Soziologe über die neue Mittelklasse: „Der Unterschied liegt in der Kultur“
Andreas Reckwitz erforscht die Gegenwartsgesellschaft. Er analysiert, wieso es zu Konflikten zwischen den Klassen kommt.
taz: Herr Reckwitz, wie sieht Ihre Küche aus?
Andreas Reckwitz: Warum fragen Sie?
Sie schreiben von offenen Küchen als neuem Trend in der neuen Mittelschicht. Zu denen wir ja alle gehören. Man erkennt sich in ihren Beschreibungen wieder – meine Wohnungswahl in Nordneukölln hatte etwas mit der offenen Küche zu tun.
Ich habe keine offene Küche. Ich mag es, wenn die Küche vom Wohnzimmer halb abgetrennt ist. Wenn man in meine Wohnung rein kommt, tritt man nicht sofort in die Einbauküche hinein. Insofern bin ich untypisch.
Erkennen Sie sich an anderen Punkten in dem Buch, an denen Sie die neuen Mittelschichten beschreiben?
Natürlich. Viele der Leser und auch ich als Autor sind natürlich in die neue Mittelklasse einzuordnen. Aber als Soziologe hat man ja einen fremden Blick auf das Eigene. Da erkennt man Strukturen hinter den vertrauten Phänomenen des Alltags.
Aber das eigene Milieu ist ja das kulturell dominante Milieu, oder?
48 Jahre, ist Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Sein Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ wurde im November 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.
Die neue Mittelklasse prägt die Konsumpräferenzen, teilweise die medialen Darstellungen, sie hat auch in der Politik einen starken Einfluss auf die Parteien und Themen. Durch ihre hohen Bildungsabschlüsse hat sie eine starke Stellung in allen Bereichen. Sie ist so etwas wie das Schlüsselmilieu dieser spätmodernen Gesellschaft. Dennoch darf man sich eben nicht nur ein Milieu anschauen, sondern muss eine Kartografie der Milieus oder der Klassen entwerfen, die die Gegenwartsgesellschaft ausmachen. Daran fehlt es, wir haben in der soziologischen Analyse keine Klassenmodelle mehr. Wir haben stattdessen lange über eine Pluralisierung der Lebensstile geredet: viele bunte Milieus, die nebeneinander existieren. Oft ist auch die Rede von der Krise der Mittelschicht, man weiß aber nicht, was an deren Stelle getreten ist. Deshalb ist eine Kartografie der Gegenwartsgesellschaft wichtig. Ich würde hier ganz grundsätzlich zwischen neuer Mittelklasse, alter Mittelklasse und neuer Unterklasse als den drei großen Formationen unterscheiden, plus der winzigen Oberklasse.
Was unterscheidet die neue Mittelklasse von der der 70er Jahre?
Helmut Schelsky hat in den 50er Jahren richtigerweise von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gesprochen. In der Nachkriegszeit gab es eine relativ egalitäre, kulturell homogene Gesellschaft. Das ist seit den 70er Jahren langsam aufgebrochen. Deshalb macht es keinen Sinn mehr, von der Mittelschicht als einheitlichem Block zu reden. Die neue Mittelklasse hat sich aus der alten herausentwickelt, sie hat teilweise eine neue Struktur. Drei Faktoren sind dafür verantwortlich: Erstens die Postindustrialisierung, also die Entwicklung weg von der klassischen Industriegesellschaft hin zur Wissensökonomie – ein breiter, expandierender Zweig von Berufen, in denen Akademiker beschäftigt sind. Damit zusammenhängend die Bildungsexpansion. Die neue Mittelklasse ist mit hohem kulturellem Kapital ausgestattet, also in der Regel mit Hochschulabschlüssen. Drittens der Wertewandel weg von reinen Pflichtwerten zu Werten der Selbstentfaltung und Individualität. Dieser Wertewandel wird entscheidend von der neuen Mittelklasse getragen.
Die Einflüsse der neuen Mittelklasse gehen bis weit in die CSU, aber in der Mitte thronen die Grünen. Richtig?
