piwik no script img

Silvesternacht in KölnDeutschland postcolognial

Die Übergriffe haben in Teilen der Bevölkerung für Verunsicherung gesorgt – und alte Debatten neu angestoßen. Vier Beispiele.

Der Kölner Dom im Abendland, Morgenland, Deutschland?! Foto: dpa

Die deutsche Frau

Nach der Silvesternacht erscheinen Focus und Süddeutsche Zeitung mit eindeutigen Titelseiten: Schwarze Hände, die nach weißen Frauen greifen. Wenige Tage nach Köln hat das Thema sexualisierte Gewalt eine neues diskursives Gewand – bisher als „Identitätspolitik“ linker akademischer Milieus kaum beachtet, lässt es sich nun auch für Kräfte rechts der Mitte verpacken: in Rassismus, oder, codiert, als Debatte über „patriarchale Kulturen“.

Die Schablone: Der schutzlosen weißen Frau steht der aggressive „Nordafrikaner“ gegenüber – ein Begriff, der als vermeintlicher Phänotypus in Köln seinen Anfang nimmt. Exfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) twittert wenige Tage nach den Ereignissen, es sei Zeit, sich mit „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen in der muslimischen Kultur“ auseinanderzusetzen. Die Antifeministin Birgit Kelle fragt, wo denn der „#Aufschrei“ bleibe.

Einige Feministinnen und Migrantenaktivistinnen versuchen, dem Verquicken von Sexismus und „Kultur“ unter dem Hashtag #ausnahmslos entgegenzusetzen: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen sei ein Problem jeder Gesellschaft und dürfte nicht nur dann thematisiert werden, „wenn die Täter die vermeintlich ‚anderen‘ sind“. Aber die Hinweise auf Männermobs beim Oktoberfest und anderen Volksfesten fallen nicht auf fruchtbaren Boden. Im Gegenteil, wer sie vorbringt, muss sich Relativierung vorwerfen lassen.

Indes wird mit der Bedrohung „von außen“ sexuelle Gewalt zum dringlichen Problem. Keine Woche nach Köln haben sich in der Regierung sämtliche Blockaden gegen ein schärferes Sexualstrafrecht aufgelöst. Im Juli beschließt der Bundestag die Reform im Paket mit Abschiebeerleichterungen für straffällige Ausländer. Spätestens hier ist klar: Im Diskurs der Mitte sind die Themen sexuelle Gewalt und Einwanderung kaum noch zu trennen.

Ein Revival der „Leitkultur“

Mit dem Reizwort „Leitkultur“ hatte sich im Jahr 2000 CDU-Politiker Friedrich Merz ins Abseits begeben, danach war es lange still um die Parole, mit der meist ein einfacher, greifbarer Wertekonsens unter weißen Deutschen gemeint ist. Nach den Kölner Ereignissen aber zogen plötzlich nicht nur die CSU, sondern auch Feuilletonisten den Begriff wieder hervor.

Während man in Bayern gleich eine Charta schreiben will, wünscht sich die FAZ erst einmal eine Verständigung über „unsere eigenen Werte“. Im Laufe des Jahres 2016 wird diese Idee, wenn schon nicht in Form einer Verpflichtung, so wenigstens in der Variante des „Leitfadens“ vielfach umgesetzt. Leitkultur-Comis und Gebrauchsanweisungen sollen mit einfachen Worten oder Bebilderungen erklären, wie man in Deutschland zusammenlebt. Als es wärmer wird, kommen vielerorts die Hallenbadregeln dazu. Deutschland gibt sich damit en passant einen neuen Gesellschaftsvertrag, das ist erstaunlich. Leider richten sich die Anweisungen nur an „die Anderen“. Von der Mehrheitsgesellschaft wird angenommen, dass sie die Regeln („Grüßen, nicht Grapschen“) bereits verinnerlicht hat. Und noch etwas: Das Erstarken des Leitkultur-Begriffs markiert die Niederlage der Multikulturalismusidee, die Bundeskanzlerin Merkel ja bereits seit 2010 als gescheitert betrachtet.

Was also heißt es, wenn jetzt der Innenminister dazu aufruft, „unsere Werte und Traditionen“ selbstbewusster zu vertreten, wenn eine Ministerpräsidentin die Leitkultur-Debatte wieder zum Markenkern der CDU machen will? Was sind deutsche Grundwerte und wer bestimmt das? Wer fällt am Ende hintüber? Denn „Leitkultur“ heißt normiertes Deutschtum, an dem sich alle messen müssen, Selbstoptimierung und Leistungsethos inklusive – und das wird nicht nur MigrantInnen schwerfallen.

„Ende der Willkommenskultur“

Als „Super-GAU für eine engagierte Flüchtlingspolitik“ in jedem Fall, vielleicht sogar als „Ende der Willkommenskultur“ sieht NDR-Kommentatorin Kristine Jansen schon am 9. Januar die Kölner Silvesternacht. Die Zeit spricht vom „Kipppunkt“, nach dem die Flüchtlingspolitik nur noch mit einem starken Rechtsstaat zu vermitteln sei. Welt-Autor Ulli Kulke vergleicht Köln gar mit Fukushima.

