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Raum für BäumeDer Waldstratege

Es gibt zu viele Rehe in Deutschland und sie zerstören den Wald – beschützt von Trophäenjägern. Thomas Wenger jagt, um den Wald zu retten.

Natürlichen Wald gibt es in Deutschland kaum noch. Foto: dpa

Jetzendorf taz | Thomas Wenger sinkt der Kopf auf die Brust, die Luft steht nach einem heißen Julitag im Holzverschlag des Hochsitzes. Rechts neben seinem Knie lehnt ein Gewehr, geladen, das Teleskop nach unten. Um seinen Hals baumelt an einem Lederband der in Horn geschnitzte Blatter, eine Art Flöte, mit der Wenger einen Rehbock lockt. „Wenn man den Ton nicht trifft, hört sich das an wie ein Kitz“, hat er vorhin geraunt. Ein sehnender Schrei gellt durch den Wald. Wenn er den Ton falsch anschlägt, kommt kein Bock, sondern die Geiß sucht ihr Junges. Wenger bläst, lehnt den Oberkörper vor. In den Tannen knackt es, doch kein Reh erscheint.

Wenger döst. Zwischen den niedrig hängenden Tannenzweigen auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung schlüpft dann doch noch ein Reh hervor, stakst, äugt, äst, schaut, wittert, zupft einen Halm. Wenger schlägt die Augen auf, erblickt das Reh, schluckt. Das Reh kommt näher, geht auf den Hochsitz zu, steht nun davor, und Wenger sieht mit bloßem Auge, dass kein noch so kleines Geweih aus dem Kopf sprießt. Schonzeit.

„Mit zunehmenden Alter macht es mir schon was aus, zu schießen“, sagt er am nächsten Tag bei einem Gang durch den Wald der Schlossverwaltung Jetzendorf, 50 Kilometer nördlich von München. Thomas Wenger ist dort Förster und zuständig für 300 Hundert Hektar Wald mit Kiefer, Fichte, Eiche, Pappel, Tanne, Buche, Birke, Ahorn und neuerdings vier Felsenbirnen. Die Vielfalt gedeiht, weil Wenger ernsthaft jagt und die Rehe in seinen Wäldern kurzhält. Rehe sind wählerisch, sie fressen schmackhafte Blätter, Tannentriebe und Kräuter zuerst.

Kaum höher als eine Handspanne stehen die Felsenbirnen im Moos an einer Fichte, und Wenger fragt sich, wie die Samen dorthin gekommen sind. Tannensamen fliegen heran und säen sich selbst aus, wie auch Birke oder Ahorn. Die Eicheln hat der Eichelhäher herangeschleppt, „mein bester Waldarbeiter“, wie Wenger sagt, denn der Vogel vergräbt die Eicheln im Boden, um sie später zu fressen und dann nicht holt. Eichenschösslinge wachsen überall in Wengers Wäldern, auf dem Kahlschlag nach dem Sturm, rund um die dicken Fichtenstämme.

Abgefressen und verbuscht

Ein natürlicher Wald gleicht in Deutschland einem Wunder. Von der Ostsee bis zu den Alpen vertilgen meistens Rehe und Hirsche die jungen Bäume und alle anderen Pflanzen, die zu einem gesunden Wald gehören. Sie fressen die Triebe, die Tannen im Wald nach oben ziehen, beißen die zarten Blätter der jungen Buchen, Vogelbeeren- und Ahornstämme, in jedem Frühjahr, immer wieder, und wenn zu viele Rehe im Wald unterwegs sind, vertilgen sie den Baum, bevor er noch als Kraut erscheint. Oder der Baum drängt ohne Triebe nicht in die Höhe, verbuscht.

Je mehr Jäger in Deutschland auf die Pirsch gehen, desto mehr Rehe und Hirsche laufen durch den Wald

Bonsaibuchen kämpfen auch in einem Wald bei Jetzendorf außerhalb der Wengerschen Jagdgebiete durch das scharfblättrige Reitgras. „Gras, Maus, Aus“, sagt Wenger: Das Gras verfilzt am Boden, darunter legen Wühlmäuse ihre Gänge und Bauten an, kein Same und kein Trieb schafft es durch die Pflanzendecke. Wo einst Wald wuchs, breitet sich Gras aus.

Baumstämme stehen in den meisten Wäldern auf einem kahlen Boden wie Maisstangen auf dem Acker. Die seit 200 Jahren reihenweise gepflanzten Monokulturen von Brandenburg bis Baden-Württemberg prägen das Bild der Deutschen vom Wald. Mit einem natürlichen Wald haben diese Fichten- und Kiefernforste so viel zu tun wie Maisfelder mit Natur.

