Studie zu Missbrauch im Bistum Essen: Unbequeme Worte Betroffener
Bei der Vorstellung einer Studie zu sexualisierter Gewalt im Ruhrbistum sprechen endlich auch Betroffene. Die Diözese will Prävention priorisieren.
Das ist dem Bistum Essen am Dienstag besser gelungen – wodurch auf der Pressekonferenz zur Vorstellung einer neuen Studie die Folgen des sexuellen Missbrauchs in aller Deutlichkeit zur Sprache kamen: „Acht Wochen Traumaklinik in Essen. Spießroutenlauf durch Institutionen. Seit 2019 bin ich krankgeschrieben, denn das Trauma macht arbeitsunfähig. Mit 25 wollte ich mir das Leben nehmen“, berichtete Stephan Bertram.
Der 59-jährige Elektriker ist Betroffener von sexualisierter Gewalt in der Diözese. Er gehört zu den Kindern, die von dem damaligen Priester Peter H. Ende der 1970er Jahre in Bottrop mehrmals sexuell missbraucht worden sind. Der beschuldigte Priester wurde 1980 aus dem Bistum Essen nach München versetzt und konnte dadurch zahlreichen weiteren Kindern und Jugendlichen sexualisierte Gewalt antun. Ein Dienstverbot bekam H. erst 2010.
Aus dem Machtmissbrauch lernen
Die Studie des Bistums Essen ist keine weitere juristische Untersuchung, die vor allem die Schuld und die Schuldigen ermitteln soll. Davon gab es in den letzten Jahren schon einige. Trotzdem mussten die Zahlen der Betroffenen und Täter nach den Ergebnissen der aktuellen Erhebung wie erwartet nach oben korrigiert werden: 2020 gab das Bistum 99 Opfer von sexuellem Missbrauch an und 63 beschuldigte Diözesanpriester. Die Studienautor*innen habe in den untersuchten Unterlagen Hinweise auf 190 Beschuldigte seit der Gründung des Bistums vor 65 Jahren gefunden und es hätten sich 226 Betroffene gemeldet.
Das sei auch passiert, weil es im Bistum „massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung gegeben habe“, räumte der amtierende Bischof Franz-Josef Overbeck am Dienstag in Essen ein. Zu oft wurden Institution und Täter geschützt, nicht die Betroffenen. Das solle nie wieder geschehen. Lehren und Empfehlungen für die Präventionsarbeit wolle das Bistum auch aus der neuen Studie ziehen.
Das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hatte seit März 2020 an einer sozialwissenschaftlichen Studie „zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute“ gearbeitet. Diese sollte vor allem den systematischen Machtmissbrauch untersuchen – auch, um Taten in Zukunft verhindern zu können.
Die Studienautor*innen haben drei Ebenen des kirchlichen Machtmissbrauchs genauer analysiert. Auf der individuellen Ebene nahmen sie konkrete Tatverläufe und Täterkarrieren in den Blick. Auf der organisationalen Ebene die Dynamiken in Pfarrgemeinden und auf der normativen und diskursiven Ebene das Priesteramt und die klerikale Macht.
Priesterseminare: ein „eigenwilliges Sozialmilieu“
Auf dem dritten Gebiet haben sich die Sozialwissenschaftler*innen auch angeschaut, wie in der Priesterausbildung mit dem Thema Sexualität umgegangen wurde und wird, und wie über das Zölibat gesprochen wird. Priesterseminare seien ein „sehr eigenwilliges Sozialmilieu“, so Malte Täubrich vom Dissens-Institut für Bildung und Forschung.
Dort würden sich Männerbündnisse bilden, die auch zur Vertuschung beitrugen. Außerdem entstehe durch die kleinen Seminargrößen die Gefahr, dass sich angehende Priester als „elitärer Kreis weniger Auserwählter in sich selbst verschließen“ und die Priester „hervorgehobene Einzelgänger“ werden, heißt es in der Studie.
Die besondere Stellung des Priesters innerhalb der Gemeinde wird in der Studie kritisch hinterfragt. Häufig sei es bei Bekanntwerden von sexualisierter Gewalt in Gemeinden zu einer Solidarisierung mit dem Pfarrer gekommen und es habe eine Schuldumkehr stattgefunden.
Betroffene angegriffen, weil sie Frieden stören
Die Betroffenen wurden angegriffen, weil sie „den Frieden in der Gemeinde störten“, so Helga Dill vom IPP. Der Priester, der für die Gemeinde schon so viel getan habe, wurde geschützt und ihm wurde geglaubt. Die soziale Spaltungen sei auch gestützt worden, da die Bistumsverantwortlichen zu wenig Informationen in die betroffenen Gemeinden getragen hätten.
Diese Dynamiken konnten die Sozialwissenschaftler*innen in qualitativen Interviews mit insgesamt 86 Personen ermitteln. Bei der Vorstellung am Dienstag in Essen kam auch der Sprecher des Betroffenenbeirates der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, zu Wort. Er richtete einen starken Appell an die Verantwortlichen, dass angemessene Entschädigungszahlungen an Betroffene ein wichtiger Schritt zur Überwindung des Missbrauchskandals seien. Dem pflichtete Stephan Bertram bei: „Ich möchte als Opfer nicht hören, dass unser Bistum arm ist und Immobilien verkauft werden müssen, um Anerkennungen leisten zu können.“
Das Bistum Essen wurde 1958 gegründet und ist eins der jüngsten und flächenmäßig das kleinste der Bistümer in Deutschland. Der amtierende Bischof Franz-Josef Overbeck hat sich mehrfach positiv zum Vorhaben des Synodalen Wegs geäußert und ist ein Fürsprecher für die Erneuerung der katholischen Kirche. Im Ruhrbistum wurden schon 2012 und damit vergleichsweise früh alle Personalakten von einer Anwaltskanzlei auf Missbrauchsverdacht geprüft. (mit dpa)
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