Rechtsextremismus in Berlin: Rechtsruck führt zu Überstunden
Immer häufiger kommt es zu rechtsextremen Vorfällen in Berlin – aber den lokalen Register- und Beratungsstellen werden zusätzliche Mittel verwehrt.

Leon W. ist mit seinen Erlebnissen nicht allein. Immer häufiger kommt es auf Berlins Straßen zu rechtsextremen Vorfällen. Neonazis kleben Sticker, sprayen Parolen, bedrohen, pöbeln, rauben, schlagen zu. Im Fokus der Aktivitäten stehen vor allem die Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und eben Lichtenberg, wo Leon W. wohnt.
Wer etwas beobachtet – zum Beispiel einen Naziaufkleber oder ein Graffito bemerkt –, aber auch, wer selbst bedroht oder angegriffen wurde, kann sich an eine lokale Registerstelle wenden. Die gibt es in jedem Bezirk, sie dokumentieren rechte und rassistische Vorfälle vor Ort, auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Doch die Registerstellen sind zunehmend überlastet – vor allem jene im Osten der Stadt.
„Bei uns in Marzahn-Hellersdorf kristallisieren sich viele Probleme heraus“, erzählt Anne Schönfeld vom örtlichen Register der taz. „Die AfD hat hier bei der Bundestagswahl ihr berlinweit bestes Wahlergebnis eingefahren – und es gibt ein umfassendes neonazistisches Netzwerk.“
Man habe deshalb schon immer zu den Bezirken mit den meisten Vorfällen im berlinweiten Vergleich gehört, sagt Schönfeld. Aber seit einiger Zeit beobachtet sie einen beispiellosen Anstieg der Meldungen. Zwar hat sie die Fallzahlen für 2024 noch nicht abschließend ausgewertet, doch schon jetzt rechnet Schönfeld mit doppelt so vielen Einträgen wie im Vorjahr, als 531 Vorfälle in die Statistik eingingen. Das wiederum waren schon 45 Prozent mehr als noch 2022.
Statistik und Tipps
Jede einzelne Meldung verwandelt Schönfeld in einen detailreichen Eintrag, damit eine über Jahre und Bezirksgrenzen hinweg vergleichbare Statistik entsteht. Zudem bietet Schönfeld sogenannte Verweisberatung an: Wer Gewalt erfahren hat und Hilfe braucht, erhält Tipps, welche juristische oder psychosoziale Beratungsstelle in der Situation weiterhelfen kann.
Das ist ziemlich viel Arbeit. In Marzahn-Hellersdorf muss Anne Schönfeld sie allein machen – eine große Herausforderung: „Immer mehr Leute erleben rechte Gewalt. Die Betroffenen sind zum Teil minderjährig, werden traumatisiert. Wenn die anrufen, dann gehe ich ans Telefon.“ Der Rechtsruck bedeutet für sie ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum: „Man soll keine Überstunden machen, aber man kann die Menschen bei dieser Form von Arbeit nicht im Stich lassen“, sagt Schönfeld.
Sorgen bereite ihr vor allem der „exorbitante Anstieg an Bedrohungen“. Mitverantwortlich seien dafür neue Netzwerke von jungen Rechtsextremen wie etwa „Deutsche Jugend Voran“ und „Jung und Stark“, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal in Erscheinung getreten sind. „Die nehmen vor allem Menschen ins Visier, die als politische Gegner*innen gelesen werden. Besonders oft trifft es Antifas und queere Personen“, berichtet Schönfeld. Auch der Übergriff auf Leon W. fällt in dieses Muster.
Drohungen und Beleidigungen
Eine Beobachtung, die auch Jeannine Löffler macht. Löffler arbeitet für das Register im benachbarten Bezirk Treptow-Köpenick, ebenfalls ein Hotspot rechtsextremer Aktivitäten in Berlin. Die interaktive „Vorfalls-Karte“ auf der Webseite der Meldestelle verzeichnet vorläufig 107 Fälle von Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien im vergangenen Jahr. 2023 waren es laut Jahresauswertung noch 80 – bereits das ein Höchststand.
„Zwar haben die körperlichen Angriffe kaum zugenommen. Aber unsere Erfahrung zeigt: Das kommt noch“, erklärt Löffler gegenüber der taz. „Zuerst kommen die Gewaltaufrufe, dann folgen Gewalttaten.“ Deshalb sei auch der massive Anstieg der dokumentierten Fälle von rechter Propaganda so beunruhigend – deren Zahl hat sich der vorläufigen Statistik zufolge nahezu verdreifacht. „Das war eine regelrechte Materialschlacht im vergangenen Jahr“, sagt Löffler dazu. Aus der Vorfalls-Karte geht hervor, dass sich die Gesamtzahl der Meldungen auch in ihrem Bezirk im Jahresvergleich auf knapp 1.000 Fälle verdoppeln dürfte.
Die Registerstellen in Treptow-Köpenick und in Marzahn-Hellersdorf sind die einzigen lokal verankerten Anlaufstellen bei rechten und rassistischen Erlebnissen in den jeweiligen Bezirken. Bereits im vergangenen Jahr habe sie deshalb den Berliner Senat gewarnt, dass die Arbeit bald nicht mehr zu schaffen sei, sagt Anne Schönfeld aus Marzahn-Hellersdorf. Alle Bezirksregister sind zuwendungsfinanziert und hängen am Tropf des klammen Landeshaushalts.
Der Senat sei sich „der Bedeutung und der Notwendigkeit der Arbeit der Registerstellen bewusst“, erklärt eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Antidiskriminierung auf taz-Anfrage. Man habe keine Kürzungen vornehmen müssen; vielmehr seien die Zuwendungen an die Register in diesem Jahr sogar leicht gestiegen: um etwa 4.000 Euro pro Bezirk. Zusätzliche Mittel für die Bewältigung der Projektarbeit stünden „aktuell jedoch nicht zur Verfügung“, so die Sprecherin.
Fehlende Unterstützung
Doch auf die hatte insbesondere das Register in Marzahn-Hellersdorf gehofft, um eine zusätzliche Personalstelle schaffen zu können. Tatsächlich waren dem Projekt in einem Teilbescheid sogar die dafür beantragten Gelder in Aussicht gestellt worden. Die Summe für das gesamte Jahr wurde später aber wieder nach unten korrigiert, Anne Schönfeld erhält nun also doch keine Unterstützung durch eine zusätzliche Kolleg*in.
Mangelnde Planungssicherheit ist ein Problem, mit dem auch andere zuwendungsfinanzierte Projekte in dem Bereich zu kämpfen haben – etwa die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). „Die Projektförderung von Jahr zu Jahr macht es schwer, kompetentes und erfahrenes Personal auf Dauer zu halten“, sagt MBR-Projektleiterin Bianca Klose. Trotz der Bewilligung der Förderung bleibe es herausfordernd, auf den „steigenden Bedarf in Zeiten der Polarisierung und Radikalisierung langfristig zu reagieren“, so Klose.
Klose berichtet ebenfalls von einer Verdopplung der Erstberatungen im vergangenen Jahr. Zudem gebe es immer mehr Anfragen aus dem Bereich Schule. Allgemein beobachte sie eine „verstärkte Präsenz gewaltbereiter rechtsextremer Gruppen im öffentlichen Raum“, sagt Klose.
Das äußert sich laut Anne Schönfeld in Marzahn-Hellersdorf darin, dass rechte und rassistische Vorfälle mittlerweile aus allen Ortsteilen gemeldet werden – auch aus Einfamilienhaussiedlungen wie Mahlsdorf. „Es ist nicht mehr ein reines Plattenbauphänomen“, sagt Schönfeld.
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