Repression gegen Oppositionelle: Treiber des Wandels
Je freier die Zivilgesellschaft agieren kann, desto fortschrittlicher die Gesellschaft. Doch wie steht es um die Freiheit des „Civic Space“ weltweit?
Mal landet eine Droh-E-Mail im Postfach, mal kommen nachts Bewaffnete ins Haus. Mal werden Demonstrierende vor laufenden Kameras zusammengeschlagen, mal geschieht dies im Verborgenen. Es trifft weltberühmte Künstler genauso wie Kleinbauern, die außerhalb ihres Dorfs niemand kennt. Es passiert in Staaten, in denen nie ernsthaft eine Wahlurne aufgestellt wird, aber auch in Brüssel, Rom und Budapest. Manche der Opfer lesen in der Zeitung, sie seien „ausländische Agenten“, bei anderen bleibt die Bankkarte im Automaten stecken, weil ihr Konto gesperrt wird. Wieder andere werden angeklagt, am Handy bedroht oder verschwinden und tauchen nie wieder auf.
Repression ist so vielfältig wie uferlos. Sie kann tödlich sein, auch wenn Menschen Selbstverständliches einfordern: den Rücktritt korrupter Politiker, Klimaschutz, Wahlen. Oder das Land, auf dem eine Familie lebt, nicht für eine zerstörerische Pipeline hergeben zu müssen.
Wie die Wet’suwet’en-Indigenen in Kanada: Durch deren Territorium soll die Coastal-GasLink-Pipeline führen, um Erdgas nach Asien zu exportieren. Als die Indigenen sich weigerten, dafür eine ihrer Siedlungen zu räumen, rückten am 26. November Sondereinheiten mit Kettensäge und Automatikgewehr an, um sie aus ihren Hütten zu holen und ins Gefängnis zu bringen.
„Aktivisten zum Schweigen zu bringen, ist eine Taktik der Regierenden, um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu umgehen“, sagt Marianna Barreto von der NGO Civicus. Die dokumentiert, wie es um die Freiheit der globalen Zivilgesellschaft bestellt ist. Klimabezogene Proteste sind demnach zu einem der wichtigsten Ziele von Repression geworden. Das kommt nicht von ungefähr. „Die Zivilgesellschaft ist der einzige verlässliche Motor, der die Institutionen dazu bringt, sich im erforderlichen Tempo zu verändern“, schrieb schon 2018 der UN-Weltklimarat.
Hierzulande gehen „Querdenker“ auf die Straße, getrieben vom Hass auf eine halluzinierte „Corona-Diktatur“. Echte Diktaturen wissen Corona derweil für sich zu nutzen. Als in Niger ein gigantischer Korruptionsskandal beim Militär ruchbar wurde, verbot die Regierung Proteste mit Verweis auf Corona – während das übrige öffentliche Leben ungehindert weiterlief. Als dennoch demonstriert wurde, griff das Militär ein, vier Menschen starben. „Durch die Pandemie haben repressive Regierungen einen weiteren Vorwand gefunden, um ihre Angriffe auf die Zivilgesellschaft fortzusetzen“, sagt Theresa Bergmann von Amnesty International.
331 ermordete Aktivisten
Schon vor der Pandemie hatten soziale Bewegungen es auch deshalb schwer, weil nationalistische, autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch waren. Ob dies anhält, ist offen. In Südamerika deutet sich nicht erst seit der Wahl in Chile ein Linksschwenk an. In Afrika haben Massenproteste den Wunsch nach demokratischer Veränderung immer deutlicher gemacht, in Europa ist der Kampf zwischen Populisten und liberaleren Akteuren weiter unentschieden.
Wie wird es 2022 weitergehen? Welche Formen werden Repression und Überwachung annehmen, wenn sich die sozialen Folgen der Pandemie noch schärfer zeigen und die Konflikte um die Bewältigung der Klimakrise zunehmen?
Im neuen Ampel-Koalitionsvertrag sind Menschenrechte als Orientierung für ihre Innen- und Außenpolitik festgeschrieben. Rüstungsexporte sollen konsequenter kontrolliert, der Export von Überwachungssoftware an „repressive Regime“ gestoppt werden. Es wäre kein schlechtes Signal.
Denn dass autoritäre Regime sich oft halten können, liegt auch am höchst disparaten Verhalten des Westens. „Würde ich nur mit Demokraten reden, wäre meine Arbeitswoche immer schon Dienstag zu Ende“, sagte Ex-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal. Die Frage ist, was man den Übrigen im Rest der Woche sagt – und wie die Ampel dies in Zukunft halten wird.
Unter dem bisherigen SPD-Außenminister Heiko Maas variierte Deutschlands Linie – ebenso wie jene der EU – stark, je nach Interessenlage. Die Diktatur in Belarus etwa wird sanktioniert, Russland nach der Annektion der Krim ebenso. Die Türkei hingegen bekommt Waffen für ihren Feldzug gegen die Kurden, Saudi-Arabien darf Journalisten im Konsulat ohne jede Spur von Konsequenzen zersägen. In Togo regiert die älteste Diktatur Afrikas. Als die Herrscherfamilie 2020 monatelange Protesten aussaß und sich weigerte, die Macht nach 53 (!) Jahren abzugeben, gratulierten Staaten wie Deutschland und Frankreich zur „Wiederwahl“ – und verwiesen auf „Stabilität“.
All das hat Folgen für die Zivilgesellschaft vor Ort. Wo internationaler Druck fehlt, geht es ihr umso schneller an den Kragen.
2020 registrierte die NGO Frontline Defenders weltweit mindestens 331 ermordete Menschenrechtsaktivisten – rund 70 Prozent waren im Bereich Ökologie und Landrechte aktiv. Neben Staaten sind auch Unternehmen, mafiöse Banden oder islamistische Gruppen für diese Morde verantwortlich – die wiederum umso eher mit dem Staat verwoben sind, je geschwächter Justiz, Medien und soziale Bewegungen sind.
Diktaturen und semiautoritäre Staaten
Für den Raum, in dem all dies sich abspielt, hat sich ein Begriff etabliert: Civic Space, der „Raum der Zivilgesellschaft“. Zu dieser zählt alles, was weder dem Staat, wirtschaftlichen Unternehmen noch dem Privaten zuzurechnen ist. Der Civic Space ist ein Raum politischer Freiheit. Und so amorph die globale Zivilgesellschaft ist: Sie ist der Treiber politischen Wandels. Schrumpft ihre Handlungsfreiheit, erstarrt die Gesellschaft, Mächtige werden nicht zur Verantwortung gezogen. Dann bleiben oder werden Regierungen korrupt, autoritär, dysfunktional, mafiös.
„Der Ruf nach Veränderung bringt soziale Bewegungen weltweit in die Schusslinie“, sagt Lysa John, die Generalsekretärin von Civicus. Die NGO klassifiziert die Staaten der Welt laufend nach dem Grad politischer Freiheit. Insgesamt lebten 2021 demnach nur etwa 250 Millionen Menschen in 40 Staaten, die uneingeschränkte Freiheiten gewähren, darunter Deutschland oder Portugal.
Sechs von zehn Menschen leben in Ländern, die staatsbürgerliche Freiheiten teils stark einschränken – darunter Polen und Ungarn. Vollständig „geschlossen“ ist der Civic Space für 2,1 Milliarden Menschen in 25 Staaten, in denen zivilgesellschaftliches Handeln fast komplett unterbunden wird – darunter China, Syrien oder Ägypten, wo Protestierende mit langer Haft oder Ermordung rechnen müssen.
Diktaturen kennzeichnet, den Civic Space zu schließen. Semiautoritäre Staaten lassen manches laufen und zerschlagen nur, was der Regierung nicht passt. Demokratien hingegen begreifen Zivilgesellschaft als Teil ihrer selbst und fördern sie. So die Theorie. Doch die Civicus-Daten zeigen auch: In 16 der 27 EU-Staaten werden die Freiheitsrechte eingeschränkt – etwa in Italien, das gegen Seenotretter vorgeht, oder in Polen, das die Justiz zum Erfüllungsgehilfen einer Partei degradiert. Dreizehn Staaten rutschten 2021 im Civicus-Ranking stark ab, darunter Polen, die USA, Belarus, Hongkong und Südafrika. In dem Land starben im Sommer über 350 Menschen, als das Militär Massenproteste auflöste.
Wo die zivilgesellschaftliche Freiheit erodiert, wachsen Armut und Ungleichheit. Kämpfe um gerechte Löhne, Arbeitsrechte, gegen Korruption und für funktionierende staatliche Dienstleistungen sind umso wirksamer, je freier die Zivilgesellschaft ist.
Das ist messbar: Wo der Civic Space „offen“ ist, liegt der Human Development Index – ein statistisches Maß für die soziale Entwicklung – im Schnitt bei 0,82. In Staaten mit „unterdrückter“ Zivilgesellschaft fällt er meist Richtung 0,5. Ebenso verhält es sich mit der Einkommensverteilung: Je mehr politische Freiheit, desto gleichmäßiger ist das Einkommen innerhalb einer Gesellschaft verteilt.
536 Meldungen über Angriffe auf die Zivilgesellschaft hat Civicus zuletzt ausgewertet. Sie sind nicht repräsentativ, zeigen aber klare Muster der Repression. Besonders verbreitet ist demnach die staatliche Zensur von Medien – einschließlich der Kontrolle des Internets und der sozialen Medien.
2021 wurden laut Reporter ohne Grenzen 44 Journalisten, deren Mitarbeiter und Blogger getötet, 489 sitzen in Haft. Donald Trumps „Kommunikationsmodell, Journalisten als ‚Staatsfeinde‘ zu betrachten, wurde durch den Aufstieg des Populismus in Europa neu belebt“, schreibt die serbische Kommunikationswissenschaftlerin Milica Kulić. Kürzlich wurde bekannt, dass die „Pegasus“ genannte Spionagesoftware des israelischen Unternehmens NSO Group an viele Staaten verkauft wurde, um Journalisten auszuforschen. Auch das BKA und der BND setzen sie ein.
Front Line Defenders berichtete jüngst, wie Aktivisten, die gegen ein Wasserkraftwerksprojekt in Chile protestieren, überwacht werden. Der Kraftwerksbetreiber beauftragte eine „Sicherheitsfirma“, Whatsapp- und Facebook-Chats zu infiltrieren. Sie rechtfertigte dies damit, dass die Aktivisten „Ökoterroristen“ seien. „Den Terrorismusbegriff missbrauchen Regierungen und Konzerne, um jene zu diffamieren, die Sozialabbau und Umweltzerstörung nicht hinnehmen wollen“, schreibt Civicus. Der Begriff „Ökoterrorist“ bringe Klimaaktivisten monatelang für Dinge in Haft, die sonst mit einem Bußgeld erledigt wären, schreibt die kanadische Klimastreikorganisatorin Aliénor Rougeot. Der Umgang mit den Pipeline-Protesten der Wet’suwet’en-Indigenen etwa sei ein „Lehrbuchbeispiel für Kriminalisierung“ nach dem Muster: Diffamierung – Kriminalisierung – Entrechtung.
Werden solche Strategien die globalen Kämpfe um Demokratie, Ökologie, soziale und Geschlechtergerechtigkeit am Ende niederschlagen? Kaum. Die historische Erfahrung zeigt, dass auch die härteste Repression Wandel immer nur herausgezögert hat. Die italienische Arbeiterbewegung der 1970er Jahre hatte dafür eine einleuchtende Erklärung: Die Handlungen des Kapitals seien nur als Reaktionen auf den Kampf der Arbeiter zu begreifen, nicht umgekehrt. Soziale Kämpfe sind demnach naturgemäß in der Offensive. Ein ermutigender Gedanke.
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