„Shooting Epidemic“ in den USA: Schüsse, Schuld und Sühne
In Philadelphia setzt ein Staatsanwalt auf Prävention statt auf Haft. Doch die Zahl der Schießereien steigt drastisch. Sind seine Reformen gescheitert?
W enn Larry Krasner auf seine erste Amtszeit als leitender Staatsanwalt von Philadelphia zurückblickt, klingt Stolz in seiner Stimme durch. „Wir haben die Zahl der Gefängnisjahre, die in Philadelphia als Strafe verhängt wurden, halbiert“, sagt er und lehnt sich in seinem Büro in einem blauen Ledersessel zurück.
Mit diesem Vorhaben war er vor vier Jahren angetreten, als er District Attorney werden wollte, der oberste kommunale Staatsanwalt der 1,6-Millionen-Stadt im Nordosten der USA. Krasner versprach, unschuldig Verurteilte aus den Gefängnissen zu holen, bei Sexarbeit und kleineren Drogendelikten keine Anklage mehr anzustreben und die Zahl der vor Gericht geforderten Haftjahre stark zu reduzieren. Der Fokus müsse auf Prävention und Rehabilitation liegen, nicht auf Bestrafung.
Der District Attorney wird direkt von der Bevölkerung gewählt. Larry Krasner kandidierte 2017 als Außenseiter, unterstützt von mehreren Graswurzelbewegungen, aber nicht vom Establishment der Demokratischen Partei, die in Philadelphia politisch dominiert. Zuvor hatte er drei Jahrzehnte als Anwalt gearbeitet, politische Aktivisten vertreten und die Polizei von Philadelphia 75-mal wegen der Verletzung von Bürgerrechten verklagt.
Kaum im Amt, feuerte Krasner 30 Staatsanwälte, die seinen neuen Kurs nicht mittragen wollten. Er legte sich mit der Polizeigewerkschaft an und klagte in diesem Sommer drei Polizisten an, die mit Falschaussagen dafür gesorgt hatten, dass ein unschuldiger Mann 25 Jahre im Gefängnis saß.
Larry Krasner, Staatsanwalt
Durch Krasners Amtsantritt ist Philadelphia zu einem Kampfplatz geworden, auf dem darum gerungen wird, mit Justizreformen die Gesellschaft der USA zu verändern – Reformen, die vor allem darauf abzielen, das System der Masseninhaftierungen zu beenden: In den USA sitzen so viele Menschen im Gefängnis wie in keinem anderen Land der Welt, in absoluten Zahlen und auch pro Einwohner.
Vor allem in den großen Städten wächst die Überzeugung, dass es so nicht weitergeht. Als ein Hebel für Veränderungen nutzen Reformbefürworter Wahlen der Staatsanwälte. Auch in Chicago, San Francisco und Brooklyn wurden in den vergangenen Jahren progressive Kandidaten zu District Attorneys gewählt. „Die Graswurzelbewegung für Justizreformen ist die wichtigste Bürgerrechtsbewegung unserer Zeit. Und ich bin nur einer ihrer vielen Techniker“, sagt Larry Krasner.
Anfang November wurde er mit 69 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit gewählt. Doch seine Reformen werden überschattet von einer shooting epidemic, einer Epidemie der Schießereien: Wie in allen Großstädten der USA ist seit Beginn der Coronapandemie auch in Philadelphia die Zahl der Morde stark gestiegen. 499 Menschen wurden hier 2020 durch Mord oder Totschlag getötet, 40 Prozent mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr zählte man bis Mitte November bereits mehr als 470 Tote. Philadelphia steht vor dem blutigsten Jahr seiner jüngeren Geschichte.
Woher kommt diese Explosion der Gewalt? Und was bedeutet sie für die Justizreformen und den Versuch, das System der Masseninhaftierungen zu überwinden? In der Stadt hört man sehr unterschiedliche Antworten auf diese Fragen.
„Da schießen Kids aufeinander, die einen Streit aus den sozialen Medien auf die Straße tragen“, sagt Ikey Raw. Durch seine rechte Augenbraue verläuft eine Narbe, sein langer Bart ist grau, die schwarze Baseballkappe trägt er verkehrt herum. 44 Jahre ist er alt.
