Regisseurin über Gender Transition: „Kinder wissen genau, wer sie sind“
Die baskische Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren spricht über Gender Transition bei Kindern. „20.000 Arten von Bienen“ ist ihr Regiedebüt.
Ein achtjähriges Kind wächst als Junge auf und fühlt sich als Mädchen. Die wohlwollende Mutter nennt Aitor längst Cocó, doch das Kind will Lucía sein. Wie die Familie damit umgeht und durch die Transition der kleinen Lucía vor allem die Frauen eigene Lebenswege und Rollenmuster in Frage stellen, erzählt die baskische Filmemacherin Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem Regiedebüt „20.000 Arten von Bienen“ ebenso vielschichtig wie berührend. Ein Gespräch über Herkunft, Identitätssuche und junge weibliche Stimmen im spanischen Gegenwartskino.
taz: Frau Urresola Solaguren , im Mittelpunkt Ihres Films steht das trans Mädchen Lucía, gespielt von der zum Zeitpunkt des Drehs neunjährigen Sofía Otero, die dafür im Februar auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Sie ist hervorragend, trotzdem stellt sich die Frage: Warum haben Sie die Transfigur mit einem cis Mädchen besetzt?
Die Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren wurde 1984 in Bilbao geboren, wo sie später audiovisuelle Kommunikation studierte. In Kuba folgte ein Studium der Schnitttheorie, in Spanien machte sie schließlich einen Master in Filmregie und Filmwirtschaft. Ihr Dokumentarfilm „Voces de Papel“ von 2016 hatte seine Premiere beim Filmfestival von San Sebastián.
Estibaliz Urresola Solaguren: Wir haben bei unserer Recherche viele Familien mit trans Kindern kennengelernt und natürlich wäre es toll gewesen, ein trans Mädchen zu besetzen, aber wir haben schlicht keines in dem Alter gefunden, das fließend Spanisch und Baskisch spricht und die Hauptrolle in einem Kinofilm spielen wollte. Und selbst wenn, wäre es von so vielen anderen Faktoren abhängig gewesen, in welcher Phase der Transition das Kind ist, wie unterstützend die Eltern sind, all das wäre sehr delikat und mit großer Verantwortung verbunden gewesen. Wir haben uns dann für ein cis Mädchen entschieden, weil sich Lucía als Mädchen fühlt und auftritt. Ein Junge wäre da nicht infrage gekommen.
Der Blickwinkel des Films wechselt zwischen Lucía, der Mutter und anderen Familienmitgliedern. Warum war diese Multiperspektive wichtig?
Bei der Recherche begegnete ich immer wieder Eltern, die mir erzählten, dass die eigentliche Transition in der Familie passiert. Denn die Kinder wissen bereits sehr genau, wer sie sind. Nun ist es an den Eltern, sich anzupassen. Bei vielen führt das dazu, das eigene Leben zu hinterfragen, die Erfahrungen, die sie gemacht haben, und wie sie selbst durch ihre Genderidentität eingeschränkt sind.
Wir alle sind Konstrukte bestimmter Rollenmuster, und das prägt unser Verhalten. Diese Wandlungen innerhalb der Familie wollte ich im Film erkunden, vor allem, wie die unterschiedlichen Generationen von Frauen mit der Situation umgehen. Die Älteren etwa hatten viel größere Widerstände, sich frei zu entfalten, ihre Identität zu finden, ihr sexuelles Begehren zu erkunden, sich beruflich zu verwirklichen.
Wie offen waren die Eltern, mit denen Sie gesprochen haben?
Ich habe 2018 mit der Suche begonnen, und die ersten Familien, die ich damals kennenlernte, erzählten mir von ihren Erfahrungen der Transition ihres Kindes, die sie etliche Jahre zuvor gemacht hatten. Andere schrieben ihre teils sehr intimen Berichte auf und schickten sie mir. All das war mein Ausgangsmaterial, aber ich merkte schnell, dass deren Erfahrungen von damals andere sind als von Familien, die jetzt mit der Transition eines Kindes umgehen.
Warum?
Weil sich gerade so viel ändert in der Sensibilität gegenüber nicht genderkonformen Menschen und damit auch Kindern. Also befragte ich erneut Familien, und es änderte viel im Drehbuch, vor allem Ane, die Mutter. Sie erkennt lange nicht, was ihr Kind will und braucht. Das liegt aber nicht daran, dass sie konservativ und engstirnig ist. Sie ist angelehnt an die vielen Mütter, die mir erzählten, wie stolz sie zunächst waren, einen femininen Sohn zu haben. Sie fühlten sich modern, weil sie ihren Jungs die Freiheit gaben, sich zu finden und eine neue, sanftere, weniger toxische Maskulinität heranwachsen sahen. Und sie mussten einsehen, wie falsch sie damit lagen. So auch Ane im Film.
