Rechtsextremisten und Verfassungsschutz: Der „Wirkzusammenhang“
NSU, war da was? Ausgerechnet der Präsident des Verfassungsschutzes äußert sich in einem ZDF-Interview zum Fall Lübcke grob fahrlässig.
Thomas Haldenwang, seit November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), antwortete in einer ZDF-Schalte am Donnerstag grob fahrlässig. Er antwortete auf die Frage, ob die Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland auch deshalb einen neuen Höchststand erreicht habe, weil der Verfassungsschutz nicht genug getan hätte, dass er da nicht unbedingt einen „Wirkzusammenhang“ sähe.
Nun ja, es liegt natürlich auf der Hand, dass der Verfassungsschutzpräsident selbst nicht unbedingt sagt: „Ja, Mann. Da haben wir echt Scheiße gebaut“ – auch wenn das ein durchaus erfrischender Zugang wäre für eine Behörde, bei der mindestens seit den Ermittlungen zu den NSU-Morden klar sein dürfte, dass einige Mitarbeiter den braunen Sumpf vielleicht ein bisschen zu gut von innen kennen. Über Hans-Georg Maaßen und seinen Rechtsdrall brauchen wir an dieser Stelle gar nicht erst zu reden.
Doch Haldenwang sagt in dem Interview dann weiter, hier als wörtliches Zitat, weil es so schön ist: „Dass wir ein Erstarken des Rechtsextremismus in den letzten Jahren wahrnehmen mussten, das hängt an vielerlei Umständen. Das ist insgesamt ein Thema für die gesamte Gesellschaft; ich glaube das hängt sehr viel mit aktuellen politischen Entwicklungen zusammen und möglicherweise natürlich auch mit der Flüchtlings- und Migrationspolitik seit 2015.“
Hier muss man die Frage stellen, ob in dem Verein eigentlich irgendjemand noch nicht von allen guten Geistern verlassen ist. Denn in diesem Zitat von Haldenwang liegt alles begraben, das in diesem Land falsch läuft im Umgang mit Rechtsextremismus.
„Wir mussten es wahrnehmen“ – heißt so viel wie: Wir haben damit nichts zu tun, es ist eine Entwicklung, die sich außerhalb unserer Kontrolle befindet, wir stehen daneben und müssen zusehen. So eine Aussage ist von eineR durchschnittlichen Bürger_in schon gewagt, aber von einem Mann, der seit zehn Jahren Teil des Verfassungsschutzes ist – da wird einem doch schwindlig.
„Ein Thema für die gesamte Gesellschaft“ – ja, stimmt schon, es geht uns alle an. Der gesamten Gesellschaft wäre aber auch echt sehr geholfen, wenn der Verfassungsschutz mal aus dem Quark kommen könnte und sich um die ganzen Wahnsinnigen kümmert, die sich auf einen Tag X vorbereiten, Tausende Schuss Munition bunkern, Feindeslisten führen oder 200 Leichensäcke online bestellen.
„Das hängt mit aktuellen politischen Entwicklungen zusammen“ – genau alles ganz neu, hatten wir noch nie und jetzt plötzlich ein „neuer“ rechten Terror, NSU 2.0 – konnten wir alle nicht kommen sehen. Wer hätte es jemals geahnt.
„Möglicherweise natürlich auch mit der Flüchtlings- und Migrationspolitik seit 2015“ – ja, genau: Danke, Merkel. Hier schließt Haldenwang an die Erzählung der AfD an, dass Angela Merkels Reaktion auf die Geflüchteten, die im Jahr 2015 Deutschland erreichten, den Rechten irgendwelche „Gründe“ geliefert hätte, sich zu radikalisieren. Ähnlich hatte es vorher schon AfD-Mann Martin Hohmann, ein MdB aus Hessen, vermitteln wollen. Laut ihm sei nämlich vollkommen klar: Hätte es den „unkontrollierten und bis heute andauernden Massenzustrom an Migranten nicht gegeben, würde Walter Lübcke noch leben.“ Es seinen die „vielen Morde und Vergewaltigungen notwendiges Glied in der Ursachenkette, die zum Tod von Walter Lübcke führte.“ Doch Stephan Ernst war nicht erst seit 2015 ein Mitglied der Neonazi-Szene.
Von Hohmann kann man nichts anderes erwarten. Aber dass Haldenwang mit seiner Aussage ebenfalls den Eindruck erweckt, die Neonazis in diesem Land hätte es vor 2015 nicht gegeben und indirekt auch Hohmanns Aussage stützt, dass es irgendeinen seit 2015 herrschenden Anlass gäbe, Politikern in den Kopf zu schießen, ist für einen Mann in seiner Position grob fahrlässig.
2014 war noch alles anders?
Zumal er selbst es war, der vergangene Woche mit Horst Seehofer ebenjenen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2018 vorgestellt hatte, um den es in dem Interview ging. Laut Bericht gab es 2018 24.100 Rechtsextreme in Deutschland. Mehr als jeder zweite von ihnen wird als gewaltbereit eingestuft. Zum Vergleich: Im Jahr 2014 20.500 Rechtsextreme – ebenfalls die Hälfte davon als gewaltbereit angesehen. Auch das ist eine beachtliche Zahl, für die man sich schon damals interessieren hätte sollen.
Was den Mordfall Lübcke angeht, ist Thomas Haldenwangs Aussage, er sähe keinen „Wirkzusammenhang“ zwischen Verfassungsschutz, und Rechtsextremen ebenfalls sehr gewagt. Immerhin war der nun ebenfalls verhaftete Markus H., der half dem Täter Stephan Ernst die spätere Tatwaffe zu beschaffen, nicht irgendjemand. Der Verfassungsschutz hatte ihn auf dem Schirm – und Ernst hat ihn beileibe nicht übers Schwarze Brett im Supermarkt gefunden.
Beide sind Teil der Neonazi-Szene in Kassel, beide waren 2009 Teil eine Gruppe, die eine DGB-Kundgebung in Dortmund angegriffen hat. H. wurde außerdem wegen „Sieg Heil“-Rufen und Zeigens des Hitlergrußes in einer Kneipe zu einer Geldstrafe verurteilt.
Aber es wird noch besser: Markus H. wurde 2009 als Zeuge im NSU-Mord an Halit Yozgat vernommen. Das ist jener Mann, der 1985 in Kassel geboren und 2006 in Kassel ermordet wurde, jener Mann der da ein Internetcafe betrieben hat, jener Mann der verblutend hinter dem Tresen lag, als Andreas Temme, damaliger Verfassungsschützer, eben jenes Internetcafé verließ und später sagte, er habe nichts gesehen und damit nichts zu tun. Temme, der nach der Aussage eines ehemaligen Nachbarn in seinem Heimatdorf als Jugendlicher den Spitznamen „Klein Adolf“ getragen haben soll.
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