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Russen und der Krieg in der UkraineWodka und Tränen

Die im Krieg in der Ukraine gestorbenen Soldaten verklärt der Kreml zu Helden. Viele Menschen in Russland scheinen gefangen in Gleichgültigkeit und Hass.

Zum Sterben in die Ukraine: zerstörter russischer Panzer in der Region Charkiw, Mai 2023 Foto: Michael Brochstein/Zuma Press/imago

Nordrussland/Moskau taz Wenn es Nacht wird im Dorf X, holt Andrei* ein Gläschen. Er befüllt es leise aus seiner silbernen Flasche. „Meine Spezialmischung“, nennt er das, Primasprit mit Wasser. Es ist oft Nacht im Dorf X, fünfzig Kilometer südlich davon verläuft der Polarkreis. Im Winter gibt es hier nur ein paar Stunden Schummerlicht am Tag. „Die natürliche Dunkelheit ist einfacher zu ertragen als die Dunkelheit, die sich über unser Land gelegt hat, die dein Inneres zerfrisst, die auch dann da ist, wenn es hell ist über deinem Kopf“, sagt Andrei und nippt am Gläschen.

Im Fernsehen laufen Hits der neunziger Jahre, es ist seine bewusste Entscheidung, die immer schriller werdende Staatspropaganda nicht in seine Küche zu lassen. „Diese Schufte haben in meinem Haus nichts zu suchen“, fährt er selbst Bekannte an, wenn sie „nur kurz Putins Ansprache“ sehen wollen. Er habe Prinzipien, sagt Andrei.

Sein richtiger Name und sein Wohnort sind verfremdet, auch das ist eine Folge der immer weiter um sich greifenden Repressionen im Land. Die Angst, sie sitzt tief in jedem Menschen hier, die Vorsicht, die Sorge, irgendeine Linie zu überschreiten, auch wenn niemand von ihnen weiß, wo diese Linie ist, wie sie aussehen könnte.

Im „hybriden Totalitarismus“, wie der russische Politikbeobachter Andrei Kolesnikow die russische Staatsform mittlerweile nennt, regiert die allumfassende Willkür. Die Stimmung in Russland? „Wir halten durch“, sagt Andrei.

Putins Untertanen

Zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine an. Tag für Tag Zerstörung, Tod, Leid, weil der russische Präsident Wladimir Putin mit Drohnen, Bombern und Panzern seiner Logik der historischen Gerechtigkeit folgt und von seinem Volk die vollkommene Unterstützung seiner Macht einfordert, die Menschen zu seinen Untertanen macht. Diese, jedes Bürgerdaseins beraubt, unterwerfen sich in Massen den „militärischen Heldentaten“, sie poltern gegen „diese Nazis, die auf unserem Territorium unsere Leute töten“. Sie schauen weg und sagen: „Was ist schon dabei?“

Sie sind so in ihrer Gleichgültigkeit gefangen, dass kein Funken Empathie sie erreicht, scheinbar nichts kann die Millionen Kon­for­mis­t*in­nen in dieser brüchigen Routine erschüttern. Bis dann der Mann an die Front muss, der Sohn im Zinksarg zurückkommt. Sie weinen, sie klagen, den Krieg aber stellen sie nicht infrage.

Sie schlucken die Bitterkeit herunter und schleppen sich ermüdet durch ihr Leben, als wäre nichts geschehen, auch wenn sie wissen, dass etwas Monströses passiert. Manche von ihnen können dieses „Etwas“ nicht in Worte fassen und schieben es weg, als könnten sie sich von der Realität loslösen.

Einige spüren das Unrecht, das sich gegen sie richtet, sie tragen weiße Kopftücher, diese Farbe der Unschuld, und bringen Blumen an die Kremlmauer. „Mein Mann soll zurückkommen von der Front“, fordern sie. Es sollen andere dorthin, die Soldaten, die Freiwilligen, sagen sie dann. Die Systemfrage stellen sie nicht.

