Ratzinger und die Missbrauchs-Affäre: Geraucht, aber nicht inhaliert
Ratzingers Ausreden in der Missbrauchs-Affäre werden immer unglaubwürdiger. Sein Vorgehen erinnert an die Salami-Taktik von Bill Clinton.
G ekifft hat Joseph Ratzinger vermutlich nie. Doch die Entschuldigung, die der fast 95-jährige emeritierte Papst diese Woche gegenüber kirchlichen Missbrauchsopfern aussprach, klang doch arg nach „geraucht, aber nicht inhaliert“. Mit katholischen Pathos-Schlüsselwörtern wie „tiefe Scham“ und „großer Schmerz“ garniert, bedauerte Ratzinger die während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising geschehenen sexuellen Übergriffe durch Priester. Ja, es wurde geraucht damals – Ratzinger war nachgewiesermaßen damals doch anwesend, als in einer Sitzung über die Therapie eines strafversetzten pädosexuellen Priesters gesprochen wurde. Aber nein, inhaliert hat er selbstverständlich nicht: Es wurde ja nicht gesagt, warum der Mann eine Therapie machen musste!
Ratzinger, oder vielmehr seine Berater, orientieren sich erkennbar am Großmeister der Salamitaktik: Bill Clinton, dem 1992 im US-Wahlkampf Drogenkonsum vorgeworfen wurde, musste zugeben, mal am Joint gezogen zu haben. Aber als er treuherzig beteuerte, nicht inhaliert und sich den Blutkreislauf so mit THC verschmutzt zu haben, schaffte er es erfolgreich ins Oval Office. Seinen Ruf als „Teflon-Bill“ verteidigte er nach der Lewinsky-Sex-Affäre damit, dass