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SPD vor ihrem ParteitagDie Verwandlung des Kevin Kühnert

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Der Leitantrag ist moderat gehalten, die SPD wird wohl für den Verbleib in der Groko stimmen. Mit Kühnert als Vize.

Plötzlich pragmatisch: Kevin Kühnert Foto: Michael Kappeler/dpa

O hne Kevin Kühnert wäre die SPD eine andere. Das ist ein erstaunlicher Satz: Jusochef ist ja wirklich kein einflussreiches Amt. Aber ohne den 30-Jährigen hätte die SPD nun eine andere Führung. Denn erst nachdem der Jusochef auf eine eigene Kandidatur gegen Olaf Scholz verzichtet hatte, unterstützten die Jusos mit viel Verve Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.

Ohne dieses backing wären die beiden heute nicht designierte Parteichefs. Kühnert verfügt zudem über etwas, das in der politischen Klasse selten ist: rhetorisches Talent und eine Intellektualität, die an Robert Habeck erinnert. Deshalb ist es folgerichtig, dass Kühnert nun Vizeparteichef werden will. Einen Jusochef, der Vize-Parteivorsitzender wird, gab es noch nie. Aber in der SPD ist gerade nichts so wie immer.

Das zweite Erstaunliche: Man kann gerade die Verwandlung des als radikal geltenden Jusos, der 2017 der Antigro-Bewegung in der SPD erst richtig Schwung verlieh, in den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD erleben. Kühnert enterte die öffentliche Bühne mit dem Slogan: keine Groko. Nun klingt er deutungsoffen, abwägend, fast diplomatisch.

Einerseits hätte ja die SPD-Basis selbst Ja zur Groko gesagt, andererseits müsse man sehen, was man mit der Union noch zuwege bringen kann. Aber auf keinen Fall dürfe die SPD nur pro forma mit der Union reden und den Bruch unbedingt wollen. Kühnert ist irgendwie noch immer gegen die Groko, aber jetzt, da der Bruch möglich ist, fallen ihm sehr viele Aber ein.

Die SPD darf in dem Spiel um die Große Koalition bei Strafe des Untergangs nicht blindlings auf Raus aus der Groko setzen

Bloß nichts überstürzen. Kühnert schlägt damit den Sound des SPD-Leitantrags an (oder ist es umgekehrt?). Das Himmelsstürmerische, Radikale scheint unmerklich zu verdampfen, Augenmaß, Verantwortungsethik, das Machbare rücken in den Vordergrund. Findet hier statt, wofür die Ex-Jusochefin Andrea Nahles immerhin zwei Jahrzehnte gebraucht hat: die Ersetzung des Oppositionellen, Aufmüpfigen durch Pragmatismus und Machttaktik, das Verschwinden des Prinzipiellen? Geht Kühnert in fast forward den Weg so vieler anderer Jusochefs?

Eher nein. Denn der Rahmen ist seit Samstagabend ja völlig anders. Mit der Wahl der linken Spitze Esken und Walter-Borjans haben sich die Koordinaten, in denen sich die Partei bewegt, komplett verändert. Die SPD darf in dem Spiel um die Große Koalition bei Strafe des Untergangs nicht blindlings auf Raus aus der Groko setzen. Sie muss, falls die Groko zerbricht, einen guten Grund dafür haben. Und der kann nicht sein, dass ein paar Tausend GenossInnen mehr für Esken und Nowabo stimmten als für Scholz und Geywitz.

Die neue Spitze braucht Zeit, um zu finden, was der SPD gerade fehlt: eine einleuchtende Begründung, warum sie die Groko verlässt. Oder warum sie in der Groko bleibt

Der Angriff von CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer zielt auf die schwache Stelle der SPD – ihre Zerrissenheit in Sachen Groko. Ein großer Teil, weit über die Jusos hinaus, hat einfach keine Lust mehr, an der Seite der Union immer kleiner zu werden. Die Durchhalteparolen aus Berlin, das Selbstlob à la: die SPD-MinisterInnen würden den Takt der Koalition bestimmen, klingt in den Ohren vieler, vor allem in NRW, bekannt – und hohl. Denn das fleißige Regieren in Berlin scheint die andere Seite des Verschwindens der SPD – bei Wahlen, aber auch dabei, eine erkennbare eigenständige Kraft zu sein.