Russische Soldatenwitwen legen in Moskau Blumen am Grab des unbekannter Soldaten nieder, 20. Januar Foto: reuters

Es ist schwer, in Russland die Systemfrage zu stellen. Alexei Nawalny hatte sie gestellt, immer und immer wieder. Er tat es auch, ironisch feixend, noch hinter den Mauern seiner Strafkolonie, in der Dunkelheit hinter dem Polarkreis. Er erlag der staatlichen Folter und mit ihm starb auch die Hoffnung vieler Rus­s*in­nen auf Veränderung. Auf eine Zukunft.

Ende der Hoffnungen

Sein Tod ist nach dem Überfall der zweite Schlag innerhalb von zwei Jahren, ein neues „Es darf nicht sein, und es passiert doch vor unseren Augen“, das ihnen jegliche Zuversicht raubt. Sie versuchen, optimistisch zu sein, versuchen, Nawalnys Aufforderung „Gebt niemals auf! Habt keine Angst!“ als Leitlinie für sich selbst in Gang zu setzen. Es gelingt den wenigsten, noch sitzt der Schock zu tief.

Ein neues Grauen, während der Horror vom 24. Februar 2022 sich tief eingegraben hat und weiter anhält. Wie auch nicht? Sie spüren ihr Verlorensein, die Übermacht der Hurrapatriot*innen, der Krakeeler*innen, die ihnen ins Gesicht spucken: „Ihr seid die fünfte Kolonne! Vom Westen beeinflusst! Ihr zieht unser Land in den Dreck!“

Andrei verzweifelt an „solch einem Unvermögen, selbst zu denken“, verzweifelt daran, wie unverfroren der Staat seinen Müttern und Vätern die Söhne entreißt und diese Mütter und Väter sich fügen. Geht es denn anders? „Mein Sohn hat sich dafür entschieden, dem Staat zu dienen. Nun muss er ihn verteidigen, dazu habe ich ihn erzogen“, sagt Andreis Bekannte Lena*.

Wieder diensttauglich

Minuten später ruft dieser Sohn, vor einigen Wochen verletzt aus der Ukraine heimgekehrt, an und berichtet ihr, die Wehrkommission habe ihn wieder für diensttauglich erklärt. In zwei Wochen müsse er wieder einrücken. Lena dreht sich weg, weint und sagt: „Er tut das für unser Land.“

Andrei hat es aufgegeben, sein Umfeld zu belehren. „Das Regime hat die Menschen in die Armut getrieben, sie kämpfen ums Überleben“, sagt er. „Da ist es einfach, ihnen ein Gefühl für die Einmaligkeit und Großartigkeit der russischen Nation unterzujubeln. Sie lassen sich leicht verführen, geben ihre Menschlichkeit fast schon bereitwillig auf.“ Er hatte sich jahrelang politisch engagiert, für „mein normales Land“, ein Russland, „das sich nicht selbst zerstören soll“, und er hatte auch mit Nawalnys Ideen sympathisiert.

Nicht alles an dem Oppositionspolitiker begeisterte ihn, die Kraft des Jüngeren aber, Andrei ist über fünfzig, imponierte ihm, diese Fähigkeit, den eigenen Idealen zu folgen – bis zum Äußersten. Andrei sagt, „solch übermenschlichen Kräfte“ besitze er nicht, und er floh aus der Stadt ins Dorf. Zu nah war ihm der Sicherheitsapparat bei seinen politischen Aktionen gekommen. Er wollte die Freiheit, nicht den Knast. „Natürlich mache ich weiter, aber nicht mehr sichtbar.“

Die zwei Jahre Krieg haben auch in Russland Verheerungen hinterlassen. Tote Soldaten, Tausende Festnahmen Andersdenkender, Verurteilungen wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ und „Verbreitung von Fakes“, Umdichtung der Geschichte, Umformung der Gesellschaft, vom Kindergarten an.

Panzer in der Manege

„72 Prozent aller Kinder von 5 bis 19 Jahren sollen bis Ende 2024 vom patriotischen Bildungssystem erfasst sein“, forderte die für die Sozialpolitik zuständige Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa. Das ist seit Jahren im vollen Gange und äußert sich auch darin, dass bei Familienvorstellungen im Zirkus plötzlich ein Panzer in der Manege steht. Leh­re­r*in­nen haben kein Problem, den Kindern das Lesen und Schreiben mit Texten beizubringen wie diesem: „Tolik will Soldat sein und alle seine Feinde mit seiner Pistole erschießen. Er ist ein Held.“

„Wer die Luft des Terrors atmet, stirbt, auch wenn er zufällig am Leben bleibt“, hatte Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen geschrieben. Die sowjetische Autorin hatte ihren Mann Ossip, der in seinen Gedichten Stalin angegangen war, 1938 im Gulag verloren.

Heute weihen Politiker in ihren Städten Stalinbüsten ein, Schü­le­r*in­nen defilieren vorbei. Sie sehen sich als Teil einer großen Mission und sind Has­se­r geworden, an deren taubblinder Weltsicht jedes Argument abprallt. Es ist ein erheblicher Teil der Gesellschaft. „Es bleiben Wodka und Tränen“, sagt Andrei an seinem Küchentisch im Dorf X. Seine silberne Flasche steht am Fenster.

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7 Kommentare

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  • Danke für diesen sehr guten Artikel.

  • Die Linien, die Andrei mit seinen Aussagen überschreiten könnte, die gibt es in Russland nicht. Er kann wegen fast jeder kritischen Äußerung im Gefängnis landen, so war es in der DDR auch, irgendein Spitzel des MfS hat was von einem „zu Beobachteten“ Subjekt gehört und derjenige befand sich im Verhör der Staatsmacht.



    Die AfD behauptet, es wäre heute wieder so wie zu DDR Zeiten, diese Verschwörertruppe unterstützt aber russisches vorgehen, unfassbar, das es noch Wähler für diese Lügenbolde gibt.

  • Das erinnert schon alles sehr an die dunklen deutschen Zeiten. Wollen wir hoffen, dass es in Russland vor der Revolte nicht erst zum äußersten kommen muss. Nur eins dürfte klar sein, in diesem Zustand ist mit den Russen kein friedlicher Staat zu machen. Traurig, aber leider eine Tatsache.

    • @vieldenker:

      Die Verheerungen des Totalitarismus kommen mit aller Gewalt zurück, sogar im wörtlichen Sinne marschiert man wieder an Stalinbürsten vorbei.



      Deprimierender geht’s kaum, leider funktioniert das Prinzip immer wieder, überall auf der Welt, allerdings erscheint es kaum irgendwo auf der Welt so eng verwoben mit der geistigen Verfasstheit der Menschen wie in Russland.

  • Deprimierend! Und traumatisierend: Das stärkt den Autoritarismus für Generationen.



    Aber das Vorgehen der Obrigkeit in Russland ist wie aus dem Lehrbuch.



    Die Klassengesellschaft: Einige haben eine Klasse über sich und Buckeln, und andere haben eine Klasse unter sich und treten. Und sich im Krieg verheizen zu lassen, wird zur "Ehrensache" verklärt.



    Das Prinzip Loyalität ist ja auch Trumps Erfolgsrezept. Und wer nicht loyal ist, wird verfolgt. Selber denken unerwünscht. Das nennt sich dann "Überlegenheit der weißen Rasse" ...

    • 6G
      605870 (Profil gelöscht)
      @Christian Lange:

      In Putins Russland könnten unsere QuerdenkerInnen und radikalen SystemkritikerInnen mal erfahren, was eine echte Diktatur ist und was es heißt, wirklich unterdrückt zu werden. Vielleicht würden sie dann die Freiheit sogar eine verfassungsfeindliche Partei wählen zu können, mehr schätzen (und die Partei nicht mehr wählen).

      • @605870 (Profil gelöscht):

        Dummerweise funktioniert die altbewährte Gehirnwäsche, kombiniert mit gewaltsamer Unterdrückung, nicht nur in Russland, sondern in vielen anderen Regimen nach wie vor. Das Verhältnis zwischen Diktatur und Freiheit ist erschreckend, und der Orangenmann wird es noch weiter verschieben.

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