Sexuelle Gewalt an Frauen: Nicht meine Scham

Die Wut bleibt, auch ohne Opferrolle. Geschichten von Betroffenen sexueller Gewalt können anders erzählt werden, findet unsere Autorin Gilda Sahebi.

eine Frau trägt auf der Frauendemo ein lila Frauenzeichen mit Stinkefinger

Wütend wegen der unzähligen sexuellen Belästigungen: ein Mittelfinger Richtung Täter Foto: Stefan Boness/IPON

In ihrem Buch „King Kong Theorie“ schreibt die französische Feministin Virginie Despentes darüber, wie sie mit 17 von drei Männern vergewaltigt wurde. Was sie über ihr Leben nach der Vergewaltigung erzählt, ist bei mir in besonderer Erinnerung. In unserer Gesellschaft, so Despentes, lernen Frauen, schwach zu sein, sobald sie angegriffen werden. Sie schreibt: „Eine Vergewaltigung hat als ein traumatisches Ereignis Spuren zu hinterlassen, die man möglichst sichtbar und dekorativ zur Schau trägt: Angst vor Männern, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Unabhängigkeit.“

An diese Sätze denke ich, als ich das Video „Männerwelten“ sehe. 15 Minuten Länge, beste Sendezeit auf Pro7, Millionen Menschen haben dieses Video inzwischen im Netz gesehen; den Sendeplatz stellten die Entertainer Joko und Klaas zur Verfügung, waren aber an der Erstellung des Videos nicht beteiligt.

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Das Video zeigt Frauen, die sexuelle Belästigung, Missbrauch, Vergewaltigung erlebt haben. Sie sind umgeben von Dunkelheit. Ich sehe bewegungslose Frauen, als seien sie starr vor Angst. Diese Frauen, in diesem dunklen Raum, in diesem Keller, fast wie Puppen. Starr vor Angst? Starr vor Wut? Ich sehe Frauen vor mir, die Opfer sind. Opfer von Männern. Die wohl älteste Erzählung der Geschichte. Einer Geschichte, die von Männern erzählt wird. Und wir glauben sie.

Für mich bringt es „Männerwelten“ wieder hoch: das Gefühl, Opfer zu sein. Ich spüre wieder diese Scham. Sie begleitete mich jahrelang, seit jenem Tag, an dem ich erlebte, was Sex sein kann. Ein Mittel der Gewalt. Ein Mittel der Demütigung. Ein Mittel der Macht. Scham. Sie kroch damals in mich hinein, in meinen Körper, in meinen Geist. Machte mich krank. Zahllose Krankenhausaufenthalte, ratlose Ärzte, ich galt als austherapiert, unheilbar. Ich wusste nicht, dass es das Gefühl war, der Welt ausgeliefert zu sein, und die Angst, die meinen Körper krank machten.

Scham und Schmerz und Wut

In dem Moment, in dem es passiert – sexueller Missbrauch, Belästigung, Hass –, sind wir Opfer. Aber wie lange sollen wir in der Rolle bleiben? Einen Monat? Ein Jahr? Ein ganzes Leben? So lange, wie es sich in unserer männerdominierten Gesellschaft gehört? Müssen wir die Opferrolle immer wieder reproduzieren?

Ich hatte der Erzählung geglaubt. Jahrelang. Ich bin Opfer von Männern. Opfer meiner Geschichte. Opfer meiner Umstände. Die bösen Männer. Sie bringen Scham, bringen Schmerz. Mein Glück, meine Gesundheit, meine Unversehrtheit hängen davon ab, was Männer tun, wie sie sich verhalten, ob sie Frauen respektieren oder nicht. Ich war wütend.

Ich war wütend, wenn ein Oberarzt uns Medizinstudentinnen alle „Uschi“ nannte, weil er keine Lust hatte, sich die Namen von uns Frauen zu merken, während die Männernamen ihm problemlos über die Lippen gingen. Ich war wütend, wenn ein Redakteur mir nächtliche Nachrichten von der Hotelbar schrieb, er denke an mich, er könne viel für mich und meine Karriere tun, wenn ich wollte.

Ich war wütend, wenn ein Mann im Park seinen Penis entblößte und mit ihm vor mir herumwedelte. Ich war wütend, wenn ein Journalist mir, der Praktikantin, abends in einer Bar betrunken die Zunge in den Hals steckte und ich ihn wegstoßen musste, damit er aufhört. Ich war wütend, empört, schockiert. Nur: Hinter all der Wut steckte stets das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Wütend zu sein, aber machtlos. Selbst wenn ich anderen davon erzählte. Selbst wenn ich mich wehrte. Ich blieb in der Opferrolle.

Sich wie ein Opfer verhalten müssen

In unserer Gesellschaft wird von Frauen verlangt, dass sie sich auch wie Opfer verhalten, wenn sie Opfer geworden sind. Eine Frau die, wie Virginie Despentes, beim Trampen vergewaltigt wird und auch nach der Vergewaltigung weiter trampt? Unerhört. Sie hat keine Angst? Sie hat aber Angst zu haben.

Eine Frau, die sexuellen Missbrauch erlebt hat und weiter Lust auf Sex und Promiskuität hat? Unerträglich. Sie ist nicht erschüttert? Sie hat aber erschüttert zu sein. Eine Frau, die vergewaltigt wurde und vor Gericht nicht weint, nicht verängstigt, nicht traumatisiert auftritt? Unglaubwürdig. Sie ist nicht zerstört? Sie hat aber zerstört zu sein.