1,15 Millionen Rehe haben Jäger in der Saison 2013/14 geschossen, dazu 75.000 Rothirsche und 64.000 Damhirsche. Rund 200.000 weitere Rehe sterben jedes Jahr bei Verkehrsunfällen. Und dennoch: Es gibt zu viele Rehe und Hirsche. Ihre größten Beschützer sind die Trophäenjäger, die seit Generationen die Wildbestände künstlich hoch halten, gepampert von Ministern aller Parteien, beschützt von Abgeordneten, abgesichert durch das Jagdgesetz.

Je mehr Jäger in Deutschland auf die Pirsch gehen, desto mehr Rehe und Hirsche laufen durch den Wald. Oberstes Ziel der bürgerlichen Jäger ist seit dem 19. Jahrhundert die Trophäe, das Geweih der Hirsche, Gemsen, Rehe für die Hauswand, die Zähne von Keilern für die Uhrkette. Jagd- und Schonzeiten richten sich bis heute nach der Geweihentwicklung, statt den Entwicklungszyklen der Tiere zu folgen und der Natur gerechtzuwerden.

Hege ist da Mittel zum Zweck. Nach der Revolution 1848 eingeführt, war sie ursprünglich als Schutz des Wilds gedacht, doch wurde sie längst von Jägern pervertiert. Sie karren Maiskolben und Steckrüben für die Wildschweine in den Forst, streuen Heu in Futterkrippen für Rehe und Hirsche. Damit das Geweih mächtiger wird, päppeln sie Wild mit Proteinfutter auf. Auch die genetische Auslese übernehmen die Jäger und entscheiden, ob ein Bock in ein paar Jahren ein prächtiges Geweih tragen wird, ein „guter Vererber“ ist. Dann wird er verschont, die vermeintlich „schlechten Vererber“ werden geschossen.

Undemokratisch, hierarchisch

Im ökologisch verarmten Wald spiegelt sich die bürgerliche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhundert. Patriarchal, undemokratisch und hierarchisch wird ausgelesen, wer stört. Das Verständnis der Jagd ist aus der Zeit gefallen, was egal sein könnte, wenn dieses antiquierte Jagdverhalten nicht die biologische Vielfalt verhindern würde. Ein Großteil der Wälder in Deutschland ist ungeeignet für den Klimawandel – für Fichten wird es zu heiß, für leicht brechende Kiefern zu windig. „Fichten verlieren ihre Funktion als Brotbaum der Forstwirtschaft – klimatolerantere Baumarten wie Tannen und Buchen müssen daher zahlreicher aufwachsen“, schreibt der preisgekrönte Forstwirt und Waldökologe Georg Meister in seinem jüngsten Buch, „Die Zukunft des Waldes“.

„Naturgemäße Waldwirtschaft scheitert fast immer an der vollkommenen Uneinsichtigkeit der Jägerschaft, die nicht bereit ist, die Schalenwildbestände auf ein waldverträgliches Maß abzusenken“, hat Sebastian von Rotenhan beobachtet, der 1988 den Ökologischen Jagdverein gründete. Die Ökojäger sind bei den Trophäenjägern ähnlich beliebt wie der Wolf, denn sie jagen, was geht, und achten nicht darauf, ob das Geweih im nächsten Jahr größer ist, wenn sie den Bock jetzt laufen lassen.

Ein paar Hügel von Jetzendorf entfernt, im Norden Münchens, ist Wenger, heute 46, aufgewachsen. Er lernt Bankkaufmann bei der Sparkasse, geht zur Bundeswehr, reist mit dem Rucksack durch Europa, hängt auf griechischen Inseln ab, studiert schließlich Forstwirtschaft. Als junger Forstwirt lernt er „beim alten Saller“, sägt mit den Waldarbeitern die Bäume per Hand und holt sie aus dem Bergwald am Tegernsee. „Da war ganz viel Verbindung“, sagt Wenger. Im Rindenkobel, kleinen Hütten, haben die Männer beim Holzmachen gehaust, haben am Feuer ihr Abendessen gebraten.

