Serien auf der Berlinale: Dostoevskij, Verbrechen, Supersex
Serien spielen bei der Berlinale keine große Rolle mehr. Das auf dem Podcast „Zeit Verbrechen“ basierende Format hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.
Würde man den Zustand der Serienwelt an der Berlinale ablesen wollen, käme kein gutes Ergebnis heraus. 2015 war das Berliner Filmfestival das erste A-Festival, dass eine eigene Programmreihe nur für Serien eingeführt hatte. Damit trotzten sie allen kritischen Stimmen, die fragten: Serien auf der großen Leinwand, kann das funktionieren?
Seit 2024 kann sich die Berlinale nun auch als erstes A-Festival bezeichnen, das eine eigene Programmreihe nur für Serien wieder abgeschafft hat. Die „Berlinale Series“ ist einer Sparmaßnahme und Umstrukturierung zum Opfer gefallen.
Der erst letztes Jahr eingeführte Serien-Award (der an die wirklich großartige Mafia-Serie „Good Mothers“ ging) wurde abgeschafft und das Angebot radikal gekürzt. In diesem Jahr standen lediglich drei Serien auf dem Programm: zwei italienische Produktionen bei „Berlinale Special“ und eine deutsche bei „Panorama“.
Zwei italienische Serien …
Warum es sich manchmal lohnt, sich mehr als eine Filmlänge Zeit zu nehmen, um eine Geschichte zu erzählen, zeigt die italienische Sky-Serie „Dostoevskij“. Die Macher Damiano und Fabio D’Innocenzo sind bei der Berlinale keine Unbekannten. 2020 haben sie mit dem Film „Favolacce“ (Bad Tales) den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen. Nun sind sie mit einem Sechsteiler vertreten.
Im Zentrum steht ein griesgrämiger Polizist, einsam und bei den Kollegen nicht sonderlich beliebt, der im Zweifel auch mal zuschlägt, wenn ihm etwas nicht passt. Enzo Vitello (Filippo Timi), so der Name des Griesgram, scheint besessen vom Bösen. Er beginnt, Briefe zu schreiben an „Dostoevskij“. So nennen sie auf dem Revier den Serienmörder, weil dieser bei jedem Opfer einen Brief hinterlässt. Darin beschreibt er detailreich den Tötungsvorgang und philosophiert über die großen Schmerzen des Lebens. Es ist alles wahnsinnig depressiv, die düstere Grundhaltung der Serie in blassen Farben und mit kargen Landschaften verstärken das Gefühl.
„Dostoevskij“ erwürgt, erschießt oder erstickt Männer, Frauen und Kinder. Die Opfer erscheinen wahllos und bleiben für die Zuschauer_innen anonym. Der Täter bleibt unsichtbar und die Ermittlung besteht eigentlich nur aus Warten. Wirklich Spannung kommt zu Beginn also nicht auf. Eigentlich ist da nur Enzo, der mit seiner melodramatisch-aggressiven Männlichkeit schnell nervt. Doch mit der Zeit lernt man ihn besser kennen. Lernt, dass er ein Vater ist, der versucht, die beschädigte Beziehung zu seiner Tochter Ambra (Carlotta Gamba) zu retten. Lernt, dass er mit eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Und so gelingt es langsam, sich in das blasse graue Leben des Ermittlers einzufühlen.
Bei der Netflix-Serie „Supersex“ über den wohl bekanntesten Pornodarsteller der Welt, Rocco Siffredi (Alessandro Borghi) funktioniert das mit dem Einfühlen leider nicht so gut. Das fiktionalisierte Biopic erzählt meist chronologisch vom Leben Siffredis. Wie er als Kind aus einfachen Verhältnissen um die Aufmerksamkeit seiner Mutter und die Liebe seines draufgängerischen Bruders Tomaso ringt. Wie der Weg zum Pornodarsteller der einzig logische scheint und er so weltberühmt wird – aber auch mit den Schattenseiten der Branche zu kämpfen hat.
Wer bei „Supersex“ vor allem auf Sexszenen hofft, wird enttäuscht. Auch wer auf ein einfühlsames Porträt der Figur Siffredi gehofft hat, kommt nicht auf seine Kosten. Auch wenn schwere Themen wie das Verhältnis zur Familie, das Hinterfragen von Männlichkeitsbildern oder der Tod nicht ausgespart werden, erscheint einem die Welt in dem Siebenteiler unnatürlich bunt und glatt. Selbst die raufenden Kinder haben keine Knicke oder Flecken auf ihren makellosen bunten Hemdchen.
… und eine deutsche Anthologie: „ZEIT Verbrechen“
Je weniger Serien gezeigt werden, desto mehr Raum bekommen diese zum Scheinen, könnte man mutmaßen. Der deutsche Beitrag hätte diese Aufmerksamkeit in jedem Fall bitter nötig. Noch vor ein paar Monaten waren die Ankündigungen groß: „ZEIT Verbrechen“, einer der erfolgreichsten True Crime-Podcast Deutschlands, kommt jetzt auch als Serie auf den Markt, exklusiv für Paramount Plus. Große Namen für Regie und Schauspiel wurden verpflichtet. Die vier Folgen waren fertig geschrieben, gedreht und geschnitten, doch dann gab Paramount vor wenige Wochen bekannt, die Serie nicht auszustrahlen.
