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Rituale und RationalitätWarum wir den Jahreswechsel gebührend feiern sollten

Rational betrachtet ist Silvester ein Tag wie jeder andere. Aber wie kann das sein, wenn die Luft golden ist und etwas Neues beginnt?

Wenn die Luft golden ist und ein neues Jahr beginnt Foto: Waßerführer/imago

S ilvester einfach mal nicht feiern, rät mir meine Kollegin, „ist doch auch nur ein Tag wie jeder andere“. Die Wörter erzeugen ein fiependes Störgeräusch in meinem Ohr. Jeder schnöde Donnerstagabend sei besser als die Silvesternacht, zu viele Erwartungen, die eh nicht erfüllt werden, zu viel Stress, zu viel Alkohol. Mich macht diese Vorstellung traurig. Keine Pfannkuchen mit Pflaumenmus, weder Wachsgießen noch gemeinsam Runterzählen, sich um Mitternacht nicht lange in den Armen liegen? Ich habe doch schon extralange, bunte Wunderkerzen gekauft. Kann ich das schaffen, Silvester nicht feiern?

Klar, rational betrachtet ist es einer von 365 aufeinanderfolgenden Tagen. Dann ist die Erde einmal um die Sonne gekreist und wir fangen wieder bei eins an zu zählen. Aber der Jahreswechsel ist für mich aufgeladen wie kein anderer Tag: reflektieren, zwanzig Jahresrückblicke schauen, die Wäsche darf auf keinen Fall hängen bleiben, sonst nimmt man den alten Dreck mit ins neue Jahr. Ich schreibe Wünsche auf Papierschnipsel und verbrenne sie am offenen Fenster. Man muss eine rote Unterhose tragen, für die Liebe!

Diese etwas quatschigen Rituale geben mir Halt. Ich kann kaum etwas beeinflussen, aber wenn ich alle Regeln befolge, liegt es immerhin nicht an mir, dass es im neuen Jahr auch Regentage geben wird. Psy­cho­lo­g:in­nen sprechen von Kontroll­illusion – und die kann eine erstaunlich starke Wirkung haben. Zum Beispiel bei Sportler:innen, die an die Kraft ihres Glücksbringers glauben. Vergessen sie diesen am Wettkampftag zu Hause, kann ihre Leistung darunter leiden.

Wenn ich Silvester einfach ignoriere, die Wäsche von einem Jahr ins nächste trocknet und ich jeden Tag wie den vorherigen betrachte, was bleibt dann von der Magie im Leben?

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Alles rational zu sehen ist, wie vor einem vollen Frühstückstisch zu sitzen, mit Marmelade, Käse, fein geschnittenen Gurken, Butter, Nutella – und die Scheibe Brot dann trocken zu essen. Wie langweilig.

Wenn ich Silvester einfach ignoriere und jeden Tag wie den vorherigen betrachte, was bleibt dann von der Magie im Leben?

Dann lese ich noch, dass der erste Mann im All, Juri Gagarin, auf dem Weg zur Startrampe noch mal aus dem Bus gestiegen sein soll und gegen den Hinterreifen gepinkelt hat. Seitdem gibt es unter russischen Raum­fah­re­r:in­nen das Ritual, vor dem Raketenstart den Reifen mit Urin zu begießen. As­tro­nau­t:in­nen vertrauen den Gesetzen der Physik so sehr, dass sie sich in eine Rakete setzen und ins Weltall schießen lassen. Und trotzdem haben sie dieses Ritual vor dem Abflug, das ihnen Glück bringen soll. Das ist eine Bankrotterklärung an den Rationalismus, beschließe ich.

Also sitze ich an Silvester schon um 16 Uhr mit meinen Freun­d:in­nen im Halbkreis um einen Beamer und esse extra viele Pfannkuchen. Je­de:r hat eine Powerpoint-Präsentation mit dem persönlichen Jahresrückblick erstellt. Wir jubeln nochmal über besiegte Krankheiten, bestandene Prüfungen und neue Wohnungen. Um Mitternacht stehen wir auf einer Brücke, umarmen und küssen uns. Die Luft ist für einen Moment golden. Weil irgendwer gegenüber eine ausdauernde Feuerwerkbatterie gezündet hat, aber auch weil etwas Neues beginnt, da bin ich mir sicher.

Auf uns warten noch genug normale Donnerstage in diesem Jahr.

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Sophie Fichtner
Redakteurin
Ist Redakteurin im Zukunftsteil der wochentaz. Sie hat die Deutsche Journalistenschule in München besucht und Politikwissenschaften in Berlin und Lissabon mit Schwerpunkt auf Menschenrechten studiert.
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3 Kommentare

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  • Ein bisschen zyklische Weltanschauung ist ja auch nicht falsch: siehe Landwirtschaft und Saisons.



    Gleich ins verklärt Irrationale muss man ja dennoch nicht.



    Nur, wer's unbedingt will oder zu brauchen meint.

    Ansonsten Zeit für die alte Weisheit: Böll statt Böller!

  • Ich habe in der Tat nicht gefeiert und es war bis Mitternacht sehr entspannend. Dann ging das Geknalle los und ich saß mit meinen 2 Katzen im Flur auf dem Fußboden mit den zu den Zimmern geschlossenen Türen, um so gut wie möglich die Geräuschkulisse zu mindern und die verschreckten panischen Tiere zu beruhigen. Wir spielten 90 Minuten Katzenangeln jagen und es gab Katzenwürstchen gegen den Stress. Gerne hätte ich meinen Tieren und mir diesen Unsinn erspart.

  • „Wenn ich Silvester einfach ignoriere und jeden Tag wie den vorherigen betrachte, was bleibt dann von der Magie im Leben?"



    Was bleibt statt der Magie?



    Des Alltags Vorschlaghammer-Poesie.



    Da naht sie schon,



    Als Beispiel die:



    Kontroll­ollillusion.



    --



    Prost Neujahr!