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Reaktionen auf das Sylt-VideoVon nichts gewusst

Dass Leute auf Sylt rassistische Parolen brüllen, hat online für Schock und Überraschung gesorgt. Doch die Reaktionen sind unaufrichtig.

Mahnwache in Kampen unter dem Motto: Sylter gegen Rechts am 26.05.2024 Foto: Lea Sarah Albert/dpa

E s ist wieder passiert: Rassismus in Deutschland wurde dokumentiert und medial öffentlich gemacht. Ein rassistischer Vorfall hat unsere Aufmerksamkeit und wird zum Aufreger im Netz. Habt ihr das Sylt-Video gesehen? Ich auch. Auf allen Plattformen. Rassistisches und menschenverachtendes Verhalten gehört aufgezeigt, problematisiert, öffentlich bloßgestellt und geächtet. Gut wenn so etwas viral geht und niemand so tun kann, als hätte man es leicht nicht mitkriegen können. Richtig so.

Doch dann beginnt das Überraschungs-Game. Das Spiel ist so nervig wie vorhersehbar: Irgendwas mit Rassismus geht viral und wird in den Medien diskutiert. Dann kommen die Reaktionen und Statements. Von Po­li­ti­ke­r*in­nen und Privatleuten. Von Medienpersönlichkeiten und Leuten mit einem Insta-Account.

Viele Menschen sagen, sie seien schockiert. Jedes Mal, ob in Reaktion auf Beleidigungen im Alltag, auf rassistische Chatnachrichten einer Behörde, beim Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft oder eben wenn ein Video kursiert auf dem irgendwelche reichen Leute auf einer deutschen Insel in bester Partylaune rassistische Parolen grölen und den Hitlergruß zeigen.

Irgendwer ist immer überrascht. All diese Momente, in denen sich Rassismus öffentlich zeigt, sind ganz unterschiedlich einzuordnen, kommen aber aus dem gleichen rassistischen Grundton in diesem Land. Deswegen ist daran selbstverständlich nichts überraschend. „Schockierend“ lasse ich gelten.

Sie sind nicht überrascht, sie tun nur so

Ich bin nicht die Einzige, die sich an der vorgetragenen, behaupteten Überraschung stört. Denn auf solche ersten Statements folgt eine zweite Welle. Es ist die Empörung über die Überraschung: eine Welle an Tweets und Ins­ta­gram-Storys, in denen Leute erklären, dass sie nicht überrascht sind. Wie gesagt, ich bin es auch nie. Doch die Abläufe dieser Reaktionen wiederholen sich so sehr, dass sie schon einstudiert wirken und ich beginne, an der Aufrichtigkeit von beidem zu zweifeln: Die Reaktion ist nicht echt und die Gegenreaktion auch nicht.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Menschen, die in diesem Land leben, wirklich von nichts wissen? Dass ihnen das rassistische Klima nicht bewusst ist, sie von Halle und Hanau nichts mitbekommen haben? Kennen sie nicht die Wahlergebnisse und Umfragewerte der AfD? Wer einen Internetzugang hat, weiß, was hier los ist und wird nicht von Rassismus „überrascht“. Wer ins Internet kommt, um seine Überraschung auszudrücken, kann nicht überrascht sein.

Und die Unüberraschten wie ich? Wir spielen das Spiel mit, in dem wir die Überraschung durch unsere Gegenposition legitimieren. Vor allem wenn wir als Betroffene argumentieren. „Ich, die ich Rassismus erfahre, bin nicht überrascht“, ist bestimmt eine befreiende Aussage und weist darauf hin, dass nicht alle auf die gleiche Weise Rassismus erfahren. Dass es ein weißes Privileg ist, überrascht sein zu können. Dabei schwingt aber eine Entschuldigung mit für alle, die sich ignorant stellen: „Ich weiß etwas, das du nicht so gut wissen kannst.“

Sie sind nicht überrascht. Sie tun nur so. Sie entscheiden sich dafür, die rassistische und faschistische Gefahr zu ignorieren. Das nächste Mal sollte die Reaktion also nicht sein: „Du bist überrascht und ich bin es nicht“, sondern: „Ich bin nicht überrascht, und ich weiß, du bist es auch nicht. Was machen wir jetzt?“

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Simone Dede Ayivi
Simone Dede Ayivi ist Autorin und Theatermacherin. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim. Aktuell arbeitet sie zu den Themen Feminismus, Antirassismus, Protest- und Subkultur.
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7 Kommentare

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  • Schade dass jetzt das eigentlich sehr schöne Lied unspielbar geworden ist: Ich hatte mich schon drauf gefreut, dass Aktivisten einfach mit "Rassisten raus, Sexisten raus - Deutschland bleibt farbig, Faschisten raus" kontern..

  • Unterm Strich bleibt immer die Frage:



    Wie lässt sich Mentalität wirklich ändern?

  • Ich war nicht überrascht, und ich war auch nicht schockiert. Wäre Letzteres der Fall, dann würde ich mich vermutlich in einem (handlungsunfähigen) Dauerschockzustand befinden.

    "Was machen wir jetzt?"

    Die "Symptome" begrenzen und versuchen, die Ursachen (wirklich!) zu verstehen.

    Ereignisse, wie jenes auf Sylt, sind ein großes Problem. Aber dessen Akteure sind nicht vergleichbar mit rechtsradikalen Attentätern. Es ist z. B. gut vorstellbar, dass sie eher die FDP wählen würden, als die AfD und im Job/Alltag mit "ausländischen" Menschen umgehen, ohne dass es dabei Probleme (auf beiden Seiten) gibt.

    Also - was geht da (wirklich) ab?

    • @Al Dente:

      Nein, Attentäter sind sie nicht. Sie signalisieren "nur" eine ungute Akzeptanz inakzeptabler Haltungen, was Attentäter als Bestätigung verstehen könnten, sie täten's fürs 'Volk'.

      Leider gibt es den Neoliberal-Schnösel, der laut nach unten tritt, um sein Gewissen nie hören zu müssen: Die anderen sind doch selbst schuld, dass sie nicht reich und deutsch geboren wurden.

      Da mag man sich beim gutverdienenden indischen Programmierer noch wohlerzogen zurückhalten können. Und nach fünf Bier doch es herauslassen.

  • Laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung haben rund 8 Prozent der Menschen in Deutschland ein geschlossen rechtsextremes Weltbild.



    Tun öffentliche Einrichtungen, Schulen, Universitäten, Politik und Wirtschaft nach dem letzen "Skandal" mehr als nur zu reden, um dem rechtsextremen Trend konkrete Maßnahmen entgegenzusetzen? Garantiert nicht!



    Dabei bräuchten z. B. Jugendclubs in Ostdeutschland viel mehr Geld!



    Denn laut einer Studie der Universität Leipzig befürworten im Osten Deutschlands von den 14- bis 30-Jährigen 18 Prozent eine rechtsautoritäre Diktatur. Eine erschreckende Zahl.

    Zitat



    "Das habe auch mit Weltbildern in den Familien zu tun, so Extremismusforscher Matthias Quent. “Wir müssen uns vor Augen führen, dass das, was von einer Mehrheit in Deutschland immer noch als rechtsextrem angesehen wird, für einen Teil der Bevölkerung etwas völlig Normales ist. Das ist die Alltagswahrnehmung, das ist das politische Alltagssprechen, das ist der Blick auf die Gesellschaft.“ In dieser Normalität wüchsen junge Menschen auf. „Sie kriegen das in den Familien mit, im schulischen Umfeld, im beruflichen Umfeld.“

    Dazu komme eine lebendige rechtsextreme Szene.

    • @Lindenberg:

      Nicht nur im Osten, nicht nur dort.



      Abstiegsängste in einem unsolidarischen Umfeld und ein gefährdetes Selbstbild verführen dazu, sich durch Abwertung "anderer" besser zu fühlen. Und wo vorher Kirchen, Vereine, ... für Action und Einbindung sorgten, sind es heute seltsame stumpfblonde Gestalten.

      Ich wäre bei Ihnen. Die Einnahmebasis des Staats wieder stärken, mit positiven Auswirkungen auch auf die gefühlte Gerechtigkeit, und damit Stiftungen, Vereine, ... stützen.

  • U. erzählte, dass F., kurz vor dem Abitur, "Nazis hatte, die taten alles, was er sagt".



    F. wurde vermögender Unternehmer, alles andere weiß ich nicht.

    Jede(r) hat auch das Potenzial zum Fascho. Wohlstandsverwahrlosung kann das sogar auslösen, denn so kann man schlechtes Gewissen und Gerechtigkeitsanwandlungen leichter wegdrücken. Aber alle entscheiden wir uns täglich, wie wir uns verhalten.