Staatskrise in Frankreich: Das unausweichliche Ende des „Macronismus“
In einem letzten Kraftakt sucht Premier Lecornu im Auftrag von Präsident Macron einen Weg aus der Krise. Der Macronismus ist in jedem Fall am Ende.
Die Videosequenz verdeutlicht, wie isoliert Macron heute ist. Von allen Seiten wird er verantwortlich gemacht für die vertrackte politische Situation. Selbst bisherige Vertraute kehren Macron den Rücken. Ebenfalls am Montag erklärte sein früherer Premierminister Gabriel Attal vor der Kamera, er verstehe das Vorgehen des Präsidenten schlicht nicht mehr. Zuvor war er schon öffentlich auf Distanz zu ihm gegangen, als Macron im Juni nach einer Niederlage seiner Kandidaten bei den Europawahlen kurzerhand die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angeordnet hatte. Die Macronisten verloren in der Folge ihre absolute Mehrheit.
Noch weiter ging ein anderer Ex-Premierminister, Édouard Philippe. Er forderte den Staatschef auf, erst dafür zu sorgen, dass der Staatshaushalt für 2026 kommt. Danach solle er zurücktreten und in vorzeitigen Präsidentschaftswahlen den Platz räumen.
„Dégage!“
Bei den Demonstrationen in den letzten Monaten und Wochen wird mit dem an den Arabischen Frühling erinnernden Ruf „Dégage!“ („Hau ab!“) Macrons Abgang gefordert. Früher spotteten die Demonstrierenden bloß über den selbstherrlichen „Monarchen Emmanuel I.“, jetzt wird er von ihnen als Problem und Hindernis beschimpft.
In den Umfragen hat Macron ein Rekordtief erreicht: Auf die Frage des Instituts Odoxa, ob sie ihn für einen guten Präsidenten halten, antworten 22 Prozent mit Ja, 78 Prozent mit Nein. Ein Grund zum Rücktritt ist das für ihn nicht: Schon vor Wochen hatte Macron gesagt, er sei vom Volk für fünf Jahre wiedergewählt worden und werde bis zum Ende seiner regulären Amtszeit im Frühling 2027 im Amt bleiben, „was auch immer geschehe“.
Von der Regierungs- zur Systemkrise
Wie konnte es kommen, dass ein Staat wie Frankreich mit einem seit Jahrzehnten funktionierenden System und einer selbstbewussten Staatsführung mit weitgehenden Befugnissen ins politische Chaos schlitterte? Das fragt man sich, erschüttert vom tristen Spektakel der französischen Politik, vor allem im Ausland. In Frankreich selbst ist die Überraschung weit weniger groß. Denn seit gut einem Jahr, als bei den letzten Wahlen kein politisches Lager eine regierungsfähige Mehrheit und damit einen legitimen Anspruch auf die Regierungsmacht bekam, gerät die Politik zunehmend aus den Fugen.
Drei Premierminister (Michel Barnier, François Bayrou, Sébastien Lecornu) gaben sich die Klinke in die Hand, ohne auch nur annähernd ihre Autorität festigen und die drängenden Probleme des Landes angehen zu können. Ihre Regierungen waren der ständigen Erpressung der Oppositionsfraktionen ausgesetzt, die bei jeder Gelegenheit mit einem Misstrauensantrag drohten oder ihn wirklich einsetzten, um den Premier mit vereinten Stimmen von ganz links und ganz rechts zu Fall zu bringen.
Mit polemischen Nadelstichen und Frontalangriffen attackierten die beiden Extreme der französischen Politik, die Rechtspopulisten des Rassemblement National (RN, früher Front National) und die Gegenseite La France Insoumise (LFI) des selbsternannten linken Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon eine zusehends geschwächte Regierung. Der „gemeinsame Sockel“, wie sich die fragile Allianz zwischen Macronisten und den konservativen Républicains nannte, stand auf tönernen Füßen. Den Angriffen von links und rechts hielt sie nicht stand.
Drei Lager gegen die Fünfte Republik
Für diese politische Konstellation, bei der sich drei ähnlich starke Lager gegenseitig blockieren, ist die Fünfte Republik nicht gemacht. Als in einer vergleichbaren Krise 1958 Charles de Gaulle als Retter der Nation an die Macht zurückgerufen wurde, ließ er sich eine Verfassung nach Maß schneidern, um seine Position gegenüber den von ihm verhassten politischen Parteien zu festigen. Das Mehrheitswahlrecht sollte der Staatsführung eine stimmenstarke und folgsame parlamentarische Mehrheit geben. Der vom Volk direkt gewählte Staatspräsident war dank ausgedehnter Machtbefugnisse über alle Anfechtungen seiner Legitimität erhaben. Das war auch der Fall – bis zur Wahl von Präsident Macron.
Sein „Macronismus“ ist ein künstliches Gebilde ohne ideologische Grundlage. Macrons ursprüngliches Wahlprogramm fand 2017 noch Anklang, weil er statt des üblichen Links-Rechts-Hickhacks eine ausgewogene Politik vorschlug, „sowohl links wie rechts und in der Mitte“. Viele von den etablierten Parteien enttäuschte Bürger konnten sich – faute de mieux – mit dem Slogan identifizieren. Das nahm Macron als Zustimmung zu einem zunehmend autoritären Regierungsstil.
Kippt die Rentenreform?
Bei den wachsenden innenpolitischen Konflikten rutschte Macron immer weiter nach rechts. An seiner umstrittenen Rentenreform, dem wahrscheinlich wichtigsten politischen Projekt seiner Amtszeit, entzünden sich seit 2023 Proteste eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses aus Gewerkschaften, Vereinen, Verbänden und Studenten.
Mit der Ernennung Lecornus im September versuchte Macron weiter Zeit zu gewinnen. Konzessionen an einen Teil der Oppositionsparteien sollen nun einen Weg für den Haushalt vor dem Ende des Jahres freimachen. So erwog Lecornu, der Delegationen der Fraktionen zur letzten Unterredungen einlud und sich bereits am Mittwochmittag vorsichtig optimistisch zeigte, angeblich eine zeitweilige „Suspendierung“ der Rentenreform, um Sozialisten und Grüne zum Einlenken zu bewegen.
In einem abendlichen Fernsehauftritt bekräftigte er das Recht des Präsidenten, binnen 48 Stunden einen neuen Premier zu ernennen. Die Möglichkeit einer Auflösung der Nationalversammlung mit anschließenden Neuwahlen hingegen schätzte er als zunehmend unwahrscheinlich ein: „Es gibt eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, die eine Auflösung ablehnt“, sagte Lecornu dem Sender France 2. Auch Macron hatte vorzeitige Wahlen mehrfach ausgeschlossen, und seinen eigenen Abgang erst recht. Aber bleibt ihm am Ende vielleicht gar nichts anderes übrig?
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