Regisseurin Ducournau über Film „Titane“: „Der wandelnde Todestrieb“
Die Regisseurin Julia Ducournau gewann mit ihrem Film „Titane“ die Goldene Palme in Cannes. Sie spricht über weibliche Filmteams und Emanzipation.
Nach einem schweren Autounfall in der Kindheit wird Alexia von ihrem Vater, einem Arzt, eine Titanplatte in den Kopf implantiert. Später, als junge Frau (Agathe Rousselle) fühlt sie sich von Fahrzeugen angezogen, auch sexuell, und lebt ihren Fetisch als Tänzerin bei Autoshows aus. Nach dem Sex mit ihrer Lieblingskarre wird sie schwanger, aus ihren Brüsten kommt Motoröl. Wenn ihr Menschen zu nahe kommen, wird sie zur Killermaschine. Auf der Flucht begegnet sie einem Feuerwehrkommandanten (Vincent Lindon), der sie als seinen vor Jahren verschwundenen Sohn annimmt. „Titane“ ist eine queere Phantasmagorie und radikales, aufregendes Körperkino, das lustvoll Genre- und Genderkonventionen negiert. Die Französin Julia Ducournau erhielt dafür im Juli in Cannes die Goldene Palme, als erst zweite Regisseurin nach Jane Campion („Das Piano“) vor 18 Jahren.
taz: Frau Ducournau, was stand am Anfang von „Titane“: Alexia als Hauptfigur oder die Idee, einen feministischen, genre- und genderfluiden Horrorfilm zu machen?
Julia Ducournau: Wenn Sie jetzt einen Eureka!-Moment erwarten, an dem ich wie in einem Geistesblitz die Idee für „Titane“ hatte, muss ich Sie enttäuschen. Für mich ist der Feminismus in meinem Film weder Programm noch bewusste Absicht. Er ist einfach da, weil es mein Blick auf die Welt ist und meine Ausdrucksweise. Natürlich entlarve ich mit Alexia Genderklischees, sie findet im Laufe des Films zur Essenz ihrer selbst und lässt dabei sehr viele gesellschaftliche Zuschreibungen hinter sich, die mit Familie und Weiblichkeit verbunden sind. Doch das ist nur eine Ebene, die mich interessiert hat.
Gab es trotzdem so etwas wie einen ersten Impuls?
wurde 1983 in Paris geboren. Sie studierte an der französischen Filmhochschule La Fémis. Ihr erster Spielfilm, „Raw“ (2016), lief in der Kritikerwoche von Cannes und wurde international ausgezeichnet. Für ihren zweiten Spielfilm, „Titane“, gewann Ducournau 2021 im Wettbewerb von Cannes die Goldene Palme.
Ich hatte einen wiederkehrenden Alptraum, in dem ich Einzelteile eines Automotors gebäre. Ich wachte jedes Mal schweißgebadet und tief verstört auf. Etwas in diesem Kontrast zwischen dem Akt puren Lebens und dem toten, kalten Material ließ mich nicht mehr los. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, bis ich beschloss, es als Bild zu nehmen und mit einer Vorstellung von unbedingter Liebe zu verbinden.
Warum Liebe?
Nach meinem ersten Spielfilm, „Raw“, wurde mir klar, wie schwer es mir fällt, über Liebe zu schreiben, obwohl sie ein so elementarer Teil unseres Lebens ist. Mich interessiert, was Liebe sein könnte. Das Ideal unbedingter, absoluter Liebe. Aber ich konnte es nicht in Worte fassen, fand keine Sprache dafür. Das forderte mich derart heraus, dass ich beschloss, es zu einem zentralen Thema meines nächsten Films zu machen. Doch auch in „Titane“ bedeutet diese Auseinandersetzung ein weitgehendes Fehlen von Sprache, denn Worte würden es nur einschränken und herabsetzen. Ich will das Publikum spüren lassen, was die Charaktere empfinden, durch Worte würde dem nur die Wucht genommen.
Dabei haben Sie, wie Ihre Kollegin Céline Sciamma, an der Filmhochschule La Fémis in Paris Drehbuch studiert. Sie kommen also vom Schreiben.
Für mich bedeutet Schreiben nicht primär Wörter, ich denke in Bildern. Wenn ich eine Szene entwickle, spielt sie sich in meinem Kopf ab, ich sehe und höre alles sehr genau. Wenn ich sie nicht vor mir sehe, schreibe ich sie nicht auf. Und wenn ich am Ende eine Szene habe, die vollkommen ist, warum sollte ich dann noch einen Dialog draufkleben? Eine Tanzszene etwa drückt für mich nonverbal viel mehr aus, damit kann man emotional tiefer gehen als durch das gesprochene Wort. Manchmal lässt es sich freilich nicht vermeiden. Mir war bewusst, dass ich an einer Stelle des Films den Satz „Ich liebe dich“ verwenden muss. Aber meine Güte, hat mich das Überwindung gekostet!
Seit der Weltpremiere in Cannes wird viel über eine Szene im Film debattiert, in der Alexia Sex mit einem Auto hat. Manche Kritiker werfen Ihnen Schock und Provokation als Selbstzweck vor.
Das verkennt doch, worum es eigentlich geht. Die Hauptfigur ist eine Psychopathin, von der Menschheit angewidert, hat keinerlei Empathie für andere. Alexia ist der wandelnde Todestrieb. Das hat viel mit ihrem Trauma zu tun, sie ist ein chaotischer Charakter und, zumindest zu Beginn, keine sympathische Figur. Wenn sie sich dann in einem Geschlechtsakt mit einem Auto vereint, sagt das vor allem etwas über ihre Abscheu gegenüber menschlichem Kontakt aus. Sie empfindet nichts, sie ist innerlich selbst so kalt wie die Titanplatte in ihrem Schädel.
Das Auto wird zum abgründigen Fetisch. Interessanterweise beginnen Ihre beiden Filme mit einem Verkehrsunfall …
Dabei bin ich selbst alles andere als Autofan. Ich besitze noch nicht mal einen Führerschein. Der Unfall in „Titane“ ist das Urtrauma meiner Hauptfigur, das sie nicht verarbeiten kann. Aber es ist auch eine Geschichte der Selbstermächtigung. In der Carshow zu Beginn des Films inszeniere ich zunächst einen „männlichen“ Blick, durch den die ausgestellten Wagen und die Mädchen, die dort als Hostessen arbeiten und tanzen, auf die gleiche Art als aufreizende Objekte gesehen werden. Doch wenn wir in dieser Sequenz schließlich bei Alexia landen, ändert sich der Blick. Während sie mit „ihrem“ Auto tanzt, wird sie vom angeglotzten Objekt zum handelnden Subjekt, schaut direkt in die Kamera und kontrolliert ihr eigenes Narrativ.
„Titane“. Regie: Julia Ducournau. Mit Agathe Rousselle, Vincent Lindon u. a. Frankreich 2021, 108 Min.
Diese Alexia wird gespielt von Agathe Rousselle, die zum ersten Mal vor der Kamera steht und anscheinend furchtlos fast jede Szene trägt. Wie haben Sie eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, die das ermöglicht?
Mir war wichtig, dass sie sich jederzeit sicher und geschützt fühlt. Ich verlange von beiden Hauptdarstellern physisch sehr viel, von Agathe und von Vincent Lindon, in etlichen Szenen sind sie nackt. Das geht nur mit großem Vertrauen. Ich erkläre genau, was wir drehen und welcher Teil ihres Körpers zu sehen sein wird. Bei Sex- und Nacktszenen reduziere ich die Crew am Set auf ein absolutes Minimum. Ein Großteil meines Filmteams sind Frauen, das macht die Sache sehr viel leichter.
In Ihrem Regiedebüt „Raw“ ist die Transformation der Hauptfigur, die zur Kannibalin wird, noch im Rahmen einer möglichen Realität. „Titane“ tendiert stärker zum Fantastischen, der Film trägt das Mythische schon im Titel.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Titane“
Ich will die Grenzen dessen erweitern, was wir als plausibel und glaubwürdig akzeptieren. Aber ich bin keine Genreregisseurin. „Titane“ ist kein Horrorfilm. Ich nutze Elemente dieser Filmsprache, von Horror ebenso wie Komödie und anderen Genres, und setze sie neu zusammen. Ich unterwandere diese Codes und breche sie auf, um sie mir für meine Zwecke anzueignen. Ich möchte mich nicht festlegen und auch nicht von anderen labeln lassen, das widerspricht meinen Überzeugungen.
Sie haben damit die Goldene Palme in Cannes gewonnen, im September wurde ihre französische Kollegin Audrey Diwan für das Abtreibungsdrama „Das Ereignis“ mit dem Hauptpreis in Venedig ausgezeichnet. Sind diese Würdigungen von Filmemacherinnen Zeichen eines wirklichen Wandels?
Wenn es nur ein Trend sein sollte, nehme ich ein Raumschiff und verlasse diesen Planeten! Im Ernst: Dieses Jahr war bahnbrechend für uns alle, nicht nur für Frauen. Aber das heißt nicht, dass wir schon am Ziel sind. In Sachen Gleichberechtigung gibt es noch sehr, sehr viel zu tun, auf allen Ebenen. Allein was den öffentlichen Raum angeht und wie sich Frauen darin angstfrei bewegen können. „Titane“ ist auch aus einer Wut darauf entstanden, meiner Wut, dass ich, wie jede Frau, als potenzielles Opfer gesehen werde. Es ist eine historische Entwicklung, und ich bin froh, dass ich Teil davon bin. Wir werden nicht zulassen, dass es nur ein Trend ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!