Raw ist so etwas wie eine Ein-Mann-NGO, „Mann des Volkes“ nennt er sich. Auf Facebook und Instagram betreibt er die Seite „Unsolved Murders in Philly“: Familien, die Angehörige bei einem Verbrechen verloren haben, das nicht aufgeklärt wurde, können sich an ihn wenden. Er postet Fernsehausschnitte über die Fälle, trägt Informationen zusammen, erinnert mit Bildern der Toten an sie und nimmt Videos von sich auf, in denen er die Schießereien wütend und wortreich verdammt.
Er habe seiner Community früher geschadet, jetzt wolle er ihr helfen, sagt Raw. „Ich habe gedealt. Auf mich wurde geschossen. Ich habe auf andere geschossen.“ Die Straße habe ihre eigenen Regeln, sagt er. Aber heute gebe es eine neue Art der Gewalt, befeuert durch den Austausch in den sozialen Medien. Aufgewachsen ist er mit einer Mutter, die cracksüchtig war. Der Vater hatte die Familie früh verlassen. „Meine Geschwister und ich wussten oft nicht, ob es am nächsten Tag was zu essen gibt.“
Mit elf rauchte Raw das erste Mal Marihuana, seine Cousins engagierten ihn für ihre Drogengeschäfte. Seine Schicht ging nach der Schule los, von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr abends. „Ich stand an der Ecke und sollte warnen, wenn die Cops kämen. 500 Dollar pro Woche habe ich dafür gekriegt.“ 13 Jahre lang war er immer wieder im Gefängnis, mal raus, dann wieder rein. Seine letzte Haftstrafe endete 2012. Da war er verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. „Als Familienvater aus dem Gefängnis zu Hause anzurufen, war etwas ganz anderes, als früher bei meiner Mutter oder Schwester anzurufen.“ Er entschied, dass mit „der Straße“ Schluss sein musste.
Für das Gespräch hat er eine leere Tribüne am Rand eines Footballfelds im Norden Philadelphias vorgeschlagen. Die Gegend sei sicher, seine Kinder gingen in der Nähe zur Schule, sagt er. Die Gewalt ist in der Stadt ungleich verteilt, es gibt Viertel, in denen es seit Jahrzehnten keine Morde gab. Die Stadtverwaltung hat eine Karte ins Netz gestellt, auf der die Verteilung abgebildet ist. Gelbe Punkte für nicht tödliche Schießereien, rote für tödliche. Viele Punkte ballen sich in besonders armen Gegenden nördlich und westlich des Stadtzentrums. Philadelphia ist die ärmste Millionenmetropole der USA. Fast ein Viertel der Einwohner lebt unter der Armutsgrenze.
Zu viele Waffen auf den Straßen und Teenager, die damit als harte Gangster in sozialen Netzwerken posen, ergeben eine tödliche Mischung, sagt Raw. Natürlich gebe es nach wie vor auch die Schießereien der Gangs, die um ihre Drogengeschäfte kämpften, „die gab es in Philly immer“. Die Drogen seien aber nicht entscheidend für den Anstieg der Mordrate.
Die Rolle der sozialen Medien
In sozialen Netzwerken würden Teenager sich bedrohen und beleidigen, in Rapvideos auf Youtube sich gegenseitig fertigmachen – und dieser Streit ende immer öfter tödlich. Auf seinem Handy hat Raw fünf Bilder gespeichert von Jungen unter 18, die vergangenes Jahr erschossen wurden. Alle hatten zuvor in sozialen Medien mit Waffen posiert, der jüngste von ihnen war elf.
Ikey Raw schüttelt den Kopf. Er beschäftigt sich jeden Tag mit dieser neuen Gewalt, wirklich verstehen kann er sie nicht.
