Rauchen, Pupsen, Lügen: Wir brauchen Tabus
Ständig geht es um Enttabuisierung, doch viele Tabus braucht es für ein harmonisches Miteinander. Ein Plädoyer für fünf, die wir beibehalten sollten.
Lügen für die Freundschaft
Die Bilder sind so lala. Aber meine Freundin malt und malt und malt mit Freude – Landschaften, Stadtansichten, Blumen, alles, was ihr in den Sinn kommt. Sie liebt es und kann, seit sie damit angefangen hat, nicht mehr davon lassen. Aquarelle, Wachsmalerei, Bleistiftzeichnungen. Manchmal schickt sie mir ganze Serien über WhatsApp zu und fragt: Wie findest du die? Das ist der Moment, an dem ich mich für unsere Frauenfreundschaft und gegen die Wahrheit entscheide.
Ich antworte kurz, so was wie „Nein, das bist du nicht“, wenn sie ein Selbstporträt produziert hat. Sie malt sich häufig unvorteilhaft, mit Körperproportionen, die nicht ihre sind, mit einem verhärteten Gesicht, das sie auf keinen Fall darstellt – sie ist eine fröhliche, lebensbejahende, humorvolle Frau. Aber manche Bilder, in denen sie sich verewigt, zeigen genau das Gegenteil.
In diesen Fällen widerspreche ich. Aber bei all den Landschaften, den Blumen, dem Meeresrauschen halte ich mich vornehm zurück. Ich will meine Freundin nicht verletzen, auch wenn sie um Kritik bittet. Nun könnte ich sagen: Ist nicht mein Geschmack. Das müsste ich aber fast jedes Mal tun. Das ist nicht nur langweilig, sondern vor allem ungerecht. Sie ist keine professionelle Künstlerin, die harte Kritik einstecken muss. Sie ist eine Freizeitmalerin, die wachsende Freude daran hat, sich auf einen italienischen Marktplatz zu setzen und eine Kirche zu zeichnen. Dabei schaue ich ihr gern zu und bewundere ihre Versunkenheit beim Malen. Kommt es nicht genau darauf an? Simone Schmollack
Polizei rufen bei Lärmbelästigung
Es ist der Klassiker auf jeder zweiten WG-Party: Spätestens um 2 Uhr nachts, selbst am Wochenende, steht wegen Lärmbelästigung die Polizei vor der Tür. Ich gehöre nicht zu jenen jungen Menschen, die für sich das Recht beanspruchen, jederzeit laut sein zu dürfen. Und dann über die „Spießer“ ablästern, die um Ruhe bitten und ihnen damit den Spaß verderben wollen. Es gibt Nachbar:innen, die absolut legitime Gründe haben, zum Beispiel Menschen mit Babys oder jene, die im Schichtbetrieb arbeiten und für die es essenziell ist. Was aber wirklich der Inbegriff deutscher Spießigkeit und dazu ziemlich feige ist: Die Polizei vorzuschicken, statt einfach mal kurz zu klingeln und zu fragen, ob’s nicht leiser ginge.
Das sorgt nicht nur für unverhältnismäßig blöde Situationen, es kann für manche Menschen mitunter bedrohlich werden. Zum Beispiel für die einzige nichtweiße Person aus der Gruppe, die rausgezogen und schikaniert wird, wie es einem Bekannten von mir neulich geschehen ist. Also, liebe Hausgemeinschaft: Bitte nicht die 110 rufen in Situationen, die man easy selbst klären kann! Clara Engelien
Pupsen in der Öffentlichkeit
Er ist zwar noch nicht wirklich auf dem Weg der Enttabuisierung, aber sein kleiner Bruder, der Rülpser, wird immer salonfähiger, und so könnte es mit dem Pups auch nicht mehr weit sein. Pupse sind so vielfältig wie das Gasgemisch, aus dem sie bestehen. Es gibt sie laut und leise, neutral- und übelriechend. Und genau darin liegt das Problem.
Da ist das Maß der Lautstärke. Dazu ein Beispiel aus der Empirie: Mein Vater entlüftet sich für sein Leben gern, am liebsten laut und öffentlich. Es ist seine Art, gegen bürgerliche Konventionen aufzubegehren. Er machte sich lange einen großen Spaß daraus, wenn ich das ultrapeinlich fand.
Einmal trat er zum Rauchen auf den Balkon. Auf dem angrenzenden Balkon saß die Nachbarin, bei Kerzenschein und vollen Tellern, vermutlich ein Rendezvous. Da drehte mein Vater einmal kurz, aber unüberhörbar das Ventil auf, das Gespräch nebenan verstummte, ich verließ fluchtartig den Balkon. Hinterher behauptete er kichernd, das Dinner auf dem Nachbarbalkon hätte er gar nicht bemerkt. Ich glaubte ihm kein Wort.
Heute kann mich mein Vater damit nicht mehr schocken. Ich würde so weit gehen, dass ich dem öffentlichen Flatulieren geradezu offen gegenüberstehe. Schließlich gilt es als ungesund, sich Gase zu verkneifen, und wer will schon ungesund leben? Wäre da nicht noch das andere Maß.
Empirisches Beispiel Nummer 2: Als Kind habe ich mich mal druckwellenartig übergeben, weil der Pups eines Kumpels nach zwei Tellern Chili con Carne so ekelerregend stank. Das ist die wahre Kehrseite des öffentlichen Blähens und eine Zumutung, die keine Revolution gegen jedwede Spießbürgerlichkeit rechtfertigen kann. Solange Menschen also noch nicht erspüren können, welche Duftmarke ihr Pups hinterlässt, möge er in der Öffentlichkeit ein Tabu bleiben. Nora Belghaus
Pickel Ausdrücken im Freien
Neulich saß ich mit Freunden in einem Park. Es war schon spät, da ging einer noch mal los, um am nächsten Späti eine Flasche Wein zu besorgen. Er kam verstört zurück. Folgendes war passiert: Im Kiosk hatte ihn, hinter der Kasse stehend, eine Verkäuferin mittleren Alters begrüßt. Als er nach einigem Suchen nach dem richtigen Wein wieder zwischen den Regalen und Getränkekisten hervortrat, stand sie immer noch dort. Doch nun hatte sie sich tief über den Tresen gebeugt, ihren Busen entspannt neben der Kasse abgelegt und drückte in aller Seelenruhe einen Pickel zwischen ihren Brüsten. Mein Freund blieb irritiert stehen. Er räusperte sich, vielleicht hatte sie ihn ja nur nicht bemerkt. Doch die Dame blickte kurz auf, sagte: „3,99 Euro“ und widmete sich dann wieder der Arbeit an ihrer Talgdrüse.
Mein Freund verließ fluchtartig den Laden. Und ich verstehe ihn. Auch ich bin schockiert. Und ich vermute so langsam die Erosion einer gesellschaftlichen Übereinkunft, auf die ich viel Wert lege: Seit wann ist es in Ordnung, vor anderen Menschen Pickel auszudrücken? Eigene? Fremde? Denn auch das erlebe ich immer wieder, sogar in meinem eigenen Freundeskreis: Paare, die sich gegenseitig im Gesicht, am Rücken, an den Oberarmen herumfummeln – weil sie einander Pickel ausdrücken. Vielleicht liegt es an mir: Ich komme nicht zurecht damit, wenn Menschen öffentlich ihr Innerstes nach außen kehren. Und damit meine ich nicht, was Sie jetzt denken. Wir alle kennen dieses berauschende Gefühl der Befriedigung, nachdem wir einen monströsen Pickel gedrückt haben. Meinen Freunden steht es nach jeder ihrer Minioperationen ins Gesicht geschrieben. Dieser unverhohlene Stolz nach erfolgreich getaner Arbeit, die Begeisterung, ich ertrage es nicht. Solche Regungen gehören nicht in die Öffentlichkeit. Zurück damit ins Private! Ich fordere: Pickel drücken nur vorm heimischen Badezimmerspiegel! Lale Artun
Rauchen auf der Straße
Rauchen auf der Straße. Es ist kein Tabu in Deutschland, sollte aber eines sein – und wird bereits regional in Japan umgesetzt. Denn was für Raucher:innen einen kleinen Eingriff in ihren Alltag bedeutet, ist für Mehrheitsgesellschaft und Umwelt ein großer Gewinn. In der Nähe von japanischen Bahnstationen, Convenience Stores oder Sehenswürdigkeiten befinden sich stets Rauchbereiche. Raucht man außerhalb und wird dabei von der Polizei erwischt, gibt es Bußgeld. Mit gutem Grund.
Wenn jemand gemütlich quarzend die Straße entlangläuft und man selbst muss hinter dieser Person hinterherdackeln, bekommt man den Qualm gratis in die Lunge mitgeliefert – ob man will oder nicht. Zudem interessieren sich viele Raucher:innen nicht für die Entsorgung danach, auf Deutschlands Bürgersteigen finden sich stets plattgetrampelte Stummel und Filter. Das dadurch verpestete Grundwasser bleibt für alle nicht gebührenfrei.
Außerdem verliert der Akt das Prestige der Coolness und den Mitläufereffekt: Denn mit Abhängigen abzuhängen, vergeudet auf Dauer viel Zeit. Man ist stets damit beschäftigt, gemeinsam nach Raucherspots zu suchen und darauf zu warten, dass sie endlich aufquarzen, um weiterziehen zu können. Der Druck der Gruppe ist vielleicht sogar die beste Therapie, um aufzuhören. Shoko Bethke
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