Die Kanzlerin, gewohnt uneindeutig, spricht bei der CDU-Jahresklausur im Januar immerhin von einem „Paukenschlag“. Rückblickend verwendet Innenminister Thomas de Maizière noch im Oktober das Wort „Wendepunkt“. Aber „Willkommenskultur“, was war das noch mal?

Die Kanzlerin, gewohnt uneindeutig, spricht bei der CDU-Jahresklausur im Januar immerhin von einem Paukenschlag.

Nach einer Studie der Hamburg Media School vom August dieses Jahres war „Willkommenskultur“ ein von der Politik seit 2009 eingeführtes und medial stark aufgegriffenes Narrativ, das die als bedrohlich wahrgenommene Zuwanderung positiv umdeutet.

In der Zeit nach der Aussetzung der Dublin-Regelung im Spätsommer 2015 wurde das Wort vor allem mit ehrenamtlichen HelferInnen verbunden. Laut Studie ist der Begriff „Willkommenskultur“ aber schon nach seinem Höhepunkt im Herbst 2015 zu einem „Begriff des Dissenses“ geworden. War Köln der entscheidende Wendepunkt? Nicht ganz.

Schon im Oktober 2015 wurde ein Gesetz über beschleunigte Asylverfahren beschlossen, Entwürfe für das Asylpaket II gab es da auch schon. Kurz darauf wurde das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge wieder angewendet. Auch Pläne für ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gab es bereits vor Köln. Alle politischen Prozesse, die die „Flüchtlingskrise“ heute geringer erscheinen lassen, sind schon 2015 angestoßen worden.

Wenn Köln also in Bezug auf Willkommenskultur etwas geändert hat, dann auf der Ebene des Diskurses: als Bezugsgröße für Rechte und ZweiflerInnen und als Legitimation für politische Maßnahmen.

Politisch korrekte Medien

Gab es Absprachen zwischen Medien, Polizei und Politik, Informationen über die Ereignisse an der Domplatte zugunsten von Flüchtlingen zurückzuhalten? In den Tagen nach Köln ist die Verunsicherung groß.

Die ZDF-Sendung „heute+“ twittert: „Wie sollte @heuteplus über die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln berichten?“ – und erntet Häme. Ein öffentlich-rechtlicher Sender, der im Ernstfall nicht weiß, wie sein Job geht? In den ersten Tagen von 2016 wird der „Lügenpresse“-Vorwurf – bis dahin Parole einer marginalisierten rechten Bewegung – in abgeschwächter Form zum Allgemeinplatz der Mitte. Die FAZ wirft am 6. Januar ARD und ZDF vor, sie fegten Zeugenaussagen beiseite, nach denen die Täter „nordafrikanischer“ Herkunft seien, und thematisierten „lieber ihr Misstrauen gegenüber den eigenen Zuschauern“. Exinnenminister Hans-Peter Friedrich spricht sogar von einem „Schweigekartell“. In der Zeit heißt es am 14. Januar, Linke wollten „den Deutschen möglichst wenige verstörende Tatsachen über Flüchtlinge zumuten“.

Die ZDF-Sendung heute+ twittert: „Wie sollte @heuteplus über die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln berichten?“ – und erntet Häme.

Aus Verunsicherung wird eine Legitimationskrise der Nachrichtenmedien. Immer mehr MedienvertreterInnen äußern selbst grundlegende Zweifel an der Art, wie berichtet wurde. Die WDR-Journalistin Claudia Zimmermann spricht von einem „Maulkorb“, den man sich auferlege. Wolfgang Herles, ehemaliger Leiter des ZDF-Studios in Bonn will etwas von „Anweisungen“ wissen. Kurz darauf rudert er zurück – da ist das Schlagwort schon im Umlauf. Dabei ist das Zurückhalten von Informationen, wie die Herkunft von StraftäterInnen zwecks Minderheitenschutz, von jeher gängige Praxis.

Der Pressekodex schreibt dies zum Verhindern von Stigmatisierung vor, was bislang von den meisten JournalistInnen beachtet wurde. Inzwischen steht das Prinzip jedoch immer wieder zur Debatte. Zuletzt bei der Vergewaltigung und Ermordung einer Studentin in Freiburg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Ihr schreibt, ich hätte die Vorgänge in der Silvesternacht in Köln mit Fukushima verglichen. Das ist nicht nur starker Tobak sondern bei Lichte betrachtet Blödsinn. Was ich tatsächlich in meinem "Blog Donner und Doria" im Januar 2016 geschrieben habe: Damals schwebte der Vorwurf im Lande, viele hätten die Vorgänge in Köln nur dazu ausgenutzt, ihre vorherigen Ängste bestätigt zu finden, ihr Süppchen auf den schlimmen Vorgängen zu kochen, diese sozusagen für die eigene Sache auszunutzen. Ich habe dann in dem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass fünf Jahre zuvor genau dasselbe nach Fukushima – von der "anderen Seite“, wenn man so will – auch geschah. Natürlich habe ich nicht die Schwere des Ereignisses in Fukushima mit der der Vorgänge in Köln verglichen oder gar auf eine Stufe gestellt. Eine solche Unterstellung ist schon perfide. Hier, in der Online-Ausgabe scheint es, als sei mein Beitrag von damals verlinkt. Tatsächlich erscheint beim Anklicken ein Artikel von der „Zeit“. Vielleicht könnt ihr das wenigstens noch ausbügeln, dann können sich immerhin die Neugierigen ein Bild von eurem unsinnigen Vorwurf machen.