Als Sparmaßnahme streicht der Streaminganbieter radikal nicht-amerikanische Eigenproduktionen zusammen. Auf Anfrage der taz, wieso eine fertig produzierte Serie erst groß angekündigt und dann doch aus dem Programm geschmissen wird, wollte Paramount sich nicht äußern.
Die Premiere auf der Berlinale fand trotzdem statt und nach den vier Folgen wünscht man der Anthologie-Serie ein noch größeres Publikum. Die vier eigenständigen Filme basieren jeweils auf einer der Podcastfolgen, in denen Zeit-Journalistin Sabine Rückert mit ihrem Kollegen Andreas Sentker über große Verbrechen und deren Aufdeckung spricht.
Die erste Folge, „Dezember“, erzählt vom 18-jährigen Tim (Samuel Benito), der davon träumt, wovon 18-Jährige eben so träumen: Von Mädchen, Reisen und Freiheit. Doch eine versoffene Nacht in einer Disco mit Freunden beendet all diese Träume auf einen Schlag. Tim wird am frühen Morgen auf der Landstraße überfahren und stirbt. Ein tragischer Unfall? Oder hätte einer der Menschen, an die Tim in dieser Nacht gerät, ihm helfen können?
Die Folge von Mariko Minoguchi konzentriert sich auf die wenigen Stunden zwischen Tims Abgang aus der Disco und seinem Tod. Es passiert eigentlich wenig, manchmal vergehen Minuten, in denen man lediglich sieht, wie Tim betrunken durch die Gegend torkelt. Dank dieser Langsamkeit lenkt nichts von der Tragik des Falls ab. Denn eines ist am Ende klar: Dieser tödliche Unfall wäre vermeidbar gewesen – wenn Tim nicht an diese zwei Polizisten geraten wäre.
Auf ein deutlich schnelleres Erzähltempo setzt der Film „Der Panther“ von Jan Bonny, in dem Lars Eidinger einen V-Mann mimt, der gleichzeitig seine Tochter aus der Drogensucht holen und die Polizei sowie eine kriminelle Bande abzocken will, um sich selbst ein gutes Leben zu verschaffen. Aber auch in „Love By Proxy“ von Faraz Shariat passiert alles Schlag auf Schlag: Ein Schuss, eine Verfolgungsjagd, eine Abzocke nach der nächsten. Beides eher klassische Krimifolgen, die auf Action, Gewalt – und (ein bisschen) Liebe setzen.
Am stärksten hallt die Folge „Die Brüder“, geschrieben von Helene Hegemann, nach. Vor Gericht stehen fünf Jungs aus Berlin-Rudow. Ihnen wird vorgeworfen, einen Sandkastenfreund mit dutzenden Messerstichen getötet zu haben. Doch wieso sollten sie ihren besten Freund getötet haben?
Dieser Frage gehen die Anwält_innen, allen voran Lavinia Wilson als Anwältin Goldmann, nach. In Rückblicken lernen die Zuschauer_innen den Freundeskreis kennen, erfahren in Bruchstücken etwas über ihr Aufwachsen, ihre Sorgen, ihre Familien und ihre Krankheiten. Und aus diesen Bruchstücken formt sich irgendwann die Antwort auf diese Frage, auf die es eigentlich keine Antwort geben kann, wieso jemand seinen besten Freund tötet.
Soziale Frage statt Aufrechterhaltung der Verhältnisse
Die vier Folgen unterscheiden sich im Ton, in der Länge und auch im Genre. Doch sie verbindet, dass sie keine klassischen Whodunit-Erzählungen sind, in denen Ermittler_innen irgendwelche Verbrecher_innen jagen. Vielmehr geht es der Serie um die Frage nach dem „Warum“. Warum jemand tötet oder wieso eine Tat nicht verhindert werden konnte. Die Antwort beinhaltet eigentlich immer strukturelle Polizei- und Justizkritik. Und damit stellt die Serie ein gutes Gegengewicht dar zum „Tatort“ und was man sonst in der deutschen Krimiwelt gewohnt ist, wo am Ende jeder Folge eigentlich alles wieder gut ist und alle Polizist_innen als Held_innen auftreten.
Auf Anfrage, wie es denn nun weitergehe mit der Serie, sagt die Produktionsfirma X Filme, dass sie es bedauere, dass die Serie nicht bei Paramount ausgestrahlt wird. Und weiter: „Wir sind zuversichtlich, dass wir einen neuen starken Partner finden.“ Für eines ist die Berlinale vielleicht genau der richtige Ort: um einen neuen Abnehmer für die Serie zu finden.
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