Sicherheitsexpertin über Ukraine-Krieg: „Kein Interesse an Eskalation“
Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander fordert zuverlässige Waffenlieferungen vom Westen. Verhandlungen mit Moskau sieht sie derzeit nicht.
taz: Frau Ålander, zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist kein Ende in Sicht. Wie steht es um die ukrainische Armee?
Minna Ålander: Nicht besonders gut. Die Ukraine hat schon länger mit Munitionsmangel zu kämpfen, und das zeigt sich dann auch an der Front.
Das Beispiel Awdijiwka in der Ostukraine hat gezeigt, dass die Ukraine einer Dauerbelagerung durch die russische Armee nicht standhalten kann. Was bedeutet das?
Awdijiwka zeigt, wie dieser Krieg momentan abläuft. Es sind harte Kämpfe um wenige Quadratkilometer. Die Front hat sich seit letztem Sommer nicht viel bewegt. Und man sieht auch auf der russischen Seite, wie die Eroberung eines kleinen Dorfes gefeiert wird. Es geht für beide Seiten um Meter und Zentimeter. Im Fall von Awdijiwka musste die Ukraine aufgeben nach einem sehr langen, harten Kampf. Russland ist es besser gelungen, als wir gehofft haben, die eigenen Vorräte aufzustocken. Zudem konnte Russland in den letzten zwei Jahren die Kriegsproduktion stark erweitern und steigern. Trotz der westlichen Sanktionen. Das sind alles schlechte Nachrichten.
Die Sicherheitsexpertin arbeitet am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. Sie beschäftigt sich mit der Nato, Sicherheitsfragen in Nordeuropa sowie Verteidigungsstrategien in Deutschland und Finnland. Zuvor war sie für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig
Wie stark ist die russische Armee wirklich?
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wir haben am Anfang des Krieges und vor allem vor der Großinvasion die russische Armee überschätzt. In vielen westlichen Ländern dachte man, die Ukraine hätte keine Chance gegen Russland. Deshalb hat man die Ukraine vor der Invasion erst mal nicht unterstützt. Auch nach dem 24. Februar 2022 kam die Unterstützung nur sehr zögerlich. Dann waren viele überrascht, wie schlecht es doch für Russland lief. Die Einschätzung über den Zustand der russischen Armee schwingt von einem Extrem ins andere.
Aber: Russland hat einen größeren Pool an möglichen Wehrpflichtigen, wenn eine neue Mobilisierungswelle kommt. Russland hat dank Nordkorea, Iran oder auch teilweise China die Kriegsproduktion steigern können. Die Waffen sind zwar nicht hochtechnologisiert, dennoch effektiv genug. Russland setzt auf Masse, und das funktioniert leider. Im Westen sollten wir Russland nicht unter-, aber auch nicht überschätzen.
Was braucht die ukrainische Armee konkret?
Munition vor allem. Sie braucht aber auch eine bessere Luftverteidigung und noch mehr Raketen. Damit kommen schnell die politischen Grenzen des Westens ins Spiel. Darf und soll sie auch tiefer im russischen Territorium angreifen? Wenn die Ukraine in diesem Jahr F-16-Kampfjets bekommt, wird dies einen Unterschied machen. Aber auch mehr Landsysteme, nicht nur Kampfpanzer, sondern alles, was dazugehört, würde helfen. Aber am Ende kommt es auf ausreichende Mengen an Munition an. Kein einzelnes Waffensystem wird den Kriegsverlauf entscheiden, aber jedes System ist ein Teil des Ganzen. Die Unterstützung muss vor allem langfristig geplant sein und aufrechterhalten bleiben. Die Logistikketten müssen funktionieren, damit es – wenn es aus politischen Gründen Ausfälle bei den westlichen Partnern gibt, keine Lücken gibt.
Was erwarten Sie von den westlichen Verbündeten?
Es braucht schnelle Lösungen. Die größten Sorgen bereiten derzeit die USA. Die Unterstützung für die Ukraine ist leider Gegenstand des politischen Geschehens im Wahljahr für einen neuen US-Präsidenten geworden. Welche Entscheidung in den USA getroffen wird, wird zur Schicksalsfrage für Europa. Sind wir in der Lage und vor allem willens, jetzt unseren Beitrag zu erhöhen, damit die Ukraine weiterkämpfen kann? Die Sicherheitsabkommen mit Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind ein sehr gutes Zeichen, dass Europa weiterhin am Ball bleibt.