    Freundlicher Gruß

    Ulli Kulke

    • Peter Weissenburger , des Artikels, Freier Autor
      @Ulli Kulke:

      Lieber Ulli Kulke,

       

      danke für Ihren (Deinen?) Kommentar. Ich bedaure, dass Sie meinen Verweis als "perfide" und einen "unsinnigen Vorwurf" lesen. Tatsächlich war es nicht meine Absicht Ihnen irgendetwas vorzuwerfen. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie nicht die Ereignisse als solche mit einem Reaktorunfall vergleichen, und das behaupte ich auch nicht. Sie vergleichen zwei diskursive Ereignisse und wie damit politisch umgegangen wurde - was ich übrigens nicht nur legitim sondern auch wertvoll finde. Auch mein Artikel handelt nicht von den tatsächlichen Begebenheiten in der Silvesternacht, sondern von "Köln" als diskursivem Ereignis, in diesem Kontext ist mein Verweis auf Ihren Text zu verstehen.

       

      Den Link zu verbessern habe ich die KollegInnen gebeten. Dass der fehlerhaft war, ist natürlich ärgerlich.

       

      Nochmal: Mein Verweis auf Sie ist weder Vorwurf noch Angriff, das weise ich zurück. Er ist nur ein Beleg unter mehreren dafür, in welcher Größenordnung das Thema seinerzeit diskutiert wurde.

       

      Beste Grüße

      • @Peter Weissenburger:

        Sorry, dann habe ich das vielleicht ein wenig in den falschen Hals bekommen. Ich fand Ihren Beitrag im Übrigen auch durchaus lesenswert und interessant, das wollte ich noch erwähnen, hatte es dann ganz vergessen. Wenn das so gemeint gewesen ist, dann soll es mir recht sein, das Wort "vergleichen" klang mir nur ein wenig danach, als sei beides auf eine Stufe gestellt worden. Aber okay, kann man auch so lesen. "Perfide" nehme ich dann hiermit in aller Form zurück:-).

  • Wenn ein Ende der Willkommenskultur kommt, was dann?

     

    Dann wird der Rechtspopulismus erstarken und sich verbreiten. Die Ausgrenzung und Diskriminierung einzelner Bevölkerungsgruppen (Aulsänder, Arbeitslose Menschen, Menschen mit Behinderung, Obdachlose Menschen, Rentner, Kranke Menschen) wird dadurch neue Dimensionen erfahren.

  • Die Übergriffe haben in Teilen der Bevölkerung für Verunsicherung gesorgt – und alte Debatten neu angestoßen...

     

    Eine Zeitung schrieb: "Männer bei der betreffenden Silvesternacht waren dabei; warum haben die nichts verhindert?" Ist der Zusammenhalt in der Bevölkerung noch nicht optimal, oder waren es doch überwiegend Diebställe mit Ablehnkung durch stoßen und Anfassen bei dieser Nacht? Wobei, auch wenn die Berürungen zum Zwecke des Diebstahls stattfanden, so ist es trotzdem eine strafbare sexuelle Handlung.

     

    Das Kavali̱e̱rsdelikt ist auch eine strafbare sexuelle Handlung. Die gesellschaftliche Debatte und die Verschärfung des Sexualstrrafrechts waren seit Jahren überfällig!

  • 0G
    0981 (Profil gelöscht)

    Die Vergleiche mit dem Oktoberfest beispielsweise waren auch Relativierungen. Es ist interessant. Bei einheimischen Tätern ist gleich auch immer die Gesellschaft mit schuldig. Handelt es sich bei den Tätern um Migranten dann darf die Herkunftsgesellschaft um keinen Preis mitverantwortlich sein, egal wie kurz die Täter schon in Deutschland sind.

    • @0981 (Profil gelöscht):

      Wenn Sie glauben, dass die "Bürgerwehren" oder der Mob im Internet die Frage nach der "Schuld der Gesellschaft" bei z.B. einem tunesischen Täter anhand von der Kultur der Sexualität, den Strukturen von Familie oder der Qualität des Bildungssystems in Tunesien diskutieren möchte, irren Sie sich gewaltig.

      • 0G
        0981 (Profil gelöscht)
        @V. Ohneland:

        Es ging mir da jetzt weniger um den Mob sondern darum wie unglaubwürdig der Diskurs geworden ist. Nach Köln haben stramme Rechte plötzlich die Frauenrechte für sich entdeckt, sog. Feministinnen relativierten plötzlich sexuelle Übergriffe und stramme Linke warnte vor den Folgekosten für die Wirtschaft bei Grenzschliessungen...