Russische Nahostexpertin über Syrien: „Putin hat keine Exit-Strategie“
Erdogan und Putin sprechen über den Krieg in Syrien. Beide kämpfen um Einflusszonen, sagt die russische Nahost-Expertin Marianna Belenkaja.
taz: Frau Belenkaja, Sie gehen von harten Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei aus. Wer profitiert vom heutigen Syrien-Treffen zwischen Putin und Erdoğan in Moskau am meisten?
Marianna Belenkaja: Beide Seiten profitieren. Putin und Erdoğan wissen, dass sie sich einigen und so ihre Beziehungen aufrechterhalten müssen. Jede Seite kämpft hier um Einflussbereiche. Ohneeinander wären Moskau und Ankara wie ein lahmes Pferd. Putin und Erdoğan haben sich bei ihrem Treffen heute nicht mehr als „guter Freund“ angesprochen, wie sie das in der Vergangenheit stets zu tun pflegten. Das Verhältnis hat sich abgekühlt. In Syrien aber brauchen sie einander. Also gehen beide mit Maximalforderungen in ihre Gespräche: Russland will das Ende des Beschusses (durch das türkische Militär), es will den wachsenden Einfluss der USA und Europas auf die Entwicklung des Konflikts verhindern. Die Türkei strebt die Umverteilung von Einflussbereichen in Nordsyrien an, damit die Flüchtlinge hier Platz finden. Dadurch will Erdoğan auch künftig Einfluss auf Assad nehmen.
Und die Syrer?
Das syrische Volk, so unterschiedlich die Gruppen auch sind, kann von den Gesprächen leider kaum etwas erwarten. Die maximale Hoffnung wäre, dass die Waffen schweigen. Aber es sind Russland und die Türkei, die das Schicksal Syriens entscheiden. Ohne Syrien.
Wer ist Schuld an der Eskalation in Idlib?
Sowohl die türkische Seite als auch die russische haben sich nicht an die Abmachungen gehalten, die sie 2018 im Memorandum von Sotschi festgelegt hatten. Zudem war Assad nicht bereit, noch lange zu warten, um auch die Provinz Idlib unter seine Herrschaft zu bringen. Die syrische Armee war hier zu aktiv und hat die sich verschärfende Situation in Kauf genommen.
Jahrgang 1977, hat an der Moskauer Staatsuniversität Arabistik studiert. Sie spricht Hebräisch und Arabisch und arbeitet für die russische Zeitung Kommersant. Schwerpunkt: Naher Osten. Ihre Analysen schreibt sie ebenso für den Moskauer Think Tank Carnegie-Zentrum.
Verfolgt der Kreml eine langfristige Strategie in Syrien?
Ich fürchte nein. Wladimir Putin ist nicht dafür bekannt, strategisch vorzugehen. Er ist ein Taktiker. Die Schritte werden quasi beim Laufen gemacht, sie werden ebenso laufend geändert. Das macht Prognosen nicht einfach. Bei Syrien müssen wir uns auf Überraschungen aller Art einstellen. Die Spannbreite für die Einigung der beiden Präsidenten – und es wird zu einer Einigung kommen, wie es immer wieder zu einer Einigung gekommen war – liegt zwischen der Minimalforderung nach einer Waffenruhe bis zur Maximalforderung nach neuen Grenzen von Einflusszonen. Eine Exit-Strategie hat der Kreml nicht. Daran denkt er nicht einmal.
Wäre ein Kompromiss zwischen Putin und Erdoğan von langanhaltender Wirkung?
Die Einigung wird wohl auch dieses Mal ein reiner Zeitgewinn sein und ein anfälliger Kompromiss. Einigen müssen sie sich, das geht gar nicht anders. Weder Russland noch die Türkei will das Gesicht verlieren. Niemand macht einen Rückzieher, denn wohin sollte ein Rückzieher in dieser Region auch führen? In der Syrienfrage sitzen alle in einer Falle: die Russen genauso wie die Türken, aber auch die USA und Europa. Also arbeitet auch jeder mit dem, was er vorfindet.
Was heißt das für die Zukunft Syriens?
Der größte Schlag für die Russen wäre ein Ausstieg der Türken aus dem Astana-Format, das Moskau, Ankara und Teheran als Plattform für Verhandlungen über die Zukunft Syriens nutzen. Auch eine Annäherung der Türkei mit den USA und mit Europa sähe der Kreml nicht gern. Russland will als Ordnungsmacht wahrgenommen werden. Moskau hat in den vergangenen Jahren gelernt, allen anderen seine Bedingungen zu diktieren und will auch weiterhin beweisen, dass seine Manövrierpolitik auch in Syrien weiterhin funktioniert. Die Türken rücken derweil auch nur schwer von ihrer Position ab. Idlib ist eine harte Prüfung für alle. Und die Syrer wünschen sich, dass das alles einfach vorbei ist. Seit Jahren.
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