Im Netz ruft er dazu auf, dass alle, die Hinweise zur Aufklärung eines Mordes geben können, sich damit an die Polizei wenden. Denn ein weiterer Grund für die sich immer weiterdrehende Gewaltspirale ist, dass die Mehrheit der tödlichen Schießereien nie aufgeklärt wird. „Oft weiß jemand in der Community, wer geschossen hat“, sagt Raw. „Die Leute reden nur nicht mit der Polizei.“ Es gilt: No snitching – kein Verpfeifen. „Doch man verpfeift niemanden, wenn man als Zeuge etwas sieht. Verpfeifen wäre es nur, wenn ich in einer Gang jemand an die Cops auslieferte.“
Aber die No-snitching-Regel habe sich in der schwarzen Community leider verselbstständigt. Anfang Oktober hat eine Mutter der Polizei ihren 15-jährigen Sohn übergeben, der auf jemanden geschossen hatte. Als Raw ein Nachrichtenvideo dazu postete, sammelten sich darunter entsetzte Kommentare: „Da schrieben Menschen, die sonst immer rufen, wir müssten auf unsere Kinder aufpassen: ‚Wie kann sie das tun? Sie hat ihr Kind dem System ausgeliefert, dem weißen Mann.‘ “
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Raw schüttelt wieder den Kopf. Er ist immer noch fassungslos: „Da war eine Mutter, die Verantwortung übernommen hat. Wenn ihr Sohn auf der Straße bliebe, wäre er der Nächste, auf den geschossen würde.“ Viele Morde sind Vergeltungsaktionen. In einer Studie aus Chicago zeigten Kriminologen, dass eine Schießerei meist zwischen drei und 60 Folgetaten auslöst, manchmal sogar bis zu 500.
In Philadelphia sind 85 Prozent der Toten schwarz, erschossen meist von anderen Schwarzen. „Wie können wir ‚Black lives matter!‘ rufen, wenn schwarze Leben für uns nicht zählen?“, fragt Raw. Die Black-Lives-Matter-Aktivisten hier interessierten sich nur für tote Schwarze, die von weißen Polizisten getötet worden seien, sagt er. „Zeig mir mal die großen Demos, wenn Schwarze Schwarze umbringen! Ich würde da gern dieselbe Energie sehen.“
Er konzentriere sich mit seiner Arbeit auf seine Community. Nur sie könne das Problem wirklich lösen. Das könnte nicht allein die Polizei, nicht der Bürgermeister – und auch nicht Staatsanwalt Larry Krasner mit seinen Justizreformen.
Krasner arbeitet in einem Hochhaus mitten im Stadtzentrum, aus den Fenstern im 18. Stock blickt man auf das Rathaus hinunter. An einer Wand hat Krasner Bilder von Martin Luther King und Rosa Parks aufgehängt. Beide mit Verhaftungsnummer, es sind Polizeifotos aus den 1950er Jahren. King und Parks wurden damals nach friedlichen Protesten festgesetzt. Die Bilder erinnern an die schwarze Bürgerrechtsbewegung, den Kampf für gleiche Rechte und daran, dass Gesetze manchmal der Gerechtigkeit im Weg stehen.
„Ich bin arm aufgewachsen, das hat mich sensibel dafür gemacht, wie arme Menschen und Minderheiten behandelt werden“, sagt Krasner. Auch wenn er, wie er in einem Podcast scherzte, heute aussehe wie der kleine Bruder von George W. Bush. Krasner trägt einen blauen Anzug mit Krawatte und eine Brille mit Schildpattgestell, 60 Jahre ist er alt.
Er arbeitete lange als Pflichtverteidiger. Tag für Tag in Gerichtssälen stehen, Tag für Tag Menschen in Gefängnissen besuchen – da sei es unmöglich zu übersehen, dass „in den Zellen Klient für Klient für Klient pleite ist und braun oder schwarz“. Die Bestrafung der Armut und den Rassismus des Justizsystems könne niemand bestreiten, der hinschaue.
1987 begann Krasner seine Anwaltskarriere, etwa zur gleichen Zeit begannen die Masseninhaftierungen in den USA. Mit Beginn der 80er Jahre und dem „Krieg gegen die Drogen“ wurden immer mehr Gesetze mit langen Mindesthaftstrafen verabschiedet. Sie ließen Richtern praktisch keinen Spielraum mehr, mildernde Umstände zu berücksichtigen. Die wirkliche Macht lag nun bei den Staatsanwälten, die entscheiden konnten, welche Verbrechen sie anklagten und nach welchen Gesetzen sie welche Strafen forderten.
