Rückkehr in den Weltsport: Streit über Turnen mit Russland
Bei der Turn-EM in der Türkei gehen die Debatten über die Zulassung russischer Athleten für Olympia von vorne los. Der Weltverband befürwortet das.
Die Konkurrenz aus Russland und Belarus ist in Antalya nicht am Start, da sich die Europäische Turnunion (UEG) an der Vorgabe des Weltverbandes (FIG) vom 3. März orientierte, die da lautete, der Ausschluss behalte bis auf Weiteres seine Gültigkeit. Wichtiger noch als Kovtuns Einzelleistung ist der neunte Rang in der Teamwertung, denn damit hat sich das ukrainische Männerteam für die WM im Herbst in Antwerpen qualifiziert, die wiederum der einzige Qualifikationswettkampf für die begehrten Mannschaftsstartplätze bei den Olympischen Spielen 2024 ist. Aufgrund dieses Reglements – der kontinentalen Quotierung für den WM-Start 2023 – schien vor der EM klar: Es wird keine russischen oder belarussischen Teams in Paris geben.
Sport sei „unabhängig von Politik“
Daran sind wieder Zweifel angebracht. Nachdem IOC-Präsident Thomas Bach die Wiederzulassung russischer und belarussischer Sportler bei internationalen Wettbewerben empfohlen hat, zog FIG-Präsident Morinari Watanabe nach. Offiziell reiste er laut Pressemitteilung nach Kyjiw, um an der Trauerfeier für eine ukrainische Trainerlegende der Sportgymnastik teilzunehmen, und – wie es sich so ergibt – er traf auch den Leiter des Präsidialamts Andrij Jermak und den ukrainischen Sportminister.
Sport sei „unabhängig von Politik“, sagte das IOC-Mitglied Watanabe und dann bemühte der japanische Geschäftsmann die liebste unter all seinen Floskeln: die Familie. Nach eigener Darstellung sagte er den Gesprächspartnern in Kyjiw: „Präsident Selenski schützt das ukrainische Volk wie seine Familie. Ich schütze alle Turner der Welt wie meine Familie. Deshalb unterstütze ich die ukrainischen Turner und deshalb verteidige ich das Recht der russischen und belarussischen Turner, die nicht in den Krieg involviert sind, bei Wettbewerben teilzunehmen.“ Wie er dieses Recht umzusetzen gedenkt, werde auf der Exekutivkomitee-Sitzung Mitte Mai entschieden.
Im Hintergrund gehen nun in Antalya die Debatten darüber, was mit Blick auf die Spiele in Paris denkbar ist, von vorne los. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt: Russland wird einlenken und sich lediglich im Frühjahr über die Weltcupserie für Einzelstartplätze bewerben. Das wäre – mal angenommen das Reglement für die Turn-Olympiaqualifikation spielt überhaupt noch eine Rolle – der einzige regelkonforme Weg. Aktuell, dies hat die russische Teamchefin Valentina Rodionenko erklärt, bemühe man sich um eine Teilnahme an den Asiatischen Meisterschaften Anfang Juni. Dort qualifizieren sich fünf Teams für die WM in Antwerpen, doch bislang ist nicht entschieden, ob der Kontinentalverband Russland zulässt.
Die FIG-Exekutive entscheidet, dass russische und belarussische Aktive bei der WM in Antwerpen starten sollen. Doch wie soll das umgesetzt werden? Punktzahlen bei verschiedenen Turnwettbewerben sind nicht vergleichbar wie Ergebnisse eines 1.500-Meter-Laufes. Um wie viele Turner soll es gehen? Einer, zwei, drei oder gar vier – das wäre dann schon die Mannschaftsstärke. Oder: Thomas Bach wird die Russen einfach in Paris als 13. Team setzen. Immerhin ist Russland in Tokio 2021 Mannschaftsolympiasieger bei den Männern und den Frauen geworden. Alles scheint möglich.
Am Wochenende hat Ilia Kovtun in Antalya noch vier Medaillenchancen an einzelnen Geräten, Teamkollege Igor Radivilov steht im Finale an seinem Spezialgerät Sprung. Falls FIG-Präsident Watanabe russische und belarussische Turner zugelassen werden, könnte diese EM für die Ukrainer der vorerst letzte internationale Auftritt sein. Die Sportler der Ukraine sind von der Regierung angewiesen worden, Wettbewerbe zu boykottieren, an denen Athleten aus Russland oder Belarus teilnehmen.
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