Soziologe über Massentourismus: „Teneriffa steht vor dem Kollaps“
17 Millionen Besucher im Jahr, bewässerte Golfplätze, rationiertes Wasser für Einheimische – so geht es nicht weiter, sagt Soziologe Eugenio Reyes.
taz: Herr Reyes, unter dem Motto „Die Kanaren stoßen an ihre Grenze“ protestieren am Samstag Dutzende Umweltorganisationen, Parteien und Bürgerinitiativen auf allen sieben bewohnten Kanarischen Inseln gegen die Auswirkungen des Massentourismus. Warum jetzt?
Eugenio Reyes: Wir warnen seit den 1990er Jahren vor den negativen Auswirkungen des Massentourismus. 2002 sammelten wir 120.000 Unterschriften unter einem Volksgesetzesentwurf, der vom kanarischen Parlament angenommen wurde. Es wurde ein Baustopp für touristische Infrastruktur erlassen. In den letzten Jahren wurde er aufgeweicht. Vor vier Jahren wurde das Baugesetz schließlich so geändert, dass große Ländereien, die bisher als ländlicher Raum galten oder gar unter Landschaftsschutz stehen, urbanisiert werden können. Der endgültige Funke sind zwei riesige Touristenkomplexe mit Hafen in geschützten Gebieten auf der Insel Teneriffa. Die Inselregierung hat nach jahrelangen Auseinandersetzungen grünes Licht gegeben.
Soziologieprofessor an der Uni in Las Palmas de Gran Canaria. Vorsitzender der Umweltschutzorganisation ASCAN, Sprecher des kanarischen Umweltschutzdachverbandes Ben Magec.
Die spanische, aber auch die ausländische Presse spricht von „Tourismophobia“…
Darum geht es nicht. Alle Umfragen zeigen, dass die Menschen auf den Kanaren nichts gegen die Touristen haben, Wir leben seit 150 Jahren mit und von Besuchern. Es geht darum, was die Folgen eines unkontrollierten Massentourismus sind.
Die da wären?
2008, vor der Eurokrise, hatten wir 8 Millionen Besucher pro Jahr, 2019, vor der Covid-Pandemie, waren es 16 Millionen. Das heißt, in zehn Jahren hat sich der Tourismus verdoppelt. Mit der Pandemie kam die Hoffnung, dass das Modell des Massentourismus Vergangenheit ist. Dem war nicht so. Dieses Jahr werden 17 Millionen Menschen erwartet. Bei den Protesten geht es nicht nur um Hotelkomplexe. Es geht auch um Luxussiedlungen, die überall entstehen, mit Rasen, Parks, Swimmingpools – und das auf Inseln, die nur wenig Wasser haben.
Welche Insel ist besonders betroffen?
Teneriffa. Über 30 Prozent aller Urlauber, die auf die Kanaren kommen, fahren nach Teneriffa. Die Insel ist dem Kollaps nahe. Lange Staus, Schlangen vor überfüllten Lokalen. Trotzdem wird in Teneriffa weiter gebaut, und die Insel ist für die anderen so etwas wie ein Vorbild.
Wie wirkt sich der Klimawandel aus?
Die Inseln sind trockener denn je. Im vergangenen Sommer wurde das Wasser für die Bevölkerung im Süden Teneriffas rationiert, während es in den Hotels weiterhin Wasser gab, die Pools gefüllt und die Golfplätze besprenkelt wurden.
Der Tourismus bietet 40 Prozent der Arbeitsplätze und generiert 35 Prozent des BIP auf den Inseln. Wollen Sie die Kuh schlachten, von der Sie leben?
Aber wir machen doch schon genau das. Die negativen Auswirkungen des Massentourismus betreffen nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern auch die Touristen selbst. Wem gefallen Staus und Schlangen im Urlaub? Wir wollen unendlich weiterwachsen in einem Gebiet, das endlich ist.
Aber die Menschen auf den Kanaren leben von diesem Tourismus.
Das ist nicht ganz so einfach. Viele Menschen leben nicht von Hotel- und Gaststättengewerbe, sondern davon, ständig neue Infrastrukturen aus dem Boden zu Stampfen, vom Bau.
Wie sind die Arbeitsbedingungen in der Tourismusbranche?
Überstunden werden häufig nicht bezahlt, die Löhne sind oftmals so gering, dass es angesichts der hohen Benzinpreise für viele gar nicht mehr rentabel ist, lange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen. Deshalb bleiben trotz Arbeitslosigkeit viele Stellen unbesetzt. Hinzu kommt ein neues Phänomen: Die Langzeitvermietung von Ferienwohnungen in den Wintermonaten in den Städten. Es wird immer schwerer für die Einheimischen, erschwingliche Wohnungen zu finden. Der Reichtum, der durch den Tourismus erwirtschaftet wird, kommt der Bevölkerung nicht zugute. Die Kanaren sind mit 36 Prozent der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze die ärmste Region Spaniens. Wir haben hier eine strukturelle Armut, aus der nur schwer wieder herauszukommen ist.
Wie sähe denn ein guter Tourismus für die Kanaren aus?
Wir haben hier über 15 Millionen Touristen, die im Schnitt sieben bis zehn Tage bleiben. Damit haben wir 150 Millionen Übernachtungen pro Jahr, so viele wie nirgends sonst. Nicht einmal Paris hat das. Wir brauchen einen klimaneutralen Tourismus, dafür müssen wir investieren. Wir sind eines der wenigen Reiseziele, das keine Übernachtungssteuern wie eine Kurtaxe erhebt. Nur ein Euro pro Nacht ergäben 150 Millionen Euro pro Jahr. Damit könnten wir investieren. Und wir müssen in die Zukunft schauen. Warum nicht gezielt Menschen anziehen, die länger bleiben, weil sie von hier aus online arbeiten können? Digitale Nomaden, Design- oder Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen? Sie könnten die Hotelanlagen auslasten, bei weniger Flugreisen und CO2-Ausstoß. Gleichzeitig würden Touristen mit hohem Lebensstandard kommen und die lokalen Wohnungsmärkte entlastet. Das wäre ein Tourismus für das 21. Jahrhundert.
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