Die Gefängnisse füllten sich, weil es für viel mehr Vergehen Haftstrafen gab und diese immer länger wurden. Pennsylvania hat diese Entwicklung voll mitgemacht. In den Gefängnissen des Bundesstaates mit seinen rund 13 Millionen Einwohnern verbüßen heute allein 5.200 Menschen eine lebenslange Haftstrafe ohne eine Bewährungsmöglichkeit. Von „Tod durch Inhaftierung“ sprechen Bürgerrechtsorganisationen. Zum Vergleich: In deutschen Gefängnissen saßen 2020 rund 2.400 zu „lebenslänglich“ Verurteilte, von denen aber die meisten nach spätestens 15 Jahren wieder freikommen.
Die Ungerechtigkeit des Justizsystems
Nach Jahrzehnten als Anwalt, erzählt Krasner, habe er zwar das Gefühl gehabt, in Einzelfällen Gutes bewirkt zu haben – aber an der Ungerechtigkeit des Systems insgesamt habe er nichts geändert. Er entschied sich zu versuchen, es von innen zu verändern. Seine Behörde klage bei Mord oder Vergewaltigung weiter hart an, auch wenn sie nicht immer die maximal mögliche Strafe fordere. Bei der Reduzierung der Haftstrafen gehe es ihm aber vor allem um kleinere Vergehen. „Welchen Nutzen hat es für die Gesellschaft, wenn ein Obdachloser, der zum dritten Mal Essen stiehlt, dafür ins Gefängnis geht?“ Das Geld dafür sei besser in Hilfsprogramme und Wohnungen investiert.
Krasner hat eine neue Abteilung aufgebaut, die alte Fälle aufarbeitet, bei denen es Indizien für Fehlurteile gibt. In 20 Fällen hat sie Freisprüche erwirkt – für Menschen, von denen manche bis zu 30 Jahre unschuldig im Gefängnis saßen. „Nenn mich verrückt“, sagt Krasner, „aber ich bin überzeugt, dass nur Schuldige im Gefängnis sein sollten. Unschuldige nicht!“
Dass häufig Unschuldige verurteilt werden, oft Schwarze, liege an Polizeipräsidenten und Staatsanwälten, die mehr an ihrer politischen Karriere interessiert seien als an der Wahrheit. Wenn man den tatsächlich Schuldigen nicht kriege, werde schnell ein anderer präsentiert, nur um sich in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Verbrechensbekämpfer feiern lassen zu können, sagt Krasner. Seine neue Abteilung soll Vorschläge machen, wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden können.
Fragt man den District Attorney nach den vielen Toten in seiner Stadt, spricht er erst mal über die Kriminalitätsrate, die insgesamt gefallen ist. Auch schwere Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung und Raubüberfälle seien weniger geworden, nur Schießereien eben nicht. Dann verweist er auf die anderen Städte. Insgesamt sei die Mordrate in den US-Millionenstädten 2020 um 42 Prozent gestiegen, Philadelphia sei mit 40 Prozent Anstieg Durchschnitt. Auch sei die Zahl der Morde dort, wo es Justizreformen gebe, ebenso gestiegen wie dort, wo weiter der Ansatz tough on crime mit harten Strafen gelte.
„Dennoch ist der Anstieg schrecklich – und er ist schrecklich hoch“, sagt Krasner. Dann spricht er über die Lockdowns während der Pandemie. „Es sind vor allem junge Menschen, die aufeinander schießen. Und was ist mit ihrem Leben passiert? Die Schulen wurden geschlossen, es gab keine Ferienfreizeiten mehr, keinen organisierten Sport, keine Fitnessstudios, keine öffentlichen Schwimmbäder.“ Die Struktur ihres Alltags sei komplett zerstört worden. Dazu komme ein allgemeines Gefühl der Angst: „Wir haben während der Pandemie einen enormen Anstieg der Schusswaffenkäufe gesehen – in einem Land, das sowieso schon mehr Waffen als Menschen hat.“
Betrachte man zudem den Einfluss der sozialen Medien, wo Bilder und Videos der Schießereien ständig zirkulierten und neue Gewalt triggerten, habe man einen Erklärungsansatz. „Die perfekte Antwort habe ich aber auch nicht“, sagt Krasner.
Für seine Gegner ist die Sache hingegen klar. Es liege an den zu geringen Haftstrafen und den zu weichen Deals, die Krasner anbiete – sprich, es fehle die Abschreckung. Als Krasner im Mai dieses Jahres zu den Vorwahlen für seine zweite Amtszeit antrat, unterstützte die Polizeigewerkschaft FOP seinen Gegenkandidaten mit 25.000 Dollar Wahlkampfhilfe. Und parkte einen Eiswagen vor Krasners Behörde, der kostenlos Softeis verteilte, weil der District Attorney so soft on crime sei. Krasner konterte mit einem Unterstützerzitat von Ben Cohen, dem Co-Gründer der Eisfirma Ben & Jerry’s. Der lokale Fernsehsender sprach vom „Eiscremekrieg von Philly“.
Chris Rabb, Politiker
Dass sich ein leitender Staatsanwalt mit der mächtigen Polizeigewerkschaft anlegt, war neu. Aus politischen Gründen hatten sich Krasners Vorgänger mit der FOP stets gut gestellt. Das Amt des District Attorney gilt als möglicher Startpunkt einer politischen Karriere in Pennsylvania. Und um bei einer Wahl zum Gouverneur oder Senator auch in den ländlichen Gebieten des Bundesstaats mit ihrem hohen Anteil an Anhängern der Republikaner eine Chance zu haben, braucht man die Unterstützung der Polizeigewerkschaft.
Krasner gewann die Vorwahlen trotz des Widerstands der Gewerkschaft mit einer Zweidrittelmehrheit. Die FOP repräsentiere auch nicht die heutige Polizei in Philadelphia, betont er. Diese sei mittlerweile viel diverser, während zwei Drittel der Gewerkschaftsmitglieder im Ruhestand seien, die allermeisten weiß und glühende Trump-Anhänger, hängen geblieben in einem Früher, als Polizisten sich noch alles hätten erlauben können. So ist der FOP-Vorsitzende von Philadelphia 2017 dadurch aufgefallen, dass er Black-Lives-Matter-Aktivisten als ein „Rudel tollwütiger Tiere“ bezeichnete.
Sein Verhältnis zu der aktuellen Polizeipräsidentin von Philadelphia sei aber gut, versichert Krasner. „Wir sind uns in 80 Prozent der Dinge einig, in 20 Prozent nicht.“ Als Teil seiner Reformen ließ er auch eine Datenbank mit Informationen darüber anlegen, welchen Polizisten als Zeugen vor Gericht nicht zu trauen sei. Und er wies seine Mitarbeiter an, diese Informationen mit der Verteidigung zu teilen.
Das Police Department und die Polizeigewerkschaft FOP wollten der taz zu den Justizreformen und den Schießereien kein Interview geben. Der Pressesprecher der Gewerkschaft sagt, seine Leute würden meist als die Bösen dargestellt, daran habe man kein Interesse. Dann will er doch nach einem Gesprächspartner suchen, um kurz darauf endgültig abzusagen – leider habe niemand Zeit.
Anders Chris Rabb. In seinem Büro springt er erst mal auf und läuft zu dem Stadtplan an der Wand. Er fährt mit seinem Zeigefinger die Grenzen des hell markierten Bereichs entlang: Es ist der Wahlkreis 200 für das Abgeordnetenhaus von Pennsylvania, gelegen im Nordwesten von Philadelphia. Sein Wahlkreis. „Wir haben hier alles: von sehr armen Menschen über Arbeiter- und Mittelklasse bis zu extrem reichen“, sagt er. 77 Prozent der Wähler sind Afroamerikaner wie er, es gibt eine zivilgesellschaftlich sehr engagierte jüdische Community und viele lesbische Paare.
Wie ganz Philadelphia ist auch Rabbs Wahlkreis fest in der Hand der Demokraten. 2016 schlug er die republikanische Konkurrentin mit 95 Prozent der Stimmen, 2020 stellten die Republikaner gar keinen Gegenkandidaten mehr auf.