Doch ein fast ebenso großer Teil, deren lauteste Stimme der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil ist, will die Groko fortsetzen: wegen der Grundrente und um die auf halber Strecke liegen gebliebene Energiewende umzusetzen. Kramp-Karrenbauers Attacke – Grundrente nur, wenn die SPD sich zur Regierung bekennt – setzt genau dort an. Sie provoziert die Groko-Skeptiker in der SPD, die das für Erpressung halten.

Kühnert und die neue SPD-Spitze scheinen all diese Gefahren zu begreifen – auch welche Risiken schnelle Neuwahlen bedeuten würden. Mit dem moderat gehaltenen Leitantrag, der auf harte Forderungen – wie 12 Euro Mindestlohn sofort oder ein massives Investitionsprogramm sofort – und auch rote Linien für Verhandlungen mit der Union verzichtet, verschaffen sie sich Zeitgewinn. Und sie brauchen Zeit, um zu finden, was der SPD gerade fehlt: eine einleuchtende Begründung, warum sie die Groko verlässt. Oder warum sie in der Groko bleibt. Letzteres ist, wenn man Kühnerts Ausflüge in die Welt der Diplomatie richtig deutet, wahrscheinlicher.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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12 Kommentare

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  • Der Kevin, kein Abschluss in Irgendwas, prekäre Berufsaussichten im realen Leben, da wird man Berufspolitiker zwecks kommoder wirtschaftlicher Existenz. Inhalte...pff. Join Ziemiak, Kge, Roth...unsere Besten

  • Kühnert ist ein Taktiker. Schon bei Nahles hat er sich gewunden. Er ist ein Parteiapparat-Kenner, ein schlaffer Tiger, der schon bald als Bettvorleger landen könnte. Und zwar vor dem Bett von Scholz, wenn er denkt, dass doch alles so bleiben soll, wie es ist. Jetzt sind keine Opportunisten gefragt.

  • Kevin Kühnert ist der Sigmar Gabriel in Neuauflage.

    An der SPD wird sich nichts mehr ändern. In den letzten Tagen habe ich mir wieder ein Buch der berühmten Schmeißfliege, wie Franz-Josef Strauß (CSU) einmal Bernt Engelmann titulierte, zur Hand genommen. In dem Buch "Wir Untertanen" widmet er sich im letzten Kapitel der SPD unter Friedrich Ebert. Diese miese, kriecherische Anbiederung an die Orbigkeit gehört nämlich zur Leitkultur in dieser Partei. Sie ist systemimmanent und wird deshalb auch nie von den Parteigranden, egal ob im Voll- oder Kleinformat, nicht angetastet werden.

    Bis zum endgültigen Untergang wird diese Partei sich bei den Mächtigen einschleimen und auch am Ende nicht vor einer AfD-Koalition zurückschrecken.

    Porträts von irgendwelchen Parteibonzen dienen allein dazu in den Gazetten die Zeilen zu füllen und ein Bild unterzubringen. Mehr nicht. Diese SPD-Astrologie langweilt dermaßen, dass sie mit dem Bericht aus Bonn eines Peter Nowottny oder Werner Höfers Frühschoppen gleichkommt.

    Schlafmittel ohne Rezept, aber wirksam wie bromierte Barbiturate.

    • 8G
      80576 (Profil gelöscht)
      @achterhoeker:

      Anbiederung an die Obrigkeit? Wie das? Ist die SPD doch selbst Teil der Obrigkeit.