„Ich bin durch und durch Jäger,“ sagt Wenger, der seit 20 Jahren in den von ihm betreuten Wäldern in Bayern, Brandenburg, Sachsen und Thüringen jagt. Er erfüllt den Abschussplan und nutzt die 20-Prozent-Marge, die er über Plan schießen darf. „Jetzt ist der Wald in Ordnung“, sagt Wenger, versetzt eine orange Plastikklammer an einer jungen Tanne vom Stamm an die Spitze auf den neuen Trieb, um sie vor Rehen zu schützen, die trotz Jagd natürlich weiter durch seinen Wald laufen. „Früher hatte ich Wut über den Verbiss“, er schüttelt kurz die Fäuste. „Die Tanne ist der Maßstab,“ sagt Wenger, bückt sich und versetzt noch eine Klammer.

Wenn es Tannen in einem Wald schaffen, innerhalb von 10 bis 15 Jahren vom dunklen Boden über die Fraß- und Fegehöhe ins Licht zu wachsen, dann herrscht ein ausgewogenes Verhältnis von Rehen und Hirschen zum Wald. Rehe und Hirsche fressen die jungen Bäume nicht nur, sie kratzen ihren Kopf an den schmalen Stämmen und scheuern Haut vom jährlich nachwachsenden Geweih ab. „Fegen“ heißt das, und tatsächlich fegen sie mit ihren Geweihen junge Bäume nieder, als schwenke jemand die Streitaxt im Wald.

Da Wenger trifft, wenn er zielt, rufen ihn weniger glückliche Jäger aus der Region, wenn sie das Tier verletzt, aber nicht erlegt haben. „Ich bin Profi und habe es mit Hobbyjägern zu tun“, sagt Wenger, der dann ein Reh schießt, wenn seine Frau und ihre gemeinsamen sechs Kinder Fleisch brauchen. „Die älteste Tradition der Jagd ist das Essen“, sagt Wenger, der mit den Geweihen nichts anzufangen weiß und sie nur widerstrebend auf Holzplatten befestigt, um sie bei der jährlichen Trophäenschau abzugeben.

Einmal im Jahr müssen Jäger die Geweihe der erlegten Tiere den anderen Jägern ihres Hegerings, einer Art jagdlichen Landkreises, zeigen. „Was soll das für eine Tradition sein?“, fragt Wenger, der in den Häusern des Adels einen so guten Ruf als Förster und Jäger genießt, dass er zu den Jagden bei Grafen und Baronen eingeladen wird.

Eine „Hermelinmotte“ nennen Adlige solche Leute wie ihn, erzählt Wenger und lacht über das Schimpfwort. „Nicht das Bollwerk ist widerstandsfähig“, sagt er, „sondern der bewegliche Wald.“ Heute ernten seine Waldarbeiter mit dem Harvester, einer Art Bagger, doch die Waldpflege leistet sich Wenger per Hand, auch wenn es teuer ist. Mit der Heppe, einer gekrümmten Machete, gehen die Arbeiter durch den Wald und schlagen die jungen Eichen, Buchen, Ahorne, Vogelbeerbäume frei, die Wengers Nachfolger in 80 oder 100 Jahren nutzen wird.

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10 Kommentare

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  • „Naturgemäße Waldwirtschaft scheitert fast immer an der vollkommenen Uneinsichtigkeit der Jägerschaft, die nicht bereit ist, die Schalenwildbestände auf ein waldverträgliches Maß abzusenken“

     

    Als ob Natur und Wirtschaft nicht ein Widerspruch in sich wären.

  • Der "Wald"? Ist doch längst vom Menschen zerstört worden. Kaum noch ein Flecken naturbelassener Wald, alles ist kultiviert. Und da soll ausgerechnet das Reh der Übeltäter sein?

     

    Absurder geht´s nicht mehr.

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      Immer noch wesentlich nachvollziehbarer, als für den Vogelschwund die Katzen verantwortlich zu machen, grummel, grummel!

  • Der Wald, das bedeutet heute hochweißes Toiletten- Haushalts- und Druckpapier zum Dumpingpreis, das bedeutet immer größere Mengen an Holz und Holzbestandteilen im Gemischtmüll und es bedeutet zweifelhafte Energiewende mit subventionierten Pelletöfen oder holzbefeuerten Fernwärmeanlagen.

     

    Pufferzonen in Form von Wiesen und Weiden, die sich an die Wälder anschließen und dem Rehwild Äsungsmöglichkeiten ohne Waldschäden boten, gibt es heute dank allumfassender Mais-Monokultur bis an die Ränder der Wälder kaum noch.

