Statusverlust des „Westens“: Abschied von der Dominanz
Über die Möglichkeit, auf eine andere Weise weiß zu sein. Oder: Warum wir das Weißsein nicht den White Supremacists überlassen dürfen.
L ängere Zeit habe ich nach einem Begriff gesucht, um den großen historischen Umbruch zu benennen, die Turbulenzen, in denen wir gegenwärtig leben. Schließlich ist daraus der Titel meines jüngsten Buches geworden: Der lange Abschied von der weißen Dominanz. In den wenigen Worten liegt die Ahnung einer Utopie: Dass nämlich jene, die in den vergangenen 500 Jahren die Ordnung der Welt bestimmt haben, aus ihrer Position nicht allein vertrieben werden – was ohnehin geschieht. Sondern dass es ein verändertes Weißsein geben könnte und einen tätigen Abschied von der weißen Dominanz.
„Dezentrierung“ nennen Psychologen die Ablösung von jenem Verankerungspunkt, den ein Mensch unbewusst für die Erdachse hält, obwohl es sich doch nur um den eigenen emotionalen und geistigen Ankerplatz handelt. Dezentrierung verunsichert, das gilt für die Angehörigen aller Kulturen, aber die Verunsicherung des weißen Blicks auf die Welt ist besonders erschütternd. Und darum besonders gefährlich.
Rechtspopulismus und autoritäre Revolte in Europa lassen sich als große Verweigerung jeglicher Dezentrierung verstehen, als starrköpfiger Versuch, den eigenen Stammespfahl gerade jetzt besonders tief in einen Boden zu rammen, der dafür längst zu porös ist. Denn der Umbruch, den wir gegenwärtig mehr verspüren als verstehen, ist ja ein doppelter. Im Inneren, in der Einwanderungsgesellschaft, entscheiden die Alteingesessenen nicht mehr alleine, worüber das Land spricht; sie müssen zurechtkommen mit einer neuen Elite migrantischer Provenienz – und die wirkt wiederum wie ein Echo auf äußere, auf weltweite Machtverschiebungen.
Nichts bleibt, wie es ist. Vom Niedergang des politischen Westens, derb illustriert durch die Gestalten Trump und Johnson, über den Aufstieg Chinas, die Rolle Afrikas als Jungbrunnen der Welt von morgen bis hin zur massiven Infragestellung unserer Lebensweise durch den Klimawandel – diese so unterschiedlichen Faktoren weisen sämtlich in die gleiche Richtung: Europäer und Euroamerikaner, die Altvorderen weißer Weltherrschaft, verlieren allseitig an Status.
Wahnhafte Verteidigung des nicht mehr Verteidigbaren
Und dies spüren natürlich auch die sozialen Underdogs in diesem System. Toni Morrison schrieb in einem ihrer letzten Essays, es sei „the horror of lost status“, der die Figur des sich aufbäumenden weißen Mannes in den Staaten besser kennzeichne als seine oft zitierte Wut.
Wie die White Supremacists aller Länder auf diesen Umbruch reagieren, ist bekannt. Ihre hochaggressive und wahnhafte Verteidigung des nicht mehr Verteidigbaren zielt tendenziell auf Faschismus. Bisher stellen sich ihnen vor allem jene entgegen, die als Nichtweiße, als People of Color, als religiöse oder ethnische Minderheiten am meisten zu befürchten haben. Das ist beschämend, und es ist zu wenig.
Für die Bekämpfung des neuen weißen Faschismus müssen sich vor allem all jene verantwortlich fühlen, die ebenfalls mit einer historisch privilegierten Hautfarbe aufgewachsen sind. Um es platt zu sagen: Wir dürfen das Weißsein nicht den White Supremacists überlassen. Wir können uns da nicht wegstehlen. Und wir müssen vom Weißsein sprechen, um es irgendwann überwinden zu können.
Deshalb also wünsche ich mir ein tätiges Abschiednehmen von der Dominanz. Nicht dass wir bereits wüssten, wie das geht. Es handelt sich um einen Vorgang, der über alles konventionell Politische weit hinausgeht. Es handelt sich um nichts weniger als die Suche nach Koordinaten, wie wir uns geistig und seelisch neu verorten können. Diese altmodische Wendung benutze ich bewusst, um sie dem forschen „Sich-Positionieren“ entgegenzusetzen, wie es heute en vogue ist. Für das eigene Selbstverständnis einen neuen Ort in einer neuen Welt zu finden, das ist ein tastender Prozess. Tun wir nicht so, als würden wir ihn bereits kennen, diesen Ort.
Eine leicht ranzig gewordene Selbstgefälligkeit
Das Instrumentarium der europäischen Sozial- und Kulturwissenschaften machte die Geschichte Europas zum Modell universaler Entwicklung: Mit vermeintlich neutralen Begriffen wie Nation, Revolution oder Fortschritt beanspruchten europäische Erfahrungen Weltgeltung und zwangen die historischen Verläufe andernorts in ihr Deutungsmuster. Wir waren die Zentralperspektive. Was tritt an deren Stelle?
Wenn wir uns tatsächlich berühren lassen von den großen Veränderungen im Angesicht der Welt und der Menschheit, dann senkt sich Zweifel in alles Sprechen. Worte haben ihre Tauglichkeit verloren, Begriffe gleiten uns wie leere Hüllen aus der Hand. Was muss neu definiert werden? Was in Gänze verworfen? Unsere Vorstellungen etwa von „Geschichte“ und „Entwicklung“ sind ideologische Vereinbarungen, die im hiesigen Teil der Welt in massenhafter Komplizität für gültig erachtet wurden. Es handelt sich um das unausgesprochen Gemeinsame, um das gefühlte Wo-Sein in der Welt.
Die alten Ideologiefabriken rattern weiter vor sich hin, weil sie nicht anders können, doch ihr Produkt wird jeden Tag fahler. Was bleibt, ist ein vages Selbstbild, eine leicht ranzig gewordene Selbstgefälligkeit, die nicht davon lassen will, dass Freiheit und Menschenrecht, Kunst, Intellektualität und Geschmack bei uns ihre Heimstatt haben.
Die globale Macht des westlichen Narrativs ist zwar gebrochen, aber wir wissen noch nicht, wie eine multipolare Welt anders von sich erzählen kann. Wie können polyzentrische Erzählungen einander verstehen? Es wird jetzt wieder vermehrt vom globalen Norden und globalen Süden gesprochen; doch das Künftige liegt, noch nicht sichtbar, hinter diesen Groß-Vokabeln.
Um die Erzählungen der anderen zu verstehen, sind wir Bewohner der Ex-Hegemonial-Sphäre vermutlich am schlechtesten gerüstet. So wie Menschen, die stets in einem Überfluss an elektrischer Beleuchtung lebten, die Ersten sind, die im Dämmerlicht nichts mehr erkennen können.
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