Schüsse auf Zeugen Jehovas in Hamburg: Die Täterwaffe und viele Fragen
Schon vor den Schüssen auf Zeugen Jehovas in Hamburg war der Täter auffällig, durfte seine Pistole aber behalten. Nun entbrennt eine Waffenrechtsdebatte.
Klar ist, dass der Attentäter, der 35-jährige Philipp F., einst selbst zu den Zeugen Jehovas gehörte. Laut Polizei hatte er diese aber vor anderthalb Jahren verlassen, „nicht im Guten“. Die Zeugen Jehovas sprechen dagegen davon, F. habe „freiwillig“ die Gemeinde verlassen.
Seit Dezember war er dann Waffenbesitzer, führte als Sportschütze legal eine halbautomatische Heckler&Koch-Pistole – die spätere Tatwaffe. Noch im Januar hatte ein anonymer Hinweisgeber die Waffenbehörde um eine Überprüfung von F. gebeten, da dieser psychisch krank sei und eine besondere Wut auf die Zeugen Jehovas und seinen früheren Arbeitgeber habe. Die Waffenbehörde kontrollierte daraufhin den 35-Jährigen am 7. Februar – hatte aber außer einer herumliegenden Patrone nichts zu beanstanden. Ein Monat später erfolgte die Amoktat, an deren Ende F. auch sich selbst erschoss.
Man werde den Vorgang nun noch einmal prüfen, erklärte Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Tatsächlich muss sich die Polizei nun Fragen stellen lassen. Zwar war Philipp F. strafrechtlich bisher nicht auffällig, seine Website, ein Buch von ihm und von ihm gestellte Anzeigen bestärkten aber den Verdacht einer psychischen Erkrankung.
Ein eigenes Buch mit wirren Gedanken
So bewarb sich der 35-Jährige auf seiner Homepage als angeblich erfolgreicher Unternehmensberater – indes ohne Referenzen, mit religiösen Glaubensbekenntnissen und einem irrwitzigen „Mindesttageshonorar von 250.000 Euro“. Zudem berichtet F. dort von mehreren Anzeigen, die er gegen frühere Arbeitgeber wegen „Finanzbetrugs“ eingereicht habe. Auf seiner Webseite erklärte er, er ermittle dazu „pro bono“.
Zudem veröffentlichte F. im Dezember ein Buch, in dem er auf 300 Seiten über „Gott, Jesus und Satan“ sinniert. Im Vorwort erklärt er, er selbst sei die vergangenen drei Jahre „durch die Hölle gegangen“ – ohne dies weiter auszuführen. Gewidmet sei das Buch einer „besonderen Dame“, die er ebenfalls nicht namentlich benennt. Er sei „der Erste“, der die Geheimnisse von Jesus Christus lüften könne, prahlt er stattdessen. Männer nennt F. die Krönung der Schöpfung, geißelt Prostitution und äußert Verständnis für Russlands Angriff auf die Ukraine. Manches an dem Buch wirkt wie ein Vermächtnis, einem Tatmanifest gleich.
Das alles machte die Waffenbehörde nicht stutzig? Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unterstrich inzwischen jedenfalls die Notwendigkeit ihres bereits zu Jahresbeginns vorgelegten Gesetzentwurfs, mit dem das Waffenrecht verschärft werden soll – den bisher aber die FDP blockiert. Die „furchtbare Tat“ von Hamburg habe „mal wieder gezeigt, wie notwendig Änderungen sind“, sagte Faeser der ARD. Waffenbesitzende müssten auf psychische Auffälligkeiten überprüft, Extremisten „aussortiert“ und Kontrollen verstärkt werden. Ämter sollten sich besser vernetzen.
Faeser pocht auf Waffenrechtsverschärfung
Tatsächlich enthält Faesers Gesetzentwurf gleich mehrere Verschärfungen: Ämter sollen sich künftig regelmäßiger über Erkenntnisse über Waffenbesitzende austauschen, auch über psychische Auffälligkeiten. Waffenbehörden sollen nun auch die Polizeidienststellen und Gesundheitsämter der Wohnsitze aus den vergangenen fünf Jahre abfragen – und Erstantragstellende ein psychologisches Zeugnis vorlegen. Das gilt bisher nur für Unter-25-Jährige. Zudem will Faeser „kriegswaffenähnliche halbautomatische Feuerwaffen“ verbieten.
Die Tatpistole von Philipp F. würde indes nicht darunter fallen. Allerdings hatte er weit mehr Munition besessen, als erlaubt: Bei der Tat feuerte er 135 Schüsse ab, in seiner Wohnung fanden Ermittler weitere 425 Patronen. Faeser kündigte an, sie wolle ihren Gesetzentwurf auf „Lücken“ prüfen.
Auch Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) hatte nach der Tat auf Faesers Gesetzesplan hingewiesen, der „nicht ohne Grund“ vorgelegt worden sei. Unterstützung kommt auch von den Grünen. „Das Verbrechen in Hamburg verdeutlicht auf grausame Art das große Sicherheitsrisiko, das von Schusswaffen ausgeht“, sagte ihr Innenexperte Marcel Emmerich der taz. „Es ist klar, dass weniger private Waffen für die öffentliche Sicherheit besser sind als mehr.“ Die Waffenrechtsreform müsse die Eignung und Zuverlässigkeit von Waffenbesitzenden besonders in den Blick nehmen und dürfe „nicht auf die lange Bank geschoben“ werden.
Auch die Gewerkschaft der Polizei unterstützt eine Gesetzesverschärfung. In den Behörden müsse zudem Personal verstärkt werden. Auch sei die private Aufbewahrung von Sportwaffen zu prüfen.
Die FDP blockiert das Gesetzesvorhaben
Das Problem: Justizminister Marco Buschmann (FDP) und seine Partei blockieren das Gesetz von Beginn an. Die deutschen Waffengesetze seien bereits streng und müssten nur besser durchgesetzt werden, betont die FDP unentwegt. Wenn aber schon geltendes Recht nicht angewandt werde, sei es zwecklos über Verschärfungen zu sprechen. Bis heute fehle eine Evaluation des Waffenrechts, welche die Ampel vereinbart habe. Und auch die deutschen Schützen- und Jagdverbände laufen Sturm gegen Faesers Plan.
Der FDP-Innenexperte Konstantin Kuhle sagte am Sonntag der taz, die Kritik seiner Partei an dem Gesetzentwurf habe Bestand. Vor übereilten Forderungen müsse der Hamburger Fall erstmal aufgearbeitet werden. Grundsätzlich bräuchten Waffenbehörden aber eine bessere Ausstattung. Ein Sprecher Buschmanns wollte sich nicht weiter äußern. Es laufe „weiterhin die Ressortabstimmung“, erklärte er nur. Faeser erklärte dagegen, sie sei zuversichtlich, dass es eine Einigung geben werde.
Der Grüne Emmerich gibt der FDP zumindest in einem Punkt recht: Im Fall Philipp F. stelle sich tatsächlich die Frage, wie konsequent die Behörden auch mit den bisherigen Möglichkeiten den 35-Jährigen überprüften. „Womöglich hätte eine intensive Internetrecherche gereicht, um an Informationen zu kommen, die einen Waffenentzug ermöglicht hätten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach