Rigides Abtreibungsverbot in El Salvador: Wo Fehlgeburt ein Verbrechen ist
El Salvador hat eines der schärfsten Abtreibungsgesetze weltweit. Bis zu 30 Jahre Haft droht Schwangeren. Doch es gibt Widerstand.
D as Frauengefängnis von Ilopango in El Salvador, elf Kilometer von der Hauptstadt San Salvador entfernt, ist ein rauer Ort. Hinter blauen Gitterstäben sitzen die Frauen zu Dutzenden in Zellen auf dünnen Metallpritschen, mit eingefrorenen Gesichtern. Eine Fotoserie zeigt Einblicke in die „Hölle“, wie einige Gefangene das Gefängnis nennen.
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Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, es gibt zu wenige Toiletten für zu viele Häftlinge, und auch die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Doch das größte Problem ist die Überbelegung. Bis zu vierzig Frauen teilen sich eine Zelle, einige müssen auf dem Boden schlafen. Für maximal 225 Gefangene ist das Gefängnis ausgelegt – Medien berichten jedoch von bis zu 2.000 Inhaftierten, davon zahlreiche mit kleinen Kindern.
Die Frauen sitzen hier wegen Bandenkriminalität oder Diebstählen. Oder wegen eines Verbrechens, das keines sein dürfte.
So wie Cinthia Marcela Rodríguez Ayala. Zehn Jahre und neun Monate ihres Lebens hat sie im Frauengefängnis Ilopango verbracht. Sie war 19, als sie blutend in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, nachdem sie im achten Monat ihr Baby verlor. Noch während man sie behandelte, sei sie an Beinen und Armen gefesselt worden, erzählt Rodríguez der taz. Eine Krankenschwester hatte sie an die Polizei verraten, das geht aus den Gerichtsakten hervor. Der Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft: schwerer Totschlag. Was jedoch tatsächlich passiert war: Rodríguez hatte eine Fehlgeburt erlitten.
El Salvador ist eines der Länder mit den weltweit härtesten Abtreibungsgesetzen. Unzählige Frauen müssen in El Salvador als Folge einer Fehlgeburt oder eines gynäkologischen Notfalls jahrzehntelange Haftstrafen absitzen. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung waren es zwischen 2000 und 2019 allein 181 Frauen, die für Abtreibung oder Fehlgeburt unter Anklage gestellt wurden. In vielen Ländern weltweit sind Schwangerschaftsabbrüche illegal. Doch in kaum einem Land werden die Strafen so hart durchgesetzt wie in dem stark konservativ-religiös geprägten El Salvador.
Totgeburt, Fehlgeburt oder gynäkologischer Notfall – es ist egal, wie eine Schwangerschaft beendet wird, ob gewollt oder ungewollt, ob freiwillig oder unfreiwillig. Stirbt der Embryo oder Fötus, gilt es als Mord oder Totschlag. Auch, wenn eine Frau vergewaltigt wurde, ihr Leben durch die Schwangerschaft bedroht ist oder sie noch ein junges Mädchen ist. Die Tat gilt als „Verbrechen im Zusammenhang mit einem Menschenleben“, so steht es im Gesetz.
Dieser Text erzählt die Geschichten von drei Frauen und ihren Unterstützer:innen. Rodríguez, die ihr Kind im achten Monat verlor und dafür ein Jahrzehnt im Gefängnis saß. Beatriz, die ihre Schwangerschaft nicht überlebt hätte und mit ihrem öffentlichen Abbruch das Justizsystem herausforderte. Und der Fall Manuela, der im Dezember 2021 zu einem historischen Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs geführt hat.
Es ist eine Geschichte von Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit. Von einem Justizsystem, das reproduktive Rechte missachtet, und einer Gesellschaft, die dabei zusieht. Von Menschen, die sterben, weil das Gesetz sie nicht schützt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Aber es ist auch eine Geschichte von dem Kampf für Menschenrechte und der Hoffnung auf Veränderung.
Rodríguez: bestraft für eine Fehlgeburt
Die Geschichte von Cinthia Marcela Rodríguez Ayala beginnt am 3. Juli 2008. Rodríguez, damals 19 Jahre alt, ist im achten Monat schwanger. Sie lebt in armen Verhältnissen am Rande von San Salvador, arbeitet als Reinigungskraft in einer Textilfabrik.
Die Schwangerschaft hatte sie nicht geplant, das Kind wollte sie trotzdem behalten. Sie sei allein zu Hause gewesen, als das Baby kam. Aber, so erzählt sie es, das Kind war tot. Vom Schock sei sie wie benebelt gewesen, blutend habe sie Hilfe bei einer Nachbarin gesucht. Die bringt sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Dort wird sie betäubt. „Als ich wieder aufwachte, wollte ich mein Baby sehen“, erinnert Rodríguez sich. „Aber ich war gefesselt.“ Eine Krankenschwester hatte die Polizei gerufen: wegen illegaler Abtreibung.
Drei Tage verbringt sie im Krankenhaus, bevor sie in das Frauengefängnis von Ilopango gebracht wird. Dort beginnt ihre Befragung. Angezeigt ist sie nun nicht mehr nur wegen Abtreibung, sondern, so steht es in den Gerichtsakten, nach Artikel 129-1 in Verbindung mit Artikel 20 des Strafgesetzbuchs wegen „homicidio agravado“. Schwere Tötung.
Geld für eine:n Anwält:in hat sie nicht, und der ihr gestellte öffentliche Anwalt, so sagt sie heute, habe ihr nicht geglaubt, dass sie eine Totgeburt hatte. Er sei ihrer Bitte nicht nachgekommen, selbst vor Gericht aussagen zu wollen. Und bei der nächsten Anhörung habe der Anwalt bereits wieder gewechselt. „Niemand hat sich wirklich mit meinem Fall beschäftigt“, sagt Rodríguez.
Die Prozessakten zeichnen das Bild einer Mörderin. Rodríguez habe das Neugeborene beim Durchschneiden der Nabelschnur mit einer Schere tödlich verletzt. Ein Beweis dafür sei, dass die Leiche des Babys später in einer Tasche gefunden wurde. Aber: Die Nabelschnur war bereits bei der Geburt um den Hals des Babys gewickelt. Rodríguez selbst sagt, das Neugeborene sei bereits bleich gewesen, sie habe die Schnur durchgeschnitten, um dem Kind zu helfen.
In den Akten wird sich auf die Obduktion der Leiche berufen. Demnach sei das Baby an Verletzungen am Hals durch die Schere, mit der die Nabelschnur durchtrennt wurde, verstorben.
Aber: Es gibt einen weiteren Bericht, den ein unabhängiger Gerichtsmediziner auf Anfrage von Rodríguez’ Unterstützer:innen, denn diese gibt es auch, verfasst hat. Auf Grundlage der Prozessakten und des vorliegenden Obduktionsberichts hat er den Fall erneut bewertet. Beide Berichte liegen der taz vor.
Der Verfasser, Professor und Direktor der Forensik an der Universität von Kentucky, kommt darin zum Schluss, dass die im Obduktionsbericht angeführten Gründe dafür, dass Rodríguez ihr Baby getötet haben soll, medizinisch nicht haltbar sind. Ein sogenannter Float-Test der Lunge, der klären sollte, ob das Baby bei der Geburt bereits tot war oder noch lebte, sei „unzuverlässig“, so der Arzt. Der Obduktionsbericht aus El Salvador, der eine Grundlage für Rodríguez’ Verurteilung war, komme zu falschen Schlüssen.
Rodríguez selbst beteuert, dass sie ihr Kind nicht umgebracht hat. Sie ist heute 33 Jahre alt. Eine lebensfrohe Frau, die sich liebevoll um ihre kleine Tochter kümmert. „Wenn jemand einen Schwangerschaftsabbruch will, dann wartet man doch nicht bis zum achten Monat damit.“
Am 20. August 2009 um 14 Uhr wird Rodríguez zu 30 Jahren Haft verurteilt. Vor Gericht spielt es keine Rolle, ob sie das Kind willentlich getötet oder eine unfreiwillige Totgeburt erlitten hat. Beides gilt in El Salvador vor dem Gesetz als Mord.
Cinthia Marcela Rodríguez Ayala war über zehn Jahre im Gefängnis
Im Frauengefängnis von Ilopango ist ihr Ruf sofort klar: Rodríguez, eine Kindermörderin. Wenn sie von der Zeit im Gefängnis erzählt, dann zittert ihre sonst kraftvolle Stimme. Sie sagt, ihre Mithäftlinge hätten sie geschlagen. Ihre Familie habe sie nicht besuchen können, weil sie sich die notwendigen Ausweispapiere nicht leisten konnten. Sie sei einsam gewesen. Ein psychologisches Gutachten attestiert: Sie war depressiv und suizidgefährdet, litt unter postpartalem Trauma.
Erst als sie das „Colectiva Feminista para el Desarrollo Local“ kennenlernte, habe sie wieder Mut gefasst. Das feministische Kollektiv für die lokale Entwicklung, wie die Gruppe zu Deutsch heißt, unterstützt seit 2006 Frauen, die wegen des Abtreibungsgesetzes in Haft sind.
Gemeinsam mit der „Zivilgesellschaftlichen Gruppe zur Dekriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen“ helfen sie Frauen, deren Rechte durch den Staat beschnitten werden. Seit 2004 engagieren sie sich für die Freilassung der Inhaftierten, finanzieren juristische Betreuung, schaffen Öffentlichkeit für die Fälle, rollen sie vor Gericht neu auf. Ein 13-seitiger Bericht über den „Fall Cinthia“, gespickt mit Quellen und Belegen, stützt Rodríguez’ Aussagen.
Das Kollektiv hat Rodríguez während ihrer Gefängniszeit unterstützt, sie mit Hygieneartikeln versorgt, ihr juristische Unterstützung zugesagt. „Ich habe neue Hoffnung bekommen“, sagt Rodríguez. „Dank dieser Menschen, die draußen für unsere Freiheit gekämpft haben.“ Rodríguez ist motiviert, holt ihr Abitur aus dem Gefängnis nach. Und wartet sehnsüchtig auf ein Leben außerhalb des Gefängnis.
Am 8. März 2019, dem internationalen Frauentag, wird Rodríguez neben zwei anderen Häftlingen aus dem Frauengefängnis Ilopango entlassen. Nachdem das Colectiva Feminista ihren Fall mit Hilfe von Anwält:innen zur Revision eingereicht hatte, reduzierte das Oberste Gericht die Haftstrafen der drei Frauen jeweils von 30 Jahren auf etwa zehn Jahre und ordnete ihre Freilassung an.
Es gibt ein Video dieser Freilassung. Rodríguez, im weißen T-Shirt und Jeans, lächelt. Der Presserummel ist groß. Sie umarmt ihre Familie, das Gesicht voller Freude und Erleichterung, vielleicht auch ein wenig Triumph. Sogar der anwesende Minister für Justiz und Sicherheit sagt: „Der Staat muss diese Gesetze evaluieren.“
Morena Herrera kämpft für die Frauen
Morena Herrera ist die Vorsitzende des Colectiva Feminista und eine der bekanntesten Frauenrechtsaktivistinnen des Landes. Im Dezember 2021 sitzt die 62-Jährige mit rund einem Dutzend Aktivist:innen der Gruppe in einem großen, hellen Saal eines alten Kolonialhauses in der Kleinstadt Suchitoto und bilanziert das vergangene Jahr. Das Treffen findet geheim statt.
Morena Herrera kämpft diesen Kampf schon seit vielen Jahrzehnten. Wenn sie erzählt, dann tut sie das ohne Punkt und Komma. Sie kennt die feministische Geschichte El Salvadors genau, kann sich an jedes Detail erinnern, an jede Anhörung, jeden Meilenstein, sogar an die Gefühle, die sie damals hatte. Insbesondere an den 27. April 1998. Es war der Tag, an dem die Neugestaltung der Abtreibungsgesetze diskutiert wurde. Zuvor wurden Abbrüche zwar bestraft, aber es gab Ausnahmen – wie gynäkologische Notfälle oder Fehlbildungen des Fötus.
Dieses Gesetz sollte nun, nach den Vereinbarungen des Friedensvertrags und durch den starken Einfluss der katholischen Kirche bei diesen, verschärft werden. Bei der legislativen Versammlung war auch Herrera mit ihrer Gruppe anwesend, sie war damals 36. „Es war eine lange Nacht“, erinnert sie sich. „Und ich hatte das Gefühl, dass heute Nacht eine Entscheidung fällt, die schwere Konsequenzen für die Frauen in diesem Land hat.“
Sie sollte recht behalten. In jener Nacht wurde die Grundlage geschaffen für die bis heute existierende Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Noch während Herrera eine Rede darüber hielt, warum die Verschärfung der Gesetze einen massiven Einschnitt in die Rechte von Frauen bedeute, wurde die Live-Übertragung der Versammlung im Fernsehen abgebrochen, so erzählt sie. Nur wenige Minuten später sei die Entscheidung gefallen. „Und wir gingen hinaus und weinten.“
Die Entscheidung schwächte die feministische Bewegung nachhaltig. „Es gab zwar eine kraftvolle Demonstration im Anschluss“, sagt Herrera, „aber danach folgte für mehrere Jahre eine Stille.“ Warum? „Ich denke, es gab eine Selbstzensur, aus Angst, dass wir selbst verurteilt werden.“
Morena Herrera ließ sich jedoch nicht entmutigen. Sie untersuchte weiter Fälle, schloss Netzwerke und trieb zusammen mit internationalen Unterstützer:innen Untersuchungen voran.
So lernte sie 2006 erstmals eine Frau kennen, die eine 30-jährige Haftstrafe aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs verbüßte. Mithilfe einer argentinischen Anwältin und Untersuchungen der Universität von Granada konnten sie den Fall vor Gericht neu aufrollen und juristisch darlegen, dass es sich nicht um Mord, sondern um einen gynäkologischen Notfall handelte. Die Frau wurde 2009 vorzeitig entlassen. Es war der erste große Durchbruch.
Die Gruppe um Herrera wuchs danach stetig, der Großteil des rund 15-köpfigen Teams arbeitet ehrenamtlich, bis auf eine Festangestellte. Mithilfe der Unterstützung des Kollektivs wurden inzwischen 181 Frauen betreut und davon 77 aus der Haft befreit.
Ihr größter Erfolg: Das Urteil im Fall „Manuela und andere vs. El Salvador“. Ein Fall, der in den vergangenen Jahren zum Symbol für Frauenrechte in dem zentralamerikanischen Land wurde.
Manuela stirbt im Gefängnis an Krebs
Manuela, der zum Schutz öffentlich ein anderer Name gegeben wurde, ist eine Frau, die aus einer armen, ländlichen Gegend kam. Sie war Analphabetin, lebte mit ihrer Familie in prekären Verhältnissen. Auch sie war zuvor wegen schwerer Tötung an ihrem Neugeborenen inhaftiert worden. Am 28. Februar 2008 hatte die Polizei die Leiche des Babys in einer Klärgrube nahe ihrem Haus gefunden. Umgebracht hatte sie es nicht, das Kind war bereits tot, als es auf die Welt kam. Dennoch wurde auch Manuela zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Noch zwei Jahre lebte sie in Gefangenschaft, bevor sie 2010, mit Handschellen an das Krankenhausbett gefesselt, an Lymphkrebs verstarb.
Im November 2021 urteilte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof nach einer über zweijährigen Prüfung: Der Staat hat sich schuldig gemacht in der Verletzung persönlicher Freiheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, des Rechts auf Leben und Persönlichkeit sowie der Verletzung der Unversehrtheit, des Privatlebens und der Gesundheit von Manuela. Zum ersten Mal wird der Staat von einem internationalen Gericht für die Verletzung der Menschenrechte durch das rigide Abtreibungsgesetz verurteilt. Die BBC spricht von einem „historischen Urteil“.
Morena Herrera ist Vorsitzende des Colectiva Feminista
In dem dreizehnseitigen Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs zum Fall Manuela heißt es, die Sicherheitsverwahrung sei „willkürlich“ gewesen und habe das Recht auf Unschuldsvermutung verletzt. Außerdem sei das Fehlen einer ordnungsgemäßen Prüfung des Falles auf „Vorurteile und negative Geschlechtsstereotype“ zurückzuführen. Weiter heißt es, „Manuela wird ab dem Moment, ab dem sie medizinische Versorgung braucht, diskriminiert. Vom Staat erhält sie weder medizinische Behandlung noch widerfährt ihr Gerechtigkeit“.
Es sind vor allem Frauen in Armut, die unter dem Gesetz leiden. Oftmals leben sie in ländlichen Gebieten, sind unterernährt, ohne Zugang zu fließendem Wasser. Private Krankenversicherungen sind teuer, die staatliche Versorgung ist mangelhaft. Weil sie kaum Zugang zu medizinischer Versorgung haben, erleiden sie öfter gynäkologische Notfälle oder Fehlgeburten. Die wenigsten können sich eine medizinische Betreuung der Schwangerschaft überhaupt leisten.
Und auch Frauen, die eine Schwangerschaft bewusst abbrechen wollen, haben es schwer. Unbegleitete Abbrüche können lebensgefährlich ein. Laut der WHO zählen illegalisierte Abtreibungen zu den Gründen, die am häufigsten zu Müttersterblichkeit führen. Jedes Jahr sterben demnach bis zu 13,2 Prozent der Schwangeren wegen unsicherer Abtreibungen. Für El Salvador gibt es keine Statistik, die die Toten zählt. Zu oft passieren die Eingriffe im Geheimen. Zum Beispiel mit einem verbogenem Kleiderbügel, die sich die Schwangeren vaginal einführen. Viele verbluten dabei.
Es gebe zwar klandestine Netzwerke, um an Medikamente für Schwangerschaftsabbrüche zu kommen, aber die wenigsten Frauen hätten zu diesen überhaupt Zugänge, sagt Morena Herrera. Die Eingriffe seien teuer, oftmals mehr als tausend Dollar. Solange Schwangerschaftsabbrüche verboten bleiben, zwingt es die Frauen daher in eine gefährliche Illegalität. Herrera sagt: „Das Abtreibungsverbot in El Salvador tötet Frauen.“
El Salvador ist ein extrem konservatives Land, in dem sowohl die katholische Kirche als auch evangelikale Fundamentalisten massiven Einfluss auf die Politikgestaltung des Landes haben. Etwa die Hälfte der Bevölkerung identifiziert sich als katholisch, rund 33 Prozent als evangelisch.
Anhänger der sogenannten Lebensschutzbewegung und Anti-Abtreibungs-Lobby sind auch im Parlament breit vertreten. Schwangerschaftsabbrüche, so der Glaube, seien in jedem Fall der Mord an ungeborenem Leben. Egal, ob das Leben der Schwangeren dabei selbst gefährdet ist oder sie das Kind gegen ihren Willen verliert.
Erst im Oktober 2021 hatte die gesetzgebende Versammlung einen Antrag auf eine Reform des Abtreibungsgesetzes abgelehnt, die die Zivilrechtsgruppe rund um Morena Herrera eingereicht hatte. Es war die vierte Initiative, die dem Kongress seit 1998 vorgelegt wurde. Von 84 Abgeordneten lehnten 73 die Reform ab.
Gestützt werden diese Fundamentalisten von Präsident Bukele. Nachdem er wegen Spaltungsvorwürfen aus der linken FMLN-Partei rausgeworfen wurde, trat der 40-Jährige in die Mitte-rechts-Partei Gana ein – und gewann mit ihr den Wahlkampf. Er präsentiert sich als liberaler Reformer des Landes, regiert jedoch mit autoritärem Politikstil und konservativen Ansichten.
Im September 2021 postete Bukele auf seiner offiziellen Facebook-Seite, ein klares Statement zur Reformdebatte: „Ich habe mich entschieden, damit es KEINEN ZWEIFEL gibt, keinerlei Reformen für KEINEN ARTIKEL vorzuschlagen, der mit dem RECHT AUF LEBEN (ab dem Moment der Empfängnis) zu tun hat, mit der Ehe (dem klassischen Konzept folgend, EIN MANN UND EINE FRAU) oder mit Euthanasie“ (frei übersetzt, Hervorhebungen im Original, Anm. d. Autorin).
Doch das Urteil im Fall Manuela zwingt Bukeles Regierung nun erstmals zum Handeln. Das Gericht wies den Staat an, die internationale Verantwortung in einem öffentlichen Akt anzuerkennen. Außerdem soll er sich zur Vertraulichkeit von Krankenakten verpflichten, Leitfäden für gynäkologische Behandlungen entwickeln. Und: Er muss seine Abtreibungsgesetze nun doch reformieren. Gynäkologische Notfälle, so das Gericht, dürften nicht automatisch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Der Staat hat bislang jedoch nicht auf das Urteil reagiert. Präsident Nayib Bukele schweigt. Und das Gesetz bleibt.
Für Morena Herrera ist das Urteil dennoch ein Meilenstein. „Die Kommission hat anerkannt, dass Manuela einen gynäkologischen Notfall hatte“, sagt sie. „Außerdem wird anerkannt, dass das Problem in der Anwendung der Gesetze liegt.“ Es sei ein großer Erfolg, dass das Bild von Manuela, die zuvor als untreue Kindermörderin galt, bereinigt wird – auch für ihre Familie sei diese Entkriminalisierung wichtig.
Der Fall eröffne Möglichkeiten für andere Frauen, um ihre Rechte zu kämpfen. „Auch wenn es der Regierung nicht gefällt: Hier wurde der Staat als Ganzes verurteilt. Er ist verantwortlich und wird handeln müssen.“
Beatriz: Ihr Fall kann das Land verändern
Ein weiterer Fall gibt Herrera Grund zur Hoffnung. Im Fall „Beatriz“ prüft der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof derzeit, ob El Salvador sich auch in diesem Fall am Verstoß gegen Menschenrechte schuldig gemacht hat. Wie kein anderer forderte dieser das salvadorianische Justizsystem heraus. Ein Urteil gegen den Staat könnte den Wendepunkt in der Gesetzgebung bedeuten.
Beatriz selbst lebt nicht mehr. Doch der Arzt, der sie behandelte, spricht bereitwillig über den Fall. Doktor Guillermo Ortiz Opas hat inzwischen das Land verlassen. Zu massiv waren die Anfeindungen gegen ihn und seine Familie, zu sehr zweifelte er an dem medizinischen Ethos im Land. Als er ein Jobangebot in den USA bekam, überlegte er nicht lange und wanderte aus. Das Interview findet per Zoom statt. In einem roten Poloshirt, mit grauem Bart und schwarzer Hornbrille sitzt er in seinem neuen Zuhause in North Carolina vor dem Computer.
Ortiz ist ein erfahrener Arzt. 25 Jahre lang arbeitete er als Gynäkologe in der Frauenklinik in San Salvador, war zuletzt Chef der Geburtshilfe. Außerdem lehrte er als Professor an der Universität. Viele Schwangere kamen in seine Klinik und baten um Hilfe. Junge Frauen, die vergewaltigt worden waren, minderjährige Mädchen, Frauen, die kein Kind hätten versorgen können. Aber auch gynäkologische Notfälle. „Ich wusste, was ich hätte tun müssen, um ihnen zu helfen“, sagt Ortiz. „Aber das Gesetz hat es mir verboten.“ Er fühlte sich wie ein Krimineller, versuchte, einen Teil seiner Arbeit zu verstecken, erzählt er.