Wie erklären Sie sich dieses Bedürfnis, von den Erfahrungen zu erzählen?
Weil sie es als große Erleichterung empfanden, nicht alleine zu sein. Noch 2018 haben viele der Eltern erzählt, wie verunsichert sie lange waren, weil sie nicht verstanden, was in ihren Kindern vorging und wie sie damit umgehen sollten. Kinder und Eltern fühlten sich je auf ihre Weise allein. Bis sie Gruppen und Vereine fanden und andere mit ähnlichen Erfahrungen kennenlernten und sich austauschen konnten. Weil sie sahen, dass es völlig okay und natürlich ist, nicht in heteronormative Schubladen zu passen. Und sie wollen davon erzählen, um es denen, die nach ihnen kommen, leichter zu machen.
Ganz nebenbei fängt der Film den Alltag im Baskenland ein. Menschen reden durcheinander, es vermischen sich spanische und baskische Sprache, oft im selben Satz. Wie sind diese sehr organisch wirkenden Szenen entstanden?
Für viele Bewohner des Baskenlandes ist es selbstverständlich, im Alltag zwischen beiden Muttersprachen zu wechseln. Sprache ist kulturelle Identität und diese Vielfalt sollte sich auch im Film widerspiegeln. Vor den Dreharbeiten probten wir drei Monate lang, um gemeinsam die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern zu entwickeln. Ich ermutigte die Schauspielenden, herauszufinden, was die Figuren mit ihnen selbst zu tun haben. Alles sollte so natürlich wie möglich wirken, wie eine echte Familie. Beim Dreh selbst gab es dann aber keine Improvisationen, die Szenen und Dialoge waren exakt geschrieben.
Woher kommt dieses Interesse an Familienkonstellationen?
Ich bin das fünfte von sechs Geschwistern und in einer sehr lebendigen, auch lauten Familie aufgewachsen. Das Leben spielt sich oft in mehreren Räumen gleichzeitig ab, mal passieren Dinge unbeachtet parallel, mal gibt es Konfrontationen. Dieses alltägliche Chaos wollte ich möglichst authentisch auf die Leinwand bringen.
Es gibt derzeit eine ganze Reihe junger Filmemacherinnen aus Spanien, die sehr spezifische Geschichten aus ihren Regionen des Landes erzählen, wie etwa Carla Simón, die 2022 mit „Alcarràs“ über eine katalonische Obstbauernfamilie den Goldenen Bären gewonnen hat. Wie erklären Sie sich diese neue Welle weiblicher Stimmen im spanischen Kino?
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „20.000 Arten von Bienen“
Es ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Es wurde endlich anerkannt, dass es ein Gender-Ungleichgewicht gibt, das Ergebnis sozialer und kultureller Umstände ist und nicht naturgegeben. An den Universitäten und Filmhochschulen sind seit vielen Jahren mehr Frauen als Männer eingeschrieben, aber nur wenige Regisseurinnen konnten danach in der Branche Fuß fassen. Oder sie mussten sich wie ich bis Ende 30 mit Kurzfilmen abrackern, während die Jungs oft nach dem ersten Kurzfilm schon eine Serie oder einen Kinofilm drehen durften. Darauf haben die Förderinstitutionen nun endlich reagiert und unterstützen verstärkt Filmemacherinnen bei ihren Regiedebüts. Und das Ergebnis davon beginnen wir jetzt zu sehen. Da wird noch viel passieren in den nächsten Jahren. Wir fangen gerade erst an.
Würde Ihr Regiedebüt denn anders aussehen, wenn Sie es bereits mit Ende 20 hätten verwirklichen können?
Eine vertrackte Frage. Natürlich hoffe ich, mit dem Alter zu wachsen und eine gewisse Reife und Lebenserfahrung zu gewinnen, die auch im Film zum Ausdruck kommt. Aber ich möchte auch das Recht haben, simple, unreife und schlechte Filme zu machen, wie jeder Typ.
Wie hielten Sie durch?
20.000 Arten von Bienen
Regie: Estibaliz Urresola Solaguren
Mit: Sofía Otero, Patricia López Arnaiz u.a.
Spanien 2023, 125 Min.
Die eigene Stimme zu finden, ist immer schwer. Umso mehr, wenn Vorbilder fehlen. Wie soll ich als angehende Filmemacherin Selbstvertrauen finden, wenn es keine weiblichen Regisseure im Umfeld gibt, mit denen ich mich identifizieren kann? Deswegen ist diese Welle jetzt so wertvoll, weil wir uns mit dieser Präsenz gegenseitig pushen.
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