Steigende Armut in Hamburg: Tafel sucht helfende Hände
Weil die Nachfrage so hoch ist, plant die Hamburger Tafel etliche neue Standorte. Lebensmittelspenden sind schwieriger zu bekommen, sagt ihr Sprecher.
In Hamburg sei die Tafel anders organisiert als die Tafeln in anderen Städten, erklärt der Sprecher. „Wir besorgen die Lebensmittel und liefern sie an Ausgabestellen, die die Verteilung übernehmen.“
Das könnten Kirchengemeinden oder soziale Projekte sein. So hat erst im Februar das Sozialkaufhaus Möbelkiste in Hamburg-Dehnhaide eine Ausgabestelle eröffnet und eine weitere in der Gemeinde St. Gabriel in Barmbek-Nord.
„Wir haben fast überall Wartelisten“, sagt Prokosch. Die Nachfrage sei so gestiegen, seit die Lebensmittelpreise so viel höher geworden sind und man für ein Brötchen schon einen Euro zahlen muss. „Wir sehen heute an den Ausgabestellen vermehrt Kunden, die wir dort früher nicht antrafen“, sagt er. Dazu zählten alleinerziehende Mütter mit zwei Kindern oder Rentner mit wenig Geld.
Bedarf gleich in zehn Postleitzahlgebieten
Um sich bei der Tafel mit Lebensmitteln zu versorgen, muss man seine Bedürftigkeit nachweisen, etwa mit einem Bescheid über die Rente, das Wohngeld oder Bürgergeld. „So stellen wir sicher, dass wir nur Leuten helfen, die anders nicht in der Lage sind, sich zu versorgen“, sagt der Sprecher.
Die gesuchten Räume müsste man mit einem Transporter der Tafel anfahren können. Und sie müssten groß genug sein, damit man Tische aufstellen und eine Gruppe von Menschen durchführen kann. Meist seien bei der wöchentlichen Ausgabe die Waren auf Tischen aufgestellt, an denen die Kunden mit ihrer Tasche vorbeigehen. Manche Ausgabestellen packten auch fertige Tüten, aber das könne dazu führen, dass die Menschen etwas bekommen, was sie nicht brauchen.
Über die Suche neuer Standorte hatte vor zwei Wochen das Hamburger Abendblatt zuerst berichtet. Nach dem Artikel hätten sich neben einer Gemeinde auch Makler gemeldet, die Räume zur Miete anbieten. Letzteres würde aber nicht helfen, sagt Prokosch. „Wir brauchen helfende Hände, jemand der es macht.“
Konkret besteht der Bedarf in den Postleitzahlgebieten 22111, 22117 und 22119 in den Stadtteilen Billstedt und Horn, also im ärmeren Hamburger Osten. Man habe sich bei der Auswahl an Einkommensdaten orientiert und an den Rückmeldungen bestehender Ausgabestellen, sagt Prokosch. „Wenn Bedürftige einkaufen, die ganz woanders wohnen, wissen wir, dort sind sie unversorgt.“ Bedarf gibt es demnach auch in den Postgebieten 20535 und 20537 in Borgfelde, Hamm und Hammerbrook sowie in den Gebieten 22525 in Stellingen und Lurup, 22605 und 22607 in Othmarschen, Bahrenfeld, Groß Flottbek, 22609 in Osdorf und 22763 in Ottensen.
Armuts-Gipfel im Oktober geplant
Insgesamt versorge die Tafel mit über 40.000 Menschen deutlich mehr als vor zehn Jahren, so der Sprecher. Da sei es ein Problem, dass zugleich das Spendenaufkommen schwindet. „Heute verwenden Supermärkte mehr und mehr die Waren selber und verkaufen sie in ‚To good to go‘-Tüten à fünf Euro, die sie früher an uns gegeben hätten.“ Auch seien andere Großspender weggefallen, weshalb eine Kollegin in der Zentrale nur mit der Akquise neuer Spender beschäftigt sei.
Auch würde noch viel zu viel Nahrung wegen kleinster Mängel vernichtet. „In Ländern wie Frankreich gibt es Vorgaben, dass Lebensmittelüberschüsse nicht weggeworfen werden dürfen“, sagt Prokosch. „Hier gilt das nicht. Mir ist sogar ein Fall bekannt, wo die bisherigen Lebensmittelspenden jetzt stattdessen an Tiere verfüttert werden.“
Der Andrang an Tafeln ist auch für den Sozialverband SoVD ein Thema, der neben einer Tafel in Osdorf ein Sozialkaufhaus betreibt. Auffällig sei, dass dort immer mehr ältere Menschen und Frauen mit Kindern anstünden. „Für immer mehr reicht das Budget nicht aus, um die Familie satt zu bekommen“, sagt der Landesvorsitzende Klaus Wicher.
Doch Tafeln seien nur Notlösungen, sagt Wicher. Der Senat dürfe die Armut nicht ignorieren. So könnte Hamburg die Grundsicherung für alte Menschen aus Landesmitteln erhöhen und bedürftigen Familien einen Zuschuss zahlen. Um hier Druck zu machen, will SoVD am 15. Oktober mit dem DGB, dem Mieterverein und dem Paritätischen Verband einen Armutsgipfel veranstalten.
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