Ob er verbotene Abtreibungen vorgenommen hat? „Ich habe versucht, Frauen zu helfen, egal in welcher Situation“, sagt Ortiz. „Sonst wären viele Frauen gestorben.“ Mehr will er nicht sagen.
Noch bevor er Beatriz behandelte, prägte ihn ein anderer Fall. Es ist 2012, als ein 17-jähriges Mädchen mit einer Nierenkrankheit zu ihm in die Klinik kommt. Sie ist in der 22. Woche ungewollt schwanger, ihr Körper in schlechter Verfassung. „Ich wusste: Wenn sie nicht abtreibt, wird sie sterben“, erzählt Ortiz. Die Eltern jedoch entscheiden sich dagegen, aus Angst, ins Gefängnis zu kommen. Wenn Ortiz diese Geschichte erzählt, dann kommen ihm die Tränen. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag, daran erinnert er sich genau, wird er früh ins Krankenhaus gerufen. Ihr Zustand ist schlecht. „Sie ist in meinen Armen gestorben“, sagt Ortiz. „Und sie würde noch leben, wenn sie abgetrieben hätte.“
Für Ortiz war es ein Wendepunkt. Nie wieder dürfe so etwas passieren, dachte er.
Guillermo Ortiz Opas arbeitete 25 Jahre als Gynäkologe in der Frauenklinik in San Salvador
2013 kam Beatriz in das Krankenhaus. Ihr eigentlicher Name ist anders, zu ihrem Schutz wird auch sie öffentlich anders genannt. Der taz liegt der richtige Name vor, ihr Facebook-Profil ist noch immer online. Inzwischen ist Beatriz an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben.
Als sie zu Doktor Ortiz kommt, ist Beatriz 20 Jahre alt und in der 12. Woche schwanger. Der Fötus jedoch ist unterentwickelt, ohne Gehirn. Es ist klar, dass er außerhalb des Uterus nicht überleben würde.
Und auch Beatriz war in Lebensgefahr. Mit 18 wurde bei ihr die Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert. Ihr Körper war schwach, schon ihre erste Schwangerschaft löste bei ihr die lebensbedrohliche Erkrankung Präeklampsie mit Bluthochdruck aus. Damals überlebte ihr Sohn, doch diesmal war es anders. Ein medizinisches Komitee aus 13 Fachärzt:innen unter der Leitung von Doktor Ortiz war sich sicher: Der Fötus würde eine Geburt nicht überleben. Und Beatriz würde während der Schwangerschaft sterben.
Aber sie wollte leben.
„Eine geheime Abtreibung war nicht möglich, weil alle von dem Fall wussten“, sagt Doktor Ortiz. Der juristische Weg war der einzig mögliche. Ortiz überredete den Klinikdirektor und andere Kolleg:innen, ihn zu unterstützen. Sie schrieben Briefe, an den Gesundheitsminister, an das Menschenrechtsbüro. Die einzige Antwort, so erzählt es Ortiz: „Wir können euch nicht helfen.“
Deshalb riet er Beatriz, ihn auf unterlassene Hilfeleistung zu verklagen. Er und die Anwälte sahen darin den einzigen juristischen Weg, sie zu retten. Wenn das Gericht entschied, dass Dr. Ortiz ihr helfen müsse, dann müsste es auch anordnen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. „Es war eine schlimme Zeit für mich“, erzählt der Arzt heute. „Ich wurde angegriffen, im Krankenhaus wollte niemand mit mir sprechen, weil niemand mit dem Fall zu tun haben wollte.“
Am 11. April 2013 reicht Beatriz die Klage ein. Sie fühlt sich immer schwächer. Die Zeit wird knapp, denn es ist klar, dass der Gesundheitszustand ab der 28. Schwangerschaftswoche noch schlechter würde. 81 Tage später die Entscheidung: Eine Abtreibung ist und bleibt illegal.