Wenn man das parteipolitisch und auf Deutschland beziehen will: ja. Die neue Mittelklasse bedeutet zunächst einen lebensweltlichen Wandel, auf dem dann die politischen Einstellungen draufsitzen. Ihr Lebensgefühl ist ein anderes als das der alten Mittelklasse. Es ist kosmopolitischer, internationaler, liberaler. Damit gibt es eine neue politische Konfliktlinie, welche die klassische Links-rechts-Konfliktlinie durchschneidet. Die Kosmopoliten sind für Öffnung in vielerlei Hinsicht: der Identitäten, auch der Märkte, gegen zu starke Ordnung, gegen zu starke Regulierung. Liberalisierung im weitesten Sinne des Wortes eigentlich. Die Grünen sind in der Tat am ehesten die Partei der neuen Mittelklasse. Aber auch die SPD hat Wähler dort, die Union, die FDP natürlich, auch die Linkspartei.
Sie schreiben, die Mittelklassen hatten in den 70er Jahren keine Lust mehr auf eine egalitäre Gesellschaft – weil ihnen die kulturelle Egalität nicht gepasst hat. Warum gehen Sie von einer bewussten Abkehr von der Egalität aus?
Das ist eher eine indirekte Abkehr. Die Industriegesellschaft hatte gewissermaßen zwei Seiten: Egalitarismus und Konformismus. Das war eine relativ egalitäre Gesellschaft und gleichzeitig auch eine kulturell sehr konformistische Gesellschaft. Es herrschte ein starker Anpassungsdruck. Warum dieses Modell erodiert ist, hatte mehrere Gründe. Die Vorgänger der heutigen neuen Mittelklasse sind die revoltierenden Akademiker Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Deren Kritik an der industriellen Moderne bezog sich nicht auf den Egalitarismus, sondern auf den kulturellen Konformismus. Am Ende haben sie den Egalitarismus mit abgeräumt. Denn dieser kulturelle, antikonformistische Wertewandel ist mit der ökonomischen Entwicklung der 70er Jahre zusammengetroffen – der Krise des Fordismus, als das industrielle Wirtschaftsmodell nicht mehr expansionsfähig war.
Dann kam der Neoliberalismus …
… und die Transformation der Ökonomie in Richtung Postindustrialismus: weg von der Industrieökonomie hin zum kognitiven Kapitalismus – mit der neuen Polarität zwischen den Hochqualifizierten der Wissensökonomie und den Niedrigqualifizierten in den einfachen Dienstleistungen. Der Begriff Neoliberalismus allein ist mir hier zu eng, um diese ökonomische Entwicklung zu beschreiben. Aufs Politische übersetzt heißt das aber: Der antikonformistische Linksliberalismus und der antiegalitäre Neoliberalismus haben sich als die beiden Flügel einer Bewegung der Öffnung und „Deregulierung“ dargestellt, die zur heutigen Gesellschaftsform geführt haben.
Grüne und FDP.
So könnte man sagen, wenn man es parteipolitisch übersetzt. Das scheint verwirrend: Zwei Richtungen, von denen man denkt, sie sind miteinander verfeindet, gehören aus größerer Distanz betrachtet zusammen – als Elemente eines tiefgreifenden Liberalisierungsprozesses.
Ihre These ist, für die neue Mittelklasse ist heute Singularität, Einzigartigkeit wichtig. Bei Wohnungen, Kultur oder auch im Tourismus. Städtereise statt Mallorca. Aber ist das Reiseziel Berlin nicht das Mallorca der neuen Mittelklasse?
Die Singularität, die Besonderheit oder Einzigartigkeit, liegt im Auge des Betrachters. Es gibt keine objektive Einzigartigkeit. Sie hängt also ab von komplizieren Bewertungsprozessen, die auch sehr mobil und veränderlich sind. Kritik am Konformistischen ist gewissermaßen Teil des Singularitätsspiels. Dann fährt man nicht mehr nach Berlin, sondern nach Lissabon. Im Übrigen: dass etwas von vielen Menschen präferiert wird, macht es ja nicht unbedingt weniger singulär: dass Bob Dylan so beliebt ist, rüttelt nicht an seinem Status als außerordentlich. Er ist dann eben ein Klassiker.