Eine „starke“ Frau ist eine Frau im Gegensatz dazu nur, wenn sie erfolgreich alle Rollen ausfüllt, die sie auszufüllen hat, und das, ohne sich zu beschweren. Aber warum brauchen wir überhaupt die Bilder von „starken“ Frauen? Warum benutzen wir das Wort „stark“ bei Männern nur, wenn wir sagen wollen, dass sie Muskeln haben? „Frau“ alleine reicht nicht, um mit Stärke in Verbindung gebracht zu werden. Sagen wir nur „Frau“, liegt der Gedanke an Schwäche näher als an Stärke. Das ist die Erzählung.

Als ich ganz unten, im Keller, in der Dunkelheit angekommen war, gezeichnet von Krankheit, lebensmüde, starr, bewegungslos, fragte ich mich: Was, wenn ich mich entscheide, dieser Erzählung nicht mehr zu glauben?

Die Wucht ihrer Geschichten

Ich möchte die Geschichten der Frauen hören, die dort unten im Keller der Männerwelten stehen. Ich bewundere sie für ihren Mut, dort zu stehen und ihre Geschichten zu erzählen. Ich fühle mich ihnen nah, auch wenn ich ihre Erlebnisse nicht nachfühlen kann, weil jeder Mensch ein solches Trauma anders fühlt, erlebt, spürt. Es ist wichtig, dass sie ihre Geschichten erzählen. Nicht nur damit jene sie hören, die sich den Alltag einer Frau in dieser Gesellschaft nicht vorstellen können. Nicht nur, damit sich etwas ändert. Sondern auch, um aus dem dunklen Keller herauszukommen, in dem wir unsere Geschichten jahrelang versteckt haben.

Ja, ich möchte die Geschichten dieser Frauen hören, aber nicht im dunklen Keller. Wir alle müssen uns diesen Geschichten stellen, wir müssen sehen, was in unserer Gesellschaft passiert. Aber wenn Frauen sich selbst aussuchen, wie sie ihre Geschichten sexueller Gewalt erzählen – wäre es wirklich auf diese Art und Weise? In Dunkelheit, in Stille, in Starre? Im Keller? Oder vielleicht doch lieber mit Kraft, mit Licht, mit Macht? Vielleicht mit dem Satz: Ich war Opfer. Aber ich lasse es nicht mehr zu, dass ihr mich immer und immer wieder zum Opfer macht.

Die Wucht ihrer Geschichten würde an nichts verlieren, im Gegenteil, wir würden sehen, wie viel Resilienz und wie viel Lebenswillen es bedarf, um nach einem solchen Trauma weiterzumachen. Wir brauchen keinen Keller und keine geisterhafte Aufmachung, keine Opferinszenierung, um das zu verstehen.

Es wäre ehrlicher gewesen, wenn Joko und Klaas selbst durch die Ausstellung geführt hätten. Es ist ihre Plattform. Ich sehe die Frauen in diesem Video durch einen männlichen Blick. Erstarrt, still, schockiert.

Aus dem Opfergefühl befreit

Und ich sehe, dass es niemandem auffällt, wie verstörend es eigentlich ist, was wir da sehen. Frauen als Opfer zu sehen ist für uns normal. Niemanden stört es, dass die Frauen im Halbdunkel stehen, sich nicht bewegen, starre Gesichter haben, fast geisterhaft wirken, als seien sie nicht mehr richtig lebendig aufgrund dessen, was ihnen angetan wurde. So normal ist es für uns alle, Frauen auf diese Weise zu sehen, dass es uns nicht einmal mehr auffällt.

Es ist nur mein eigenes Gefühl, das ich beschreiben kann. Jede Frau, die sexualisierte Gewalt erlebt hat, hat einen anderen Blick, sieht dieses Video anders, empfindet ihre Geschichte anders. Für mich aber war das Gefühl, Opfer zu sein, ein Gefängnis, in das ich mich selbst geschlossen hatte. Niemand hatte mich dazu gezwungen.

Täter wollen uns ein Leben lang zu Opfern machen. Ich tue ihnen diesen Gefallen nicht mehr

Was mir passiert ist, habe ich mir nicht ausgesucht. Aber ich hatte geglaubt, der Weg nach dem Missbrauch sei vorgezeichnet. Schließlich war es das, was ich überall sah, zu sehen bekam: Frauen, die sexuellen Missbrauch, Übergriff, Hass erleben, sind gezeichnet. Dieser eine Moment, diese furchtbare Zeit in ihrem Leben, diese traumatisierenden Erfahrungen prägen den Rest ihres Lebens, binden sie an den Täter, an die Männer. Das ist nicht wahr. Ich hörte auf, der Erzählung zu glauben.

Heute weiß ich, dass es genau das ist, was die Täter wollen: uns ein Leben lang zu Opfern zu machen. Uns in der Opferrolle zu wissen, ist für sie Genugtuung und Belohnung zugleich. Ich tue ihnen diesen Gefallen nicht mehr. Es war ein langer, schmerzhafter Weg, mich von diesem Opfergefühl zu befreien. Gesund zu werden, zu heilen. Zu verstehen: Es ist nicht meine Scham. Es ist die Scham der Täter. Und ich nehme sie ihnen nicht mehr ab.

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