Er will ihr helfen – also entscheidet er sich für einen minimal invasiven Kaiserschnitt, um den Fötus zu entfernen. Der Eingriff gelingt. Beatriz überlebt, der Fötus stirbt fünf Stunden später. Verurteilt wird niemand. Ortiz hatte, in dem er das Baby durch Kaiserschnitt lebend zur Welt brachte, einen Weg gefunden, die Illegalität zu umgehen.
„Ich mache nichts Falsches“, sagt Ortiz, als würde er sich das selbst versichern müssen. Ortiz hat diese Geschichte schon Dutzende Male erzählt. Und dennoch wühlt sie ihn noch immer auf. „Ich weiß, dass ich Frauen helfe. Sie würden sonst sterben.“
Der Fall Beatriz erweckte internationale Aufmerksamkeit. Am 29. November 2013 reicht sie Beatriz mit der Unterstützung des Colectiva Feminista beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof Klage gegen den Staat El Salvador ein. Sie fordert Wiedergutmachung für das, was sie aufgrund des verzögerten Schwangerschaftsabbruchs hat erleiden müssen. Und sie will eine Reform des Abtreibungsgesetzes.
Am 7. September 2017 erklärt die Internationale Menschenrechtskommission, die die Fälle für das Gericht prüft, die Klage für zulässig. In dieser Zeit plant Beatriz auch, das Land, das ihr so viel Sorge und Leid angetan hat, zu verlassen. Einen Monat später jedoch stirbt sie an den Folgen eines Motorradunfalls.
Ihr Fall aber geht weiter, bis heute. Vier Jahre und vier Monate später, am 12. Januar 2022, veröffentlichte die Interamerikanische Menschenrechtskommission eine Meldung: Sie habe die Klage an den Gerichtshof weitergeleitet. Die Begründung: El Salvador hat das Recht auf Leben, menschliche Behandlung, juristischen Schutz, Privatsphäre, Gleichheit vor dem Gesetz und Gesundheit verletzt. Außerdem habe der Staat Artikel 1 und 6 der Interamerikanischen Konvention zum Schutz vor Folter und Artikel 7 der Belém-Konvention zum Schutz der Frauenrechte verletzt.
Eine öffentliche Anhörung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Beatriz wird für die kommenden Monate erwartet, eine Entscheidung kann noch einige Jahre dauern. Sollte El Salvador verurteilt werden, wäre es das zweite Mal, dass sich das Land an Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig macht. Der Handlungsdruck steigt.
Auch der Kampf um die Rechte der Inhaftierten geht weiter. Unter dem Slogan „#NosFaltanLas17“, zu Deutsch „Uns fehlen noch 17“, machen die feministischen Aktivistinnen und Aktivisten auf die noch immer unrechtmäßig Inhaftierten aufmerksam. Auch Prominente wie Milla Jovovich beteiligen sich an der Kampagne zur Freilassung der Betroffenen. Immer wieder verzeichnen sie Erfolge.
Die befreiten Frauen leiden jedoch noch immer an den Folgen ihrer Verurteilung. Cinthia Marcela Rodríguez Ayala verkauft heute T-Shirts am Straßenrand. „So wie dieses hier“, sagt sie und zeigt auf das weiße Shirt, das sie trägt, mit dem Minnie-Maus-Aufdruck. Sie hätte gerne einen anderen Job. Aber sie darf nicht. Weil sie noch immer als Straftäterin gilt.
Die aus der Haft befreiten Frauen werden nicht vom Staat entschädigt. Vor dem Gesetz bleiben sie alle Kindermörderinnen. „Aber dieses Gesetz wird sich ändern“, ist sich Frauenrechtsaktivistin Morena Herrera sicher. „Es ist rückschrittlich, unfair und menschenrechtswidrig.“
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