Streit um Linnemann-Äußerungen: Alle Vierjährigen testen
Eine Kita- und Vorschulpflicht für Kinder mit unzureichenden Deutschkenntnissen ist dringend nötig, sagt der Grünen-Politiker Cem Özdemir.
O bwohl im schwäbischen Bad Urach geboren, kam ich in der Grundschule in Deutsch nie über eine Fünf hinaus und landete zunächst in der Hauptschule. Die Schulen waren auf berufstätige Eltern, zumal aus bildungsfernen Migrantenfamilien, nicht eingerichtet. Mit Mittagessen im Grillimbiss, Fußball auf der Straße und den richtigen Freunden und Lehrerinnen habe ich dann doch noch die Realschule und später über den zweiten Bildungsweg Fachabitur und Studium geschafft.
In den sozialen Netzwerken konnten wir viele solcher Erfolgsgeschichten lesen in den letzten Tagen. Also alles gut? Leider nicht. Der CDU-Politiker Carsten Linnemann hat sich zwar im Ton vergriffen, aber inhaltlich ist die Frage nach Deutschkenntnissen bei der Einschulung berechtigt. Weder sollten wir uns darauf verlassen, dass es irgendwie schon gutgeht, noch ist dies der Regelfall. Viel zu viele Kinder in der ersten Klasse verfügen nicht über ausreichende Deutschkenntnisse. Der vorgesehene Unterricht kann nicht stattfinden.
Wer kann, deutsch oder nichtdeutsch, nimmt seine Kinder häufig raus aus den Schulen mit hohem Migrantenanteil und bringt sie auf Schulen in anderen Stadtteilen oder gleich in die Privatschule. Diese Realität auszublenden oder den Eltern daraus einen Vorwurf zu machen, verkennt, dass Eltern meist nur eines im Blick haben: den schulischen Erfolg ihrer eigenen Kinder, egal welche Strukturreform die Politik gerade diskutiert. Hier weitere Ängste zu schüren, wie Linnemann es getan hat, hilft aber auch nicht weiter.
Besser wäre eine verbindliche Sprachstandsmessung für alle Kinder zwei Jahre vor der Einschulung. Wenn ein Kind nicht ausreichend Deutsch spricht, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, muss es eine Kita und danach eine Vorschule besuchen. Kinder lernen am besten und schnellsten von anderen Kindern. Kooperieren Eltern nicht, muss es spürbare Konsequenzen geben, denn alle Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das Freistellen von Gebühren auch für gut verdienende Familien ist dagegen unsinnig, denn dann fehlen die Mittel anderswo.
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