Regisseur zu Film über Transidentität: „Vorbilder sind wichtig“
Sébastien Lifshitz' Dokumentarfilm „Kleines Mädchen“ handelt vom Leben eines trans Kindes. Die Gesellschaft müsse ihre Denkmuster hinterfragen, sagt er.
Seine Karriere als Regisseur begann Sébastien Lifshitz mit Kurz- und Spielfilmen. Mit „Sommer wie Winter“ oder „Plein Sud“ etwa wurde er zu einem Aushängeschild des queeren französischen Kinos. In den vergangenen Jahren widmete er sich mehr und mehr dem dokumentarischen Arbeiten: Für „Les Invisibles“ über den Alltag älterer homosexueller Männer und Frauen erhielt er 2013 den César, aktuell ist er für „Adolescentes“ erneut in drei Kategorien nominiert. Lifshitz’ Film „Kleines Mädchen“, der vergangenes Jahr Weltpremiere auf der Berlinale feierte, ist nun bei uns als VoD und DVD verfügbar.
taz: Monsieur Lifshitz, in Ihrem neuen Dokumentarfilm „Kleines Mädchen“ begleiten Sie ein Jahr lang die siebenjährige Sasha, die als Junge geboren wurde. Haben Sie gezielt nach einem trans Mädchen wie ihr gesucht oder entstand die Idee zum Film erst, als Sie Sasha kennenlernten?
Sébastien Lifshitz: Tatsächlich habe ich gezielt nach einem trans Kind gesucht. Seine Wurzeln hat „Kleines Mädchen“ eigentlich in einem meiner früheren Filme. „Bambi“ war 2013 das Porträt einer trans Frau, die schon ab den 1950er Jahren ihre wahre Identität lebte. Bambi erzählte mir damals, dass sie schon als Kind wusste, dass sie nicht in einen männlichen Körper gehört und in Wirklichkeit ein Mädchen ist. Mich hat das damals beeindruckt, denn in meinem Kopf war das Spüren der eigenen Identität gekoppelt an die Pubertät. Erst durch Bambi wurde mir klar, dass es nichts mit Hormonen oder dem Erwachen der Sexualität zu tun hat, dass man ein tiefes Empfinden dafür entwickelt, wer man wirklich ist.
Sie wussten sofort, dass in dieser Erkenntnis ein potenzieller Filmstoff steckt?
Zumindest dachte ich mir, dass sicherlich sehr viele Menschen bei diesem Thema sehr unwissend sind. Ein Kind in seiner Trans-Identität zu zeigen erschien mir unglaublich interessant und nicht zuletzt wichtig. Meine Produzenten waren zunächst skeptisch bis ängstlich, weil das Thema natürlich sensibel ist und vor allem diese Kinder in der Gesellschaft eher unsichtbar sind. Es ging also erst einmal darum, überhaupt ein Kind zu finden, dessen Geschichte ich erzählen konnte.
Wie gingen Sie da vor?
Offizielle Stellen, an die ich mich wenden und nach Kontakten fragen konnte, gab es nicht. Eltern von trans Kindern sind in Frankreich meist sehr auf sich allein gestellt und deswegen auch oft überfordert. In den wenigsten Fällen wissen sie, wie sie damit umgehen sollen, wenn ihr Kind im falschen Körper geboren wurde. Aber entsprechend tauschen sie sich oft in Internetforen über ihre Erfahrungen und Fragen aus. Ein solches Forum fand mein Assistent und dort posteten wir eine Nachricht, um interessierte Eltern und ihre Kinder kennenzulernen.
„Kleines Mädchen“, Regie: Sébastien Lifshitz, Frankreich 2020, 85 Min. Läuft auf www.salzgeber.de
Das Finden ist das eine, tatsächlich das für einen Film wie „Kleines Mädchen“ nötige Vertrauen zu gewinnen etwas anderes …
In der Tat. Ohnehin meldeten sich nur zwei Mütter bei uns. Eine aus Kanada, die zu meinem Erstaunen davon berichtete, wie wenig die Trans-Identität ihres Kindes in ihrem Umfeld ein Problem ist. Und dann Sashas Mutter Karine hier aus Frankreich. Sie war an dem Projekt nicht uninteressiert, aber sehr vorsichtig. Sie kannte mich und meine Arbeit nicht und war entsprechend skeptisch, was unsere Absichten anging. Nachdem ich etliche E-Mails und auch einige meiner Filme geschickt hatte, stimmte sie einem Treffen zu. Unser Kennenlernen war dann emotional recht intensiv. Seit Jahren war sie eigentlich allein mit ihrer Situation, ohne Menschen, die ihr helfen konnten oder auch nur vorurteilsfrei zuhörten. In mir erkannte sie erstmals jemanden, der sie unterstützen wollte. Und so durfte ich dann auch Sasha und den Rest der sechsköpfigen Familie kennenlernen.
