Streiks in der Pandemie: Ein öffentlicher Dienst
Streiks sind in der Pandemie unmoralisch, schreiben viele Medien. Arbeitgeber freut das. Sie bauen darauf, dass Corona Gewerkschaften schwächt.
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Die veröffentlichte Meinung scheint sich weitgehend einig zu sein: „Warnstreiks sind in der Pandemie fehl am Platz“, urteilt die Süddeutsche. Ein Arbeitskampf mitten in der Pandemie sei „unverantwortlich“, schimpft die Rheinische Post. „Ein Streik ohne Augenmaß“ sei das, wettert der Reutlinger General-Anzeiger.
Über ein „Muskelspiel zur Unzeit“ empören sich die Westfälischen Nachrichten. Auch das Schwäbische Tagblatt findet, es sei gerade „die falsche Zeit für Warnstreiks“. Sie seien derzeit sogar „so überflüssig wie der berühmte Kropf“, echauffiert sich die Augsburger Allgemeine.
Wenn sonst nicht mehr viel funktioniert, dann wenigstens noch die Reflexe. Zu den Ritualen eines Tarifstreits gehören stets auch aufgebrachte Kampfkommentator:innen in den Redaktionsstuben der Republik, die über die vermeintliche Unbotmäßigkeit gewerkschaftlichen Handelns lamentieren. Arbeitskampfmaßnahmen, die wehtun? Da hört der Spaß auf!
Dabei verursachen die am Dienstag, 22. September, begonnenen Warnstreiks im Rahmen der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen vor allem Phantomschmerzen. Höchstens einzelne Nadelstiche sind spürbar.
Die Streikaktionen sind weder flächendeckend, noch umfassen sie an jedem betroffenen Ort alle Bereiche des öffentlichen Dienstes. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und der Deutsche Beamtenbund zielen nicht darauf ab, das ganze Land lahmzulegen.
Nur ein paar Warnstreiks
Das ändert nichts daran, dass es ärgerlich für Eltern ist, wenn etwa in Gütersloh die Kita ihres Kindes bestreikt wird – und sei es auch nur für einen Tag. Dass sie sich vor dem Hintergrund der monatelangen coronabedingten Kita-Schließungen fragen, ob das Mittel der Arbeitsniederlegung in der aktuellen Situation angemessen ist, ist nachvollziehbar. Doch den Gewerkschaften bleibt nicht viel anderes übrig.
Von außen betrachtet agieren die Tarifparteien, als würden sie die Außergewöhnlichkeit der Coronazeit einfach ignorieren. Der bisherige Verlauf ihrer Verhandlungen scheint dem üblichen Ritual zu folgen: Zwei Runden wird mit Geplänkel verbracht, erst für die dritte Runde Mitte Oktober kündigen die Arbeitgeber ein eigenes Angebot an – und bis dahin gibt es halt ein paar Warnstreiks. Aber es ist trotzdem nicht wie immer: Verdi hatte vorgeschlagen, die Tarifverhandlungen auf das kommende Jahr zu verschieben.
Das hat die Arbeitgeberseite abgelehnt. Der Bund wäre zwar einverstanden gewesen, doch die Städte und Gemeinden stellten sich quer. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um möglichst billig abzuschließen – und das auch noch mit langer Wirkung, weswegen sie eine Tarifvertragslaufzeit von drei Jahren oder noch länger fordern.
Die kommunalen Arbeitgeber bauen darauf, dass in der gegenwärtigen Situation die Kampffähigkeit der Gewerkschaften eingeschränkt ist. Auch denen selbst ist bewusst, dass angesichts der großen Beeinträchtigungen, mit denen die Bürger:innen ohnehin seit dem Frühjahr zu kämpfen haben, ein harter Tarifkonflikt nicht führbar ist.
Wo bleibt die Solidarität?
Nicht nur in der Gesamtbevölkerung, auch in der eigenen Mitgliedschaft herrscht dafür zu große Ermüdung. Ebenso sind sich die Arbeitnehmervertreter:innen im Klaren darüber, dass der Verteilungsspielraum momentan kein großer ist.
Sie wissen daher nur zu gut, dass der kommende Tarifabschluss aus ihrer Sicht bescheiden ausfallen wird. Damit er jedoch nicht katastrophal wird, müssen die Gewerkschaften jetzt demonstrieren, dass sie trotz Corona nicht völlig wehrlos geworden sind.
Ach, wie schön war doch der Applaus von den Balkonen für die „Coronaheld:innen“! Lang ist’s her. Trotz aller Sonntagsreden werden die vielen Pflegekräfte, Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen, Erzieher:innen oder auch Müllwerker:innen, die plötzlich als „systemrelevant“ erkannt worden sind, auch nach dieser Tarifrunde nicht so viel verdienen, wie sie verdient haben.
Aber wer ihnen im Frühjahr und Sommer Beifall gespendet hat, der oder die sollte sich jetzt wenigstens nicht über ein paar Warnstreiks aufregen.
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