Aber diese Abkommen müssen nun mit tatsächlichen Inhalten und Taten gefüllt werden. Die Worte: „Wir stehen der Ukraine bei, solange wie nötig“ – das dürfen keine leeren Worte bleiben. Die Frage bleibt aber: Reichen die Kapazitäten in Europa aus, falls wir tatsächlich im Ernstfall für den Beitrag der USA aufkommen müssen? Das ist im Moment sehr fraglich.
In Deutschland wird seit Monaten über die Lieferung von Marschflugkörpern vom Typ Taurus diskutiert. Wäre aus militärstrategischer Perspektive eine solche Waffe überhaupt sinnvoll?
Ja, absolut. Raketen aller Art sind wichtig für die Verteidigung der Ukraine. In dieser Diskussion zeigt sich erneut das Problem der beständigen Versorgung. In Europa sind die Vorräte nicht sonderlich groß. Ähnliche Waffen wie die britischen Storm Shadow oder die französischen Scalp kommen bereits zum Einsatz. Käme der Taurus dazu, könnte das Arsenal aufgestockt werden. Es würde für die Ukraine einen deutlichen Unterschied machen, wenn sie militärische Ziele auf russischem Territorium treffen könnte. Im Kanzleramt denkt man offenbar, das geht zu weit und man erhöht damit das Eskalationsrisiko.
Leuchtet Ihnen dieses Argument nicht ein? Mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern kann der Taurus Russland treffen.
Ob es zu einer neuartigen Eskalation kommen würde, kann keiner sagen. Russland eskaliert täglich mit neuen Angriffen auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Kanzler Scholz spricht davon, dass die Ukraine nicht verlieren darf, und Russland darf nicht gewinnen, aber nicht umgekehrt. Und das macht eben einen Unterschied, was für Unterstützung man bereit ist zu gewähren. Kanzler Scholz ist offenbar bereit, die Ukraine dabei zu unterstützen, ihre Städte vor russischen Luftangriffen zu schützen.
Aber er zögert, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass sie Russland daran hindern könnte, ukrainische Städte anzugreifen. Ich persönlich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer nuklearen Eskalation kommt. Ich glaube auch, dass Russland kein wirkliches Interesse daran hat. Wahr ist auch, dass der Taurus den Kriegsverlauf nicht entscheiden oder den Krieg gar beenden wird. Aber es wäre enorm nützlich für die Ukraine, auch dieses System zu haben und ihre Vorräte an Raketen aufstocken zu können.
Mit der Schlagkraft der Marschflugkörper könnte die Ukraine auch Versorgungswege auf die Krim kappen.
Militärstrategisch wäre das sinnvoll. Es wäre dann möglich, die Brücke zur Krim zu zerstören und militärische Infrastruktur dort zu eliminieren. Die Krim ist für Russland ein wichtiger Punkt, um die Ukraine anzugreifen. Auch hier bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass Russland tatsächlich an weiteren Angriffen gehindert werden kann?
Kanzler Scholz hat kurz nach dem 24. Februar 2022 eine Zeitenwende in Deutschland eingeläutet. Inwiefern hat sich auch die Bedeutung des Militärbündnisses Nato mit dem Krieg verändert?
Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands war und ist ein Momentum. Er stärkt die Rolle der Nato und zeigt, dass das Bündnis die stärkste Abschreckung bietet. Leider laufen wir im Moment Gefahr, dass die USA dieses Momentum verpassen und verpuffen lässt. Schuld daran sind die innenpolitischen Spiele um die Unterstützung der Ukraine und dann natürlich die jüngsten Aussagen von Ex-Präsident Trump über Nato-Partner, die nicht das 2-Prozent-Ziel erfüllen. Die Relevanz der Nato ist ganz klar, aber die Instabilität der USA ist ein großes Problem geworden.
Was bedeutet der Nato-Beitritt Finnlands, ihres Heimatlandes, konkret für die Entwicklungen im Ukrainekrieg?
Die finnische Beteiligung ändert so ziemlich alles, vor allem in der Ostseeregion. Für die Nato gab es zuvor die große Frage, wie können die baltischen Staaten effektiv im Ernstfall verteidigt werden. Diese Frage klärt sich jetzt mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens vor allem für langfristige Planungen. Hinzu kommt: Erstmals seit dem Kalten Krieg bereitet die Nato wieder regionale Verteidigungspläne vor. Es erleichtert diese Planung wesentlich, Finnland und Schweden als Vollmitglieder dabeizuhaben. Finnland hat die Fähigkeiten seiner nationalen Landesverteidigung über die Jahre aufrechterhalten.
Das macht die Lage für Russland deutlich komplizierter. Gäbe es einen Angriff auf die baltischen Staaten, müsste Russland die lange Grenze mit Finnland berücksichtigen, immerhin verläuft diese von der Ostsee bis in die Arktis. Das ist ein enormer Unterschied zu früher. Auch deshalb ist es nicht wahrscheinlich, das Russland demnächst die baltischen Staaten angreift.
Stärkung der Nato einerseits. Sehen Sie andererseits auch den Moment für eine echte gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in der EU?
Die Notwendigkeit ist da – und nun kommt es auf die nächsten Jahre an. Die EU hat die Ukraine direkt militärisch unterstützt, die Nato hat dies absichtlich nicht direkt getan, sondern die Bündnisländer tun dies auf bilateraler Ebene. Auch das Ramstein-Format, ein Forum verschiedenster Staaten, die die Ukraine militärisch unterstützen, ist kein Nato-Format, sondern Bündnisstaaten koordinieren ihre Hilfe. Die EU ist kein Militärbündnis, weshalb sie eine andere Koordinierungsebene für europäische Länder bietet. Eine Arbeitsteilung zwischen der EU und der Nato kann im Eskalationsmanagement gut funktionieren. Wenn es etwas Positives in dieser düsteren Situation gibt, dann ist es die neue aktive Rolle der EU.
Aufrüstung kostet und erfordert Sparmaßnahmen. Müssen wir das in Kauf nehmen?
Es wird einerseits auf die Haushaltslage in den jeweiligen Ländern ankommen, aber andererseits auch auf ihre Rolle in den neuen Verteidigungsplänen der Nato. Nicht jedes Bündnismitglied muss in alles investieren, und nicht alle können sich jede militärische Fähigkeit leisten. Größere Länder mit stärkerer Wirtschaftsleistung müssen gegebenenfalls in Systeme investieren, die der gesamteuropäischen Verteidigungsplanung zugutekommen. Allerdings ist der wirtschaftliche Druck derzeit überall enorm hoch. Investitionen in Panzer oder Kindergärten? Das werden schwierige Debatten werden in manchen Ländern.
In anderen stellt sich die Frage nicht, weil die Bedrohung als dringender wahrgenommen wird. Zum Beispiel in Finnland ist es klar, dass Panzer eine Voraussetzung für das Fortbestehen der Kindergärten sind. Die Verteidigungsausgaben werden steigen, aber mehr als auf die Summe wird es darauf ankommen, wofür das Geld ausgegeben wird – ob die Hälfte des Wehretats etwa aus Rentenzahlungen besteht. Auch hier ist eine gute Gesamtplanung gefragt.
Die Kriegslage ist verfahren. Sehen Sie eine Chance für Verhandlungen?
Um Verhandlungen sinnvoll führen zu können, muss man erst mal einen Punkt erreichen, an dem Russland sich gezwungen sieht, ehrlich zu verhandeln. Dieser Zeitpunkt ist in weiter Ferne. Russland kann momentan keine unabhängige, in den Westen integrierte Ukraine akzeptieren. Deshalb gibt es hier keine Kompromissmöglichkeiten. Entweder hat jedes Land das souveräne Recht zu entscheiden, ob es der Nato oder der EU beitreten will, oder kein Land hat es. Russland hat den Minsk-Prozess zu seinen Gunsten ausgenutzt, um seine Positionen in der Ostukraine zu festigen und auch eine Großinvasion zu ermöglichen. Auch ältere Abkommen, wie das Budapester Memorandum, das der Ukraine Sicherheitsgarantien geben sollte, hat Russland nicht respektiert. Momentan gibt es deshalb keine Vertrauensbasis, mit Russland zu verhandeln.
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