Sein Wahlkreis ist von den Schießereien nicht so hart betroffen wie der Nachbardistrikt Germantown. „Aber die Gewalt strahlt aus“, sagt er. In Pennsylvanias Abgeordnetenhaus in Harrisburg sitzt Rabb im Justizkomitee. Er unterstützt die Reformen von Larry Krasner. „ Tough on crime hat noch nie funktioniert. Sonst müssten die USA mit ihren riesigen Gefängnissen das sicherste Land der Welt sein – aber das sind wir offensichtlich nicht.“
Die Verbindung von Gewalt und Armut sei offensichtlich, wenn man sich die Orte der Schießereien anschaue. Und Armut gehe oft mit einer fehlenden Verbindung zur Gesellschaft einher. „Wenn man das Gefühl hat, nirgends dazuzugehören, sich selbst auch nicht als wertvolles menschliches Wesen sieht, weil man nie so behandelt wurde, dann sind einem auch andere Leben egal.“
Aber es komme noch etwas anderes hinzu: die Angst der Schwarzen vor der Polizei. Rabb wuchs in den 70er und 80er Jahren in einer Mittelklassefamilie in Chicago auf. Sein Vater war Arzt, seine Mutter arbeitete für den Bürgermeister. Und trotzdem: Wenn er als Teenager das Haus verlassen habe, habe er Angst gehabt, von der Polizei kontrolliert zu werden. „Ich habe heute als schwarzer Mann mit 51 Jahren immer noch Angst, von Cops angehalten zu werden. Ich habe nicht Angst vor einem bestimmten Officer, aber vor der Institution. Ein furchtbares Gefühl.“ Es gebe keine Sicherheit für die ganze Gesellschaft, solange ein Teil von ihr der Polizei nicht vertrauen könne.
Die Interessen der Abgeordneten
Rabb beschäftigt sich viel mit Möglichkeiten für Reformen. In beiden Kammern des Parlaments von Pennsylvania haben aber die Republikaner seit über 30 Jahren die Mehrheit. Und sie treiben Rabb bei seiner Arbeit im Justizkomitee zur Verzweiflung: „In den vergangenen Jahrzehnten hat Pennsylvania 1.500 Gesetze gegen neue Straftaten geschaffen. Die meisten sind so verfasst, dass sie arme Menschen bestrafen.“
Schwarze und braune Menschen aus Philadelphia sind die größte Gruppe in Pennsylvanias Gefängnissen. Viele sitzen ihre Strafen in Haftanstalten auf dem Land ab. Chris Rabb sagt, die Abgeordneten dieser ländlichen Wahlkreise verbänden mit der Masseninhaftierung konkrete Wirtschaftsinteressen. Für arme Gegenden sei das Gefängnis oft der einzige große Arbeitgeber, es gebe Familien, die dort in der dritten oder vierten Generation als Wärter arbeiteten. „Sie hängen an diesen Jobs, auch wenn es eine psychologisch sehr belastende Arbeit ist.“ Deshalb würden immer neue Gesetze geschaffen, um den Strom der Häftlinge aus Philadelphia nicht abreißen zu lassen.
Rabbs Bilanz der vergangenen Jahre ist bitter. „Eine Mehrheit der Bevölkerung möchte weg von den Masseninhaftierungen, das zeigen Umfragen. Aber solange sie nicht wählen gehen und dieser Überzeugung entsprechend auch abstimmen, spielt das keine Rolle.“ Es habe an den Rändern positive Veränderungen gegeben. „Aber insgesamt gehen wir in Pennsylania weiter in die falsche Richtung. Andere Bundesstaaten kriegen das besser hin.“
Prävention ist das Wort, das man von Anhängern der Justizreformen immer wieder hört, wenn es um die Gewalt unter Jugendlichen in Philadelphia geht. Ein Projekt wird oft als gutes Beispiel genannt: Yeah Philly, ein Jugendzentrum in einem der ärmsten Viertel im Westen der Stadt.
An diesem Donnerstagabend führt Kizzy, schwarzes Kopftuch, schwarze Leggings, weißer Hoodie, eine kleine Runde durch das Wohnhaus, wo Yeah Philly untergebracht ist. Im Keller bedruckt eine Gruppe Jungs an einer Maschine T-Shirts, im Erdgeschoss hängen ein paar Jugendliche vor einem Flatscreen, im ersten Stock zeigt Kizzy die Küche, auf der engen Treppe rennt ständig jemand rauf oder runter.
