Schlagloch Kapitalismus: Tötet Angela Merkel ...
... oder ich lasse den Hund auf eure Warhols pissen! Denn die Wahrheit ist: Ein Menschenleben ist weniger wert als ein künstlerisches Anlageobjekt.
N ein, keine Sorge: Ich habe gar keinen Hund. Und ihr habt auch gar keine Warhols, jedenfalls keine echten, auf die ein Hund sowieso nicht pissen könnte, weil sie zu hoch hängen. (Dies ist nur eine Hommage an Schlingensiefs „Tötet Helmut Kohl“).
Wir reden hier auch nicht über Merkel und Warhol, sondern über das dreifache Gesicht des „kapitalistischen Realismus“. So wie der „sozialistische Realismus“ ein Idealbild kollektiver Anstrengung für eine strahlende Zukunft erzeugen sollte, um zur gleichen Zeit alle westliche Dekadenz und den arbeitenden Massen fremde Abstraktion zu meiden, so erzeugt der kapitalistische Realismus ein Trashbild individueller libertärer Obszönität für eine mehr oder weniger glamouröse Gegenwart bei gleichzeitiger Meidung aller ethischen und ästhetischen Begrenzungen.
Kapitalistischer Realismus erzählt von der Freiheit, die man sich herausnehmen kann, wenn man in der Position dazu ist: Das hier ist mein Kommentar, und ich mach damit, was ich will. Solange man ihn mir abkauft. Und ich sage in möglichst lärmiger Form die unangenehme Wahrheit: Dass es in diesem System vollkommen normal ist, dass ein Menschenleben weniger wert ist als ein künstlerisches Anlageobjekt.
ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. In diesem Jahr erscheint: „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, gemeinsam mit Markus Metz verfasst (Suhrkamp). Er lebt in Bayern und Italien.
Würde ich meinen Hund allerdings dazu bringen, einen Warhol anzupinkeln, wäre er selbst Instrument eines zweiten kapitalistischen Realismus. Nämlich des Eingriffs in eine „Wertschöpfungskette“. Das Ruinieren durch Urinieren wäre Kunst, wenn auch eine wertmindernde. Allerdings kann man sich durchaus einen Kunstmarkt vorstellen, der den „Pissed Warhol“ in den Rang eines Metakunstwerks höbe. Es käme, vielleicht, auf den Hund an.
Der Hund als Künstler
Und wenn tatsächlich jemand auf die Idee käme, Angela Merkel anzugreifen? Auch dann fände sich gewiss jemand, der das Attentat zum Kunstwerk erhöbe, ganz wie beim Anschlag auf die Twin Towers, die mancher als „größtes Kunstwerk“ gefeiert hat. Was ein Skandal war, aber auch den Kern dieser Kunst- und Lebenshaltung zeigte: Ein Effekt ist immer bedeutender als Menschenleben.
Dass kapitalistischer Realismus inhuman ist, offenbart sich selbst in seiner dritten, der langweiligsten Variante, nämlich der Ästhetisierung und Dramatisierung des Einverstandenseins. Dieser kapitalistische Realismus will weder etwas „Realistisches“ über das System (Ideologie und Praxis des Neoliberalismus) aussagen, noch will er dessen Effekt- und Spektakelsucht für die eigenen Absichten nutzen. Er geht nur davon aus, dass Mitmachen besser als Draußenbleiben ist. Dieser kapitalistische Realismus übernimmt die drei großen Dogmen des Neoliberalismus:
1. Es gibt keine Alternative.
2. Wer verliert, ist selber schuld.
3. Die Antwort auf eine Krise der Kapitalisierung ist noch mehr Kapitalisierung.
Den kapitalistischen Realismus gibt es in den begeisterten Formen (Kunst, die die Lebensräume der Superreichen dekoriert), mehrheitlich indes in fatalistischen, zynischen und nihilistischen Varianten. Hier vereinen sich Ästhetik, Glaube und Macht. Der kapitalistische Realismus wird zur Grundüberzeugung, zur Metaphysik und zur Ikonografie des Menschen unter dem Neoliberalismus.
Womit wir bei Gerhard Schröder wären. Er ist so etwas wie der „Johannes der Täufer“ des Neoliberalismus im Allgemeinen, des Merkelismus im Besonderen. Seine Politik des „Da kann man nichts machen“ ist, wie nun mehr als deutlich wird, die andere Seite des „Nimm, was du kriegen kannst“. Reden wir nicht über Moral und Bewusstsein, reden wir über den späten Gerhard Schröder als Gesamtkunstwerk des kapitalistischen Realismus.
Er vereint in sich alle drei Varianten. Sein Verhalten, seine „Performance“ weist auf ein ungeklärtes Problem in der Entwicklung von Finanzkapitalismus und Postdemokratie hin, das, verborgen genug, schon im „Bimbes in Tüten“-Happening von Helmut Kohl anklang: Sollen die Vertreter des postdemokratischen Regierens Erfüllungsgehilfen oder besser Mitglieder der neuen Oligarchen-Klasse sein, die die Welt unter sich aufteilt?
Beziehungsweise: Wie viel Millionen muss ein Politiker oder Expolitiker bekommen, damit sich kein Widerspruch zwischen „armem“ Politiker und reicher Klasse auftut? Das kapitalistisch-realistische Gesamtkunstwerk Gerhard Schröder jedenfalls zeigt auf, dass die Sehnsucht nach dem Dazugehören, das sich im kapitalistischen Realismus nun einmal in Geld ausdrückt, stets größer ist als traditionell an Gesetz und Transparenz gebundenes Regierungshandeln. Nicht „Reichsein“ ist der Kern dieser Installation, sondern „Zu-den-Reichen-Gehören“.
Kommt zu spät zum Meeting
Kapitalistischer Realismus ist auch das Wesen unserer Mainstream-Medien. Deshalb betreiben sie, was die Ukraine anbelangt zum Beispiel, ein aktionistisches Phantasma; was die eigenen sozialen Konflikte belangt, eine radikal parteiische Projektion: Das Subjekt ist nicht länger der arbeitende, sondern vielmehr der konsumierende Mensch; nicht der kämpferische, sondern der funktionierende Mensch. Was interessiert mich das Tarifrecht, wenn ich zu spät zu meinem Meeting komme? Kapitalistischer Realismus als Street-Art ist die großformatige Stilisierung endlich befreiter Selbstsucht.
Daher betreibt der kapitalistische Realismus der Mainstream-Medien eine schrille Performance zugunsten der neuen Verhältnisse: die Gier nach neuen Märkten, einschließlich neuer, billiger Arbeitskräfte, die weiterhelfen, die Arbeit im Wirtschaftsraum zu entwerten, und den Hass auf Gewerkschaften und deren Widerstand gegen diese Entwertung. Der kapitalistische Realismus zeigt, dass die Arbeit keine Chance gegen das Kapital hat. Seine Kunst nun liegt darin, dies in gefällige Bilder und Geschichten zu verwandeln. Und damit alle zu erreichen.
Wie jede Kunstrichtung, so ist auch der kapitalistische Realismus durchaus endlich. Es gibt Alternativen. Die Verlierer müssen nur aufwachen. Die Kapitalisierung der Welt ist nicht durch Schicksal, sondern durch Propaganda vorgeformt. Etwas Besseres als den ästhetischen und geistigen Tod finden wir allemal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen