sombor verwendete.

Hunderte Bürger meldeten sich in Belgrad letztes Wochenende in Notaufnahmen mit denselben Symptomen: Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerzen, Hörprobleme. CRTA, eine NGO, rief alle Bürger auf, die in der Kralja-Milana-Straße zur Demo waren und gesundheitliche Folgen spürten, sich an sie zu wenden. Tausende meldeten sich.

Staatspräsident Vučić bestritt zunächst alles, drohte mit Haftstrafen diesen „Lügnern“, die nur Panik schürten. Innenminister Ivica Dačić leugnete zuerst, dass Serbien eine Schallwaffe besitze. Dann aber gab er zu, dass die Polizei doch über einige dieser Geräte verfüge, sie aber „unverpackt in Kisten stehen“. Nur um wenig später zuzugeben, dass vor dem Parlament so ein Soundgerät auf einem Polizeiauto bereitstünde.

Traktoren zum vermeintlichen Schutz von Studierenden in Belgrad, aufgebaut vom Regime Foto: Pavel Nemecek/imago

Es blieb ihm nichts anderes übrig – in sozialen Netzwerken tauchte ein Foto mit dem Gerät auf. Aber nicht, um als Schallwaffe eingesetzt zu werden, was ja verboten wäre, beteuerte Dačić – sondern als „Warnsystem“. „Das ist doch nur ein etwas stärkeres Megafon“, sagte der Innenminister. Experten dementierten dies sofort.

„In der totalen Stille“, berichtet Milica Tošić, „glaubte ich plötzlich, ein Auto rase auf uns zu, so als ob jemand richtig Gas geben, als ob Reifen quietschen würden. Ich stand auf einem Bürgersteig, mit dem Rücken zur Wand, und sah, wie Menschen auf einmal massenhaft von der Straße links und rechts auf den Bürgersteig springen, vor irgendeiner Gefahr weglaufen. Ich sah, wie sie Panik packte“, erzählt die Studentin noch immer bewegt. Es habe nur wenige Sekunden gedauert. „Als dieses eigenartige Geräusch vorbei war, gingen viele in die Richtung, aus der es gekommen war, und fluchten. Als ob sie nach einem wilden Autofahrer suchen würden.“

Gesundheitlich geht es Tošić gut, wahrscheinlich war sie der Schallkanone nicht direkt ausgesetzt. Angst habe sie nicht. „Die Stimmung war sonst unglaublich. So viel Freude, Lebenslust und Toleranz in dieser enormen Menschenmasse.“

Trotz alltäglicher Hetzjagd: Die Studierenden wollen keinen Machtwechsel, sondern eine Systemänderung

Das zeugt auch von der Bereitschaft der Studierenden, trotz aller Drohungen des Regimes, einzelner Übergriffe und alltäglicher Hetzjagd, bis zum Ende zu gehen. Sie wollen keinen Machtwechsel, sondern eine Änderung des politischen Systems. Idealistisch, naiv, jugendhaft? Mag alles sein. Aber die Studierenden sind derzeit die mit Abstand stärkste politische Kraft in Serbien.

Denn auch wenn Präsident Vučić vom Ende der „Farbrevolution“ tönt, ist der Ausgang der Revolte noch lange nicht abzusehen. Zumal die serbische „Studentenrevolution“ nichts gemein hat mit sogenannten „Farbrevolutionen“ in ehemalige Staaten der UdSSSR. Der autochthone serbische Studentenprotest findet eben nicht dank des Westens, sondern trotz des Westens statt. Der unterstützt wegen der Stabilität auf dem Westbalkan im Großen und Ganzen den serbischen Autokraten und ist bereit, auf demokratische Standards beim EU-Beitrittskandidaten Serbien zu verzichten.

Die Europäische Union ist derzeit aber gar kein Thema bei den Studentenprotesten. Kein Wunder, denn die EU hat die bürgerlichen, proeuropäischen Kräfte in Serbien vor langer Zeit in Stich gelassen.

„Die EU? Klar, schön wär’s, wenn Serbien Mitglied wäre. Aber in unserem Kampf für ein normales Land steht die mit ihrem Nichtstun auf der anderen Seite der Front, bei Vučić und seinen Komplizen“, sagt zum Beispiel im Demogetümmel die 20-jährige Jurastudentin Sofija. Und auch mit den oppositionellen politischen Parteien in Serbien wollten die Studierenden bis jetzt dezidiert nichts zu tun haben. Diese Parteien sind marginalisiert, dauernden Attacken des Regimes ausgesetzt, haben keine Autorität in der Bevölkerung. Sie haben seit Vučić 2012 an die Macht kam, nichts Demokratieförderndes auf die Reihe bekommen.

Abgeordnete der SNS haben derzeit die absolute Mehrheit im Parlament, auch ohne Koalitionspartner, und könnten eine neue Regierung wählen. Wenn sie das bis zum 18. April nicht tun, gibt es Anfang Juni Neuwahlen. Auch darüber wird der Staatspräsident und informeller Anführer der SNS entscheiden.

Die sonst verzankten Oppositionsparteien sind sich in einer Sache einig: Wahlen unter den jetzigen Bedingungen wollen sie boykottieren. Sie fordern eine Übergangsregierung, die die Voraussetzungen für faire und freie Wahlen schaffen soll.

Wahlen wären derzeit aus Sicht der Opposition sinnlos

Denn mit aktuell gleichgeschalteten Medien, mit vom Staatspräsidenten kontrollierten Wahlkommissionen, einer gehorsamen Staatsanwaltschaft und mit maßlosem Missbrauch staatlicher Ressourcen zu Zwecken der SNS, haben Wahlen aus Sicht der Opposition jeglichen Sinn verloren.

Um ohnmächtig sich dennoch sichtbar zu machen, haben jüngst einige oppositionelle Abgeordnete mit Rauchbomben Chaos bei einer Parlamentssitzung ausgelöst. Seitdem boykottieren die Oppositionsparteien das Parlament. Die jüngste Meinungsumfrage der Organisation NSPM zeigt jetzt, dass zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt auf Landesebene die Opposition besser dasteht als das Konglomerat regierender Parteien um Präsident Vučić – mit 41 zu 33 Prozent.

Doch nur die Studierendenbewegung hat wohl die Kraft, das serbische Regime ernsthaft unter Druck zu setzen. Die jungen Menschen marschierten in den vergangenen Monaten zu Fuß durch ganz Serbien, brachten die Bevölkerung buchstäblich auf die Beine. Wo immer sie auftauchten, lösten sie heftige Emotionen bei den Menschen aus.

Man empfang sie oft wie Befreier, mit Tränen in den Augen. Ihre lachenden, strahlenden Gesichter stehen im krassen Widerspruch zu den stets finsteren Mienen von Vučić und seinen Mannen mit ihrer ungezügelten Arroganz.

Auf der Hand liegt es allerdings, dass die staatliche Repression in Serbien derzeit noch stärker werden wird. Vučić könnte sich ein Beispiel an seinem weißrussischen Freund Alexander Lukaschenko ein Beispiel nehmen. Die Studierenden scheint das nicht zu beeindrucken. Weitere Protestaktionen sind angesagt.

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