Wo ist die alte Mittelklasse geblieben?
Der Unterschied liegt nicht so sehr im Einkommen, im Materiellen, sondern in der Kultur, im Lebensmodell. Das der neuen Mittelklasse ist eines der Selbstverwirklichung, kombiniert mit Erfolg und Prestige. Also Bürgerlichkeit und Bohème in einem. Die alte Mittelklasse ist eher über Statusinteresse und Selbstdisziplin definiert. Es geht um einen bestimmten Lebensstandard, nicht um die immaterielle Lebensqualität, die für die neue Mittelklasse so wichtig ist. Die alte Mittelklasse ist bildungsmäßig eher mittel und deutlich weniger mobil als die neue Mittelklasse, auch häufiger im ländlichen Bereich angesiedelt. Sowohl bildungsmäßig als auch räumlich repräsentiert man nicht mehr die Mitte der Gesellschaft. Die ehemaligen Bildungsabschlüsse „der Mitte“ verlieren angesichts der Akademisierung an Wert.
Welche sind das?
In Deutschland wäre das eine Berufsausbildung, ein Haupt- oder Realschulabschluss.
Und die Unterschicht?
Die neue Unterklasse ist eine neue Klasse so wie die neue Mittelklasse neu ist: Menschen, die häufig im Bereich der sogenannten einfachen Dienstleistungen arbeiten. Das Hamburger Institut für Sozialforschung spricht vom Dienstleistungsproletariat. Dazu gehören auch Menschen, die nicht am Arbeitsmarkt aktiv sind. Man muss sich durchwursteln, mit der ständigen Gefahr von Lebenskrisen umgehen. Die Selbstverwirklichung der neuen Mittelklasse erscheint aus Sicht der Unterschicht als Paralleluniversum.
Warum knallt es jetzt politisch zwischen den drei Klassen?
Die Frage scheint mir fast: Warum hat es so lange nicht geknallt? Diese drei sozialen Großgruppen haben sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten – das baut sich schon seit mehreren Jahrzehnten auf. Die eine Gruppe, die neue Mittelklasse, kann sich als Teil und Träger des Fortschritts der westlichen Moderne nach dem Mauerfall sehen, der Liberalisierung, des Bildungsfortschritts etc.. Die beiden anderen Klassen sehen sich eher in einer manifesten oder latenten Situation von Entwertung. Die neue Unterklasse ist sozial deklassiert. Die alte Mittelklasse, die materiell noch relativ gut dasteht, sieht sich häufig in einer kulturellen Defensive gegenüber den Liberalisierungsprozessen. Diese Polarisierung von Lebenswelten und -gefühlen setzt sich in eine Polarisierung von politischen Einstellungen um. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist international ein Ausdruck dieser Entwertungserfahrungen. Es gibt aber Anzeichen, dass der liberale Wertecluster der neuen Mittelklasse sich selbst verändert.
Woran machen Sie das fest?
An der öffentlichen Diskussion über die Krise des Liberalismus. Das betrifft interessanterweise den Wirtschaftsliberalismus und den Linksliberalismus gleichermaßen. Nehmen wir als Beispiel den Wohnungsbau in Berlin. Auch die neue Mittelklasse ist durch die eklatanten Mietpreissteigerungen betroffen. Sodass sie sieht: Wir brauchen Rahmenbedingungen, eine Mietpreisbremse etwa. Und auch die Frage nach gemeinsamen Regeln des zivilen Zusammenlebens wird ja lebensweltlich sehr akut, wenn man etwa zur Zielscheibe der Enthemmung im Internet wird. Dass die Liberalisierungen durch neue Regulierungen ausbalanciert werden müssen, wird so immer deutlicher.
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