     

    Man kann es drehen und wenden wie man will: In unserer Kulturlandschaft haben Wildtiere schlichtweg keinen Platz mehr. Selbst in Nationalparks haben die Jäger ihren Fuß in der Tür, brettern mit ihren Geländewagen durch den Wald und kirren und füttern was das Zeug hält, damit die arme Jägersfamilie keinen Hunger leiden muss.

  • Welchen Grund außer Geldgier gibt es überhaupt, den Wald heute nur noch als profitablen Holzacker zu sehen und seine Funktion als Klimaschützer, Luftreinhalter, Wasserspeicher, Bewahrer der Artenvielfalt und nicht zuletzt als Ort der sportlichen Erholung und gesunden Regeneration der Menschen zu sehen?

  • "Patriarchal, undemokratisch und hierarchisch wird ausgelesen, wer stört. "

     

    Bis zu diesem Blödsinn war der Artikel noch wirklich gut.

  • Horst Stern -

     

    "Hirsche Rehe…… - die

    Kühe des Waldes!

    (…die auch ruhig ab und an mal durch einen

    stromernden Hund bewegt werden dürfen:))"

  • Wenn man bedenkt, dass Rehe und Hirsche ursprünglich Bewohner des offenen Graslandes sind, ist ihr Verhalten auf jeden Fall nachvollziehbar. Vom Flächenfraß der Zivilisation in die Wälder gedrängt, zerstören sie diese, damit es längefristig wieder offenes Grasland gibt. Ich verstehe allerdings nicht, warum nicht viel konsequenter von den Waldbesitzern gegen die Schäden durch das Verhalten der Hobbyjäger vorgegangen wird.

  • Es ist doch schön, dass es noch so selbstlose Menschen gibt, die diesen derart schweren Beruf ausüben, um unsere pflanzliche Artenvielfalt in der Forstwirtschaft zu erhalten. Und das sogar Grafen, Barone und Schlossverwaltungen dafür extra Arbeitsstellen schaffen! Und dass das natürlich gar nichts damit zu tun hat, dass "Wald" leider zur Zeit als "krisenfeste Kapitalanlage" gilt, die mittlerweile gern Anliegern empfohlen wird - wenn es natürlich vorher nicht irgendwelche scheußlichen Tiere kaputt gemacht haben.

    ...und dass es noch so liebe Menschen wie die Frau Fokken gibt, die erstmal alles glauben, was man ihnen so nachmittags im Wald erzählt...

     

    Eine Frage habe ich allerdings: Wieviel Fleisch "brauchen" denn um alles in der Welt die Frau und die gemeinsamen (das scheint wichtig zu sein) sechs Kinder von Herrn Wenger? Wenn er nur in diesem Falle Rehe totschießt und trotzdem 20% über dem "Abschussplan" bleibt?

  • natürlich! die jäger sind wieder schuld. wenn sie aufs Bambi schießen, sind sie Mörder, wenn es unterlassen, sind sie für den Niedergang des deutschen Waldes schuldig. bedauerlich auch, dass hier eine diskussion wiederholt wird, die berechtigt in den 80ern Jahre geführt wurde. die waldbaulichen Gegebenheiten haben sich seit dieses jahren erheblich verändert. nicht nur im großprivatwald sondern auch in Staats und Landesforsten sind unverkennbar naturnahe waldbauliche verfahren, die eben unterbau und Verjüngung voraussetzen, angekommen und umgesetzt worden. die waldbauliche situation insoweit ist gut. Voraussetzung hierfür war in der tat in Prozess der Absenkung der wilddichten, in besondere bei verbeißenden schalenwild. nichts anderes ist seit den 90ern vollzogen worden. zudem wird - wie üblich - übersehen, dass ein Großteil des deutschen Waldes Staatswald ist. dort findet man förster, forstoberräte und forstdirekten, die neben der bewirtschafttung auch für die Bejagung dieser Reviere verantwortlich sind,

    weshalb es dem der bösen trophäenjäger insoweit an jeder beeinflussungsmöglichkeit fehlt. soweit diese in Staatsgelder jagen, tun sie es nach strengen vorgaben. insgesamt geht der deutsche wald nicht unter, sondern es ist nach rund 25 Jahren gelungen, die wälder in naturnähere Strukturen (die Baumart auf den Standort, die dort ihr ökologisches optimum hat, unterbau und Verjüngung usw) zu überführen. notwendiges regulativ ist die Jagd, was im grossen und ganzen funktioniert. Ausnahmefälle wie aktuell die die rotwildsituation im harz bedeuten insoweit nicht das Gegenteil