Kizzy ist 20 Jahre alt, sie setzt sich an einen langen Holztisch mit ihrer Freundin Yanae, 17 Jahre alt. Ihre Nachnamen wollen sie nicht öffentlich machen. „Ich komme jeden Tag hierher“, sagt Kizzy. „Das ist ein zweites Zuhause für mich.“ In ihrem ersten gebe es zu viel Ärger. Yanae nickt. Eine Richterin schickte Kizzy zu Yeah Philly, als letzte Auflage vor dem Jugendgefängnis. „Ich habe eine Oma geschubst“, erzählt sie etwas zögerlich. Eigentlich habe sie mit einem blöden anderen Mädchen auf dessen Veranda gekämpft, die Großmutter sei dazwischengegangen, und, na ja, die sei dann gestürzt. Zuvor war sie wegen mehrerer Handgreiflichkeiten von ihrer Schule geflogen. Mittlerweile mache sie so was aber nicht mehr, versichert Kizzy. Nur an ihrer scharfen Zunge müsse sie noch arbeiten.
Kendra Van de Water hat Yeah Philly 2019 zusammen mit ihrem Freund gegründet. Sie arbeitete damals für die Stadtverwaltung in Gewaltpräventionsprojekten für junge Leute. „Da gab es unzählige Treffen und Besprechungen, aber junge Leute wurden nie dazu eingeladen,“ erzählt Van de Water, 34, am Telefon, weil sie gerade nicht in der Stadt ist. „Den Jungen wurde nicht zugehört.“ Sie entschloss sich, es anders zu machen.
Bei Yeah Philly wird ohne Druck gearbeitet. „Wir schmeißen niemanden raus, auch wenn er wieder Drogen nimmt oder mit Pistole von der Polizei aufgegriffen wird.“ Sie seien eines der wenigen Jugendprogramme, die Leute mit Anklagen oder Bewährungsstrafen wegen Schusswaffengebrauchs aufnehmen, sagt Van de Water. „Zu einem frühen Zeitpunkt kann man jungen Leuten noch am besten helfen, ihren Weg aus dem System der Gewalt zu finden.“
Wer zu Yeah Philly kommt, kriegt individuell abgestimmte Angebote, einen Tutor, Gespräche mit Therapeuten, Workshops, aber vor allem auch Hilfe bei den Basics: Van de Water und ihre Mitarbeiterinnen helfen den Jugendlichen, ihre Geburtsurkunden zu beantragen, ihre Sozialversicherungsnummern, Dokumente, die man für jede Bewerbung auf Jobs, für Wohnungen oder weiterführende Schulen braucht. „Viele haben ihr Viertel oder die Stadt noch nie verlassen“, erzählt sie. „Deshalb machen wir auch viele Ausflüge. Neulich waren wir in den Bergen zelten.“
Viele machten die Erfahrung, dass sich das erste Mal in ihrem Leben jemand um sie kümmere. „Manche nennen mich Mom“, sagt Van de Water.
Yanae und Kizzy nicken, wenn man sie nach den vielen Schießereien fragt, klar kennen sie welche, auf die geschossen worden sei – und welche, die geschossen haben. „Das passiert hier ja jeden Tag“, sagt Yanae. Während der Lockdowns hätte keiner gewusst, was man den ganzen Tag machen sollte, erzählt Kizzy. „Dann war man zu Hause nur im Internet, hat dort gequatscht, auf dieser App Clubhouse. Dann hat einer 'Pussy’ zu einem anderen gesagt, und schon ging es los.“
Yanae hat im Dezember einen engen Freund verloren, er wurde beim Essenholen in einem Asia-Imbiss erschossen. „Es ist diese Mentalität der Jungs, die schießen. Da kann man nicht viel tun“, sagt sie.
Kendra Van de Water glaubt, dass man doch viel tun kann. „Wir müssen die Bekämpfung der Schießereien als einen Teil der gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsvorsorge sehen.“ Sie habe die Erfahrung gemacht, dass man in wenigen Monaten mit gewalttätigen Jugendlichen große Fortschritte mache, wenn man sie aus dem Netz von Armut, Frust und Gewalt befreien könne. Dafür müssten aber genug Mittel zur Verfügung gestellt werden. Am Ende sei das eine Frage des politischen Willens.
Mit ihren Jugendlichen hatte sie im März dafür demonstriert, dass der Bürgermeister die Schießereien als stadtweiten Notstand einstuft. Das hätte mehr Gelder und eine bessere Koordination der verschiedenen Antigewaltprojekte bedeutet.
Der Bürgermeister hat das abgelehnt.
Diese Recherche wurde ermöglicht durch das Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung, Washington, DC.
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