Letztlich wurden Sie sehr nah herangelassen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Natürlich war ein kleines Team wichtig. Außer mir waren nur drei andere Personen dabei, für Kamera, Ton und ein Assistent. Damit die Sache funktioniert, mussten wir alle in den Familienkreis aufgenommen, also quasi adoptiert werden. Zum Glück geschah das schnell, denn die Familie merkte, dass wir als eine Art zweiter Schutzschild für Sasha dienen konnten. Besonders wichtig war es natürlich, dass Sasha uns akzeptierte. Dass wir in ihrem Zimmer filmen durften, war zum Beispiel etwas sehr Besonderes. Das betritt sonst niemand außer ihren Geschwistern und Eltern. Es ist ihr geheimer Rückzugsort, ihr Allerheiligstes. Keine*r ihrer Mitschüler*innen zum Beispiel weiß, dass ihr Zimmer ein Mädchenzimmer ist.
Innerhalb ihrer Familie wird Sasha unterstützt und geliebt, doch das Umfeld ist ablehnend. Vor allem in der Schule darf sie nicht sie selbst sein. Hat Sie dieses völlige Unverständnis von offizieller Seite überrascht?
Nun, das Umfeld der Schule ist ein sehr traditionelles; viele Familien, deren Kinder sie besuchen, sind streng katholisch. Das Gleiche gilt ganz besonders für den Schulleiter. Karine hatte über Jahre versucht, einen Dialog mit ihm und anderen Beteiligten herzustellen. Doch in der Schule war man nie sonderlich hilfreich, wenn es darum ging, Sasha zu verstehen oder zu beschützen. Sie fühlte sich dort auch nie akzeptiert und musste zunächst zum Beispiel „Jungskleidung“ tragen. Doch die Lage wurde noch schwieriger, als es um den Film ging.
Der Schulleiter versuchte sogar, Sashas Eltern davon abzubringen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, nicht wahr?
Genau. Man hatte vermutlich Angst, dass der Film zu viel Verständnis für Sashas Situation wecken könnte und sie damit zum Einlenken oder Umdenken gezwungen würden. Deswegen wurde mir auch verboten, in der Schule zu drehen, obwohl ich gerne etwas von Sashas Alltag dort gezeigt hätte. Als wir einmal mit der Kamera in der Nähe der Schule drehten, kam sogar ein Brief vom Anwalt, in dem uns mit Anzeige gedreht wurde, falls das Gebäude von außen gezeigt oder auch nur der Name der Schule genannt würde.
wurde 1968 in Paris geboren. An der École du Louvre und an der Sorbonne studierte er Kunstgeschichte, zum Film kam er unter anderem als Assistent von Claire Denis. Sein Spielfilmdebüt hatte er 2000 mit „Sommer wie Winter“. Im Jahr 2004 wurde sein Spielfilm „Wild Side“ auf der Berlinale mit dem Teddy ausgezeichnet. Sein nächster Spielfilm „Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden“ (2009) wurde ebenfalls auf der Berlinale uraufgeführt, der Dokumentarfilm „Kleines Mädchen“ feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale 2020.
Inzwischen wurde „Kleines Mädchen“ in Frankreich im Fernsehen ausgestrahlt. Wie waren die Reaktionen auf den Film?
Die Ausstrahlung fand eine bemerkenswert große Beachtung, nicht zuletzt weil sich meine ursprüngliche Einschätzung als richtig erwies: Die wenigsten Menschen wissen viel über das Thema Trans-Identität und schon gar nichts darüber, dass es dabei auch um Kinder gehen kann. Viele Menschen haben das wohl mit großem Interesse verfolgt – und viele waren entsetzt vom Verhalten der Schule. Natürlich gab es, wie immer bei einem solchen Thema, auch ein paar Leute, die generell in Frage stellen, dass man trans sein kann. Oder der Meinung sind, dass Kinder dafür noch kein echtes Bewusstsein haben können.
In diesem Kontext wurde mitunter auch angemerkt, dass Sasha selbst im Film vergleichsweise wenig über sich selbst erzählt.
Ja, aber das gilt nur, wenn man erzählen gleichsetzt mit Worten. Sie ist nun einmal ein kleines Kind, schüchtern und auch ein wenig verschlossen. Wie könnte man von ihr einen Vortrag über ihre eigene Situation erwarten? Sie hat schließlich noch keinerlei Distanz zu sich selbst oder den Gefühlen in ihrem Inneren. Aber sie ist einfach sie selbst – und das erzählt ganz viel, von ihren Gesten über ihre Wortwahl bis hin zur Art und Weise, wie sie spielt. Man muss sie nur angucken und ein wenig beobachten, um zweifelsfrei zu wissen, dass sie ein Mädchen ist. Wer das nicht erkennt, will es nicht sehen. Aber zum Glück sind die meisten Zuschauer*innen von Sasha und ihrer Familie immer sehr angetan.
Glauben Sie, dass es für eine Geschichte wie diese besonders wichtig ist, sie dokumentarisch zu erzählen, um eine größtmögliche Wirkung zu erzielen?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Auch ein Spielfilm wie „Girl“ von Lukas Dhont kann Ähnliches leisten und hat sicherlich beim Thema Trans-Identität viele Augen geöffnet. Aber so oder so hoffe ich, dass „Kleines Mädchen“ ein Film mit Wirkung ist. Der vielen Kindern und auch Eltern helfen könnte, die in einer ähnlichen Situation sind, denn Vorbilder sind wichtig. Nicht nur für trans Menschen, sondern für alle, die in unserer von klein auf, selbst bei Kinderklamotten und Spielzeug in „männlich“ und „weiblich“ sortierenden Gesellschaft ihre eigene Identität und Denkmuster hinterfragen wollen.
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