Reform der Organspende: Eine Herzenssache
Der Bundestag beschließt eine moderate Reform der Organspende und lehnt die Widerspruchslösung ab. Die Debatte ist nachdenklich und emotional.
Manchmal hat der Bundestag über Fragen von Leben und Tod zu entscheiden. Jene, wie es der Gesetzgeber mit der Organspende hält, ist so eine. Sie wurde am Donnerstag im Plenum diskutiert. Es ging nachdenklich zu, aber auch emotional. Der Fraktionszwang war – wie bei Gewissensentscheidungen üblich – aufgehoben. Die Frage ist: Darf der Staat seine BürgerInnen automatisch als Organspender betrachten, wenn sie nicht ausdrücklich widersprechen?
Eine solche „doppelte Widerspruchslösung“ fordert eine Gruppe Abgeordneter um CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn und den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. Lauterbach nennt in seiner Rede dramatische Zahlen. In Deutschland sterben jedes Jahr über 1.000 Menschen auf der Warteliste für ein Organ. In Nachbarländern würden zwei- bis dreimal so viele Organe gespendet, betont er. „Wir sind Schlusslicht in Europa.“
Dabei sei die Spendenbereitschaft hoch, sagt Lauterbach. 85 Prozent der Deutschen stünden der Organspende positiv gegenüber. Leider gibt es eine Kluft zwischen dieser Einstellung und der gelebten Praxis. Nur 39 Prozent der Deutschen haben ihr Ja zur Spende auf einem Organspendeausweis oder in einer Patientenverfügung dokumentiert. Lauterbach will die Kluft schließen. Er spricht eindringlich, ohne Pausen zwischen den Sätzen, klammert sich am Rednerpult fest.
„Es fehlt eine einfache, unbürokratische Regelung, wie man zum Spender wird.“ Und: Es gebe keine Pflicht zur Spende. Aber es sei unethisch, ein Organ im Falle einer schweren Krankheit für sich beanspruchen zu wollen, aber selbst nicht mal bereit zu sein, Nein zu sagen, wenn man nicht spenden wolle.
Der Vorschlag, den Lauterbach, Spahn und andere unterbreiten, wäre ein Paradigmenwechsel: Wer ein Organ im Falle des Hirntodes spenden möchte, muss bisher seine Einwilligung zu Lebzeiten gegeben haben. Spahns und Lauterbachs Widerspruchslösung dreht diese Logik um. Jeder wäre ein möglicher Organspender, es sei denn, er oder sie widerspricht. Das Nein kann ohne jede Begründung erfolgen – und revidiert werden. Auch Abstufungen, etwa nach einzelnen Organen, wären möglich.
Kultur der Organspende
Nach Lauterbach bekommen 23 weitere RednerInnen das Wort. Jeder hat fünf Minuten, die Debatte ist auf zwei Stunden angesetzt. Spahn hört in den Reihen der Unionsfraktion zu, er hat den Antrag als Parlamentarier eingebracht, nicht als Minister. Als Letzter geht er mit schnellen Schritten nach vorn.
Die Widerspruchslösung sei „kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe“, sagt er. Sie bedeutete aber, dass die Gesellschaft deutlich mache: „Ja, wir wollen eine Kultur der Organspende.“ Spahn verweist auf Patienten und Kinder, die teils seit Jahren in Krankenhauszimmern mit großen Maschinen lebten, weil es keine Spenderorgane gebe. In keinem anderen Bereich werde solches Leid und eine solche desaströse Versorgungssituation akzeptiert.
Spahn schaut in die Runde. Sei es eine Zumutung, dass Leute, die nicht spenden wollten, widersprechen müssten? „Ja, aber eine, die Menschenleben rettet.“ Am Ende warnt er, der Gesetzentwurf der anderen Abgeordnetengruppe werde nichts an der jetzigen Lage ändern. Das ist ein böser Vorwurf, denn der Status quo, viel zu wenig Spenderorgane für zu viele Todkranke, ist fürchterlich.
Den zweiten Gesetzentwurf haben die Grüne Annalena Baerbock, die Linke Katja Kipping und andere formuliert. Sie schlagen eine „Zustimmungslösung“ vor, eine moderate Verbesserung der geltenden Gesetzeslage. BürgerInnen sollen regelmäßig, etwa von Hausärzten oder wenn sie im Bürgeramt einen Ausweis beantragen, über Organspenden informiert und dazu ermuntert werden. Der Eintrag soll leicht über ein Onlineregister erfolgen.
Die AfD-Fraktion wirbt in einem dritten Antrag dafür, die Vermittlung und Kontrolle von Organspenden einer unabhängigen, öffentlich-rechtlichen Institution zu übertragen. Er ist aber chancenlos.
Wem gehört der Mensch?
Das Hauptproblem sei es, dass zu wenig gemeldet und zu wenig transplantiert werde, sagt Baerbock. Durch das Onlineregister ändere sich die Realität, weil die Ärzte im Krankenhaus sofort darauf zugreifen könnten, anstatt erst den Organspendeausweis suchen oder Angehörige fragen zu müssen. Baerbock macht klar, dass es auch um die ethische Frage „Wem gehört der Mensch?“ gehe. Sie ruft: „In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst, ungefragt, ohne Widerspruch.“
Die Bedenken vor staatlicher Bevormundung sind groß im Parlament. Mehrere Gegner der Widerspruchslösung weisen auf Menschen hin, die sich nicht artikulieren könnten. Was ist mit Obdachlosen, Depressiven oder Analphabeten? Werden den Schwächsten durch die Widerspruchslösung Organe gegen ihren Willen entnommen?
Interessant ist die Debatte vor allem auch deshalb, weil übliche Reflexe unterbleiben. Die meisten Redner sparen sich polemische Angriffe auf ihre Gegner. Da applaudiert die AfD-Fraktion der linken Sozialdemokratin Hilde Mattheis, weil sie auch gegen die Widerspruchslösung ist. Da argumentiert der Liberale Hermann Otto Solms klug für die Widerspruchslösung, obwohl sie dem Staat mehr Macht gibt. Sein Fraktionskollege Otto Fricke entgegnet später nicht minder klug.
Am Ende gewinnen jene, die weiter auf freiwillige Zustimmung setzen wollen. Die Mehrheit stimmt gegen Spahns und Lauterbachs Widerspruchslösung – und für Baerbocks moderate Reform.
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