  • Netter Versuch, lieber Stefan (zur Erklärung: wie sind seit einem Wochenende in Arnoldshain, als du noch über Film geschrieben hast, per Du), den guten Herrn Kühnert vor der verdienten Klassenkeile am Samstag zu retten. Aber so wichtig geistige Beweglichkeit gerade in der Politik auch sein mag, das hier ging doch ein bisschen zu rasch. Inzwischen scheint das auch Herrn Kühnert selbst aufgefallen zu sein und er hat ein merkwürdiges verquastes Dementi des Dementis hinterhergeschickt. Ein schönes Beispiel für den in der Regel untauglichen Versuch, den Kuchen zu essen und gleichzeitig zu haben.



    Und was die neue Führung angeht: Wenn am Ende auch ohne Scholz Scholz-Politik heraus kommt, hätte sich die SPD das ganze Tamtam auch getrost schenken können. Wie es aussieht, hat die SPD gerade die letzte Chance noch die Kurve vor dem Abgrund zu kriegen verpasst. Es ist eine Tragödie.

  • DkKK. Der kleine Kevin Kühnert.



    Der Mann weiß was Macht ist. Und was man damit unternimmt.



    Der wird aus den 13 Prozent alles rausholen.



    Endlich. Eine Personalentscheidung mit Zukunft.

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Ich habe seine Positionen in der Vergangenheit selten geteilt. Aber er hatte welche. Jetzt entpuppt er sich als oportunistischer Wendehals. Für die eigenen Kariereziele?!

  • 0G
    06313 (Profil gelöscht)

    EIn guter Redner ist er. Dennoch kommt er mir zu altklug-arrogant daher. Er müsste vielleicht etwas an seiner Mimik arbeiten. Außerdem scheint er mit ein Karrierist zu sein, der den Idealisten spielt. Vielleicht irre ich mich aber. Seine Befürwortung, aus der Groko auszusteigen, hat er jedenfalls schon relativiert. Ansonsten gehört er in der Tat zu den derzeit stärksten Persönlichkeiten, die die SPD vorzuweisen hat.

    • 9G
      92489 (Profil gelöscht)
      @06313 (Profil gelöscht):

      Kann man erfolgtreicher Politiker sein ohne karrierist zu sein? Ich finde Kevin kühnert spielt seine rolle als Idealist ausreichend gut, als dass ich ihn vileicht wählen würde.

  • Oje, jetzt vermasseln sie es doch noch. Gegen eine CDU ohne Kandidaten hat die SPD jetzt die Chance, ihre Politik in der GroKo durchzusetzen. Aber nein, lieber wieder wirtschaftliche Kompromisse schließen und weiter so ... ... ... Schade, SPD.

  • Man könnte genügend einleuchtende Gründe finden, um die Groko sofort zu verlassen:



    1. Die Grundrente ist ein Nichts angesichts der Tatsache, dass das Rentensystem grundlegend reformiert gehört und keiner weiß, wie es damit nach 2025 - dann wenn die Babyboomer beginnen, in Rente zu gehen - weitergeht.



    2. Das Klimapaket ist ein Nichts.



    3. Investitionen statt schwarze Null? Nichts in Sicht.



    4. Verkehrswende? Nichts.



    5. Agrarwende? Nichts.



    6. Reform des Gesundheitswesens - z.B. weg von Profitoientierung in der Pflege ? Nichts.



    7. Recht auf bezahlbares Wohnen? Nichts.



    Es ist eigentlich so, dass unsere aktuelle Regierung auf NICHTS was dringend ansteht, erkennbar und mit Nachdruck reagiert.

    • @sujall:

      Na ja, das Problem der Spd ist ja, dass sie alles mit beschlossen hat und ein großer Teil der Spd dahinter steht.



      Wenn ich mir z.B. die Spd in Hamburg und ihre Akteure anschaue und wofür die stehen, nämlich kontra Veränderungen in vielen Bereichen.