Filmpreis für „Quo Vadis, Aida?“: Keine europäische Kultur ohne Trauma

Jasmila Žbanićs überwältigendes Srbenica-Drama „Quo Vadis, Aida?“ gewann den europäischen Filmpreis. Die Gala fand pandemiebedingt im Stream statt.

Jasna Djuricic als Aida in einer Szene des Films "Quo Vadis, Aida?"

Jasna Djuricic als Aida in einer Szene des Siegerfilms „Quo Vadis, Aida?“ Foto: Farbfilm Verleih/dpa

Europas Vielfalt auf fünf Narrative herunterzukochen ist haarig. Wofür steht die Kultur des Kontinents, welche Geschichten will und muss sie erzählen: Steckt sie in Paolo Sorrentinos „Die Hand Gottes“, ein Kabinett des Grotesken, in dem sich eine fußballverrückte Coming-of-Age-Story entwickelt? Hat sie mit dem Thema Altersdemenz zu tun, droht sie also vielleicht, im Vergessen zu verschwinden, gleich Florian Zellers Protagonisten Anthony Hopkins in „The father“?

Ist sie nicht-binär und hat Sex mit Autos, so wie die Hauptfigur in „Titane“? Spielt sie sich in einem Abteil auf einer langen Zugreise von Moskau nach Murmansk und zwischen einer Finnin und einem wodkagetränkten Russen ab, im Liebesfilm „Compartment No 6“? Oder muss sie sich mit dem Massaker von Srbenica auseinandersetzen, so wie Jasmila Žbanićs überwältigendes Drama „Quo Vadis, Aida?“?

Zum zweiten Mal wurden die European Film Awards in diesem Jahr notgedrungen auf ein Streaming-Event reduziert. Die Leere, das Fehlen von Publikum (bis auf einige im Dunklen harrende Nominierte und Preisträger:innen) und die garantiert europaweit zu spürende Unbehaglichkeit mit der aktuellen Pandemiesituation spiegelte sich im Setting.

Die Moderatorin Annabelle Mandeng wirkte etwas verloren in der glänzenden, schlichten Kulisse der Berliner „Arena“, ihre mit einem leichten Lächeln vorgetragenen, aber generischen Ansagen und Glückwunsche wurden weder von Showeinlagen, noch von Gags unterbrochen: Es gäbe zwar etwas zu feiern, schien die Veranstaltung auszusagen, aber wir können die Party ja eh nicht steigen lassen.

Dennoch bahnte sich die berühmte nordisch-slawische Komik ihren Weg, wenn etwa eine Filmquiz-Clique aus Tallin die Nominierten in der Kategorie „European Comedy“ ankündigt, und den Beteiligten dabei das Lächeln schwerzufallen schien. Es gewann der Film „Ninjababy“, in dem die ungewollte Schwangerschaft einer jungen Frau zunächst (von ihr und dem überraschten One Night Stand-Vater) mit Ausrufen wie „Nein!“ „Aargh!“ und „Oh Shit!“ kommentiert wird.

Gezeichnete Geschichten

Doch Comics helfen: Die norwegische Regisseurin Yngvild Sve Flikke hat mit ihrem Realfilm eine Graphic Novel adaptiert, und lässt das menschliche Zellenbündel, jenes titelgebende, im Bauch der quirligen Rakel lebende, gezeichnete „Ninjababy“, immer wieder das Geschehen mitbestimmen – so wie es tatsächlich bei einer Schwangerschaft ist.

Der beste Dokumentarfilm griff ebenfalls auf animierte Hilfe zurück. Er heißt laut der Gemeinschaft aus 4.200 Akademiemitgliedern „Flee“ und stammt vom dänisch-französischen Dokumentarfilmer Jonas Poher Rasmussen. „Flee“, der darüber hinaus die Auszeichnung als bester Animationsfilm gewann, erzählt die Geschichte eines afghanischen Geflüchteten, und zwar als ruhige, zurückhaltende Animation.

Dass sich mit Zeichnungen Dinge zuweilen anrührender und eindringlicher darstellen lassen als durch Realfilme, ist ein Fakt, der auch bei ernsten, gar monströsen Geschichten verstärkt von Nutzen ist. Und Flucht oder Migration sind bekanntlich aus ganz unterschiedlichen Gründen Kernthemen Europas – neben „Flee“ spielten sie in nominierten Werken wie „Pleasure“, in dem eine Schwedin ihr Glück in der Pornoindustrie der USA versucht, oder im weitesten Sinn im Roadmovie „Compartment No 6“ eine Rolle.

Bonbonbunt und gallebitter

Emerald Fennells bonbonbunte und gallebittere, feministische Rape-Revenge-Geschichte „Promising Young Woman“ wurde mit dem Nachwuchspreis „European Discovery-Prix Fipresci“ ausgezeichnet – das Thema Gleichberechtigung scheint sich jedenfalls, nicht nur angesichts der Frauenquote bei den nominierten Filmen, inzwischen eingenistet zu haben. Claudia Roths erster offizieller Show-Auftritt als Kulturstaatsministerin begann passend mit einer dementsprechenden Flachserei. Kann ein Mann überhaupt das Land führen, fragte Moderatorin Mandeng, und Roth antwortete: Keine Angst, es sind viele Frauen um ihn herum. Er ist unter Kontrolle.

Die Regisseurin Jasmila Žbanić im Porträt

Regisseurin Jasmila Žbanić Foto: Kemal Softic/ap/dpa

Bei der Ankündigung der Hauptkategorie „European Film 2021“ sitzen später in einem Einspielfilm aus Norwegen vier Samen in dicken Jacken und Bommel-Pelzmützen um ein kleines Feuer im Schnee und stellen sich als „Kautokeinos Filmenthusiasten“ vor – bei einer Ein­woh­ne­r:in­nen­zahl von unter 2900 kein schlechter Schnitt: Diese vier haben immerhin alle fünf eingangs erwähnten Filme gesehen, hoffentlich im einzigen „Schneemobil-Drive-In-Kino“ der Welt, in dem Kautokeinos alljährliches „Samisches Filmfestival“ stattfindet.

Ihr fundiertes Gespräch über die Kandidaten steckt voller wahrer und hoch emotionaler Beobachtungen zu den Storys. Der „beste Film Europas“, dessen Macherinnen sich auch über den Regie- und den Schauspielpreis freuen können, heißt kurz darauf jedenfalls „Quo Vadis, Aida?“, und stellt sich somit deutlich einer qualvollen Vergangenheit, die bis in die Gegenwart schmerzt. Europäische Kultur lässt sich eben nicht ohne die Traumata des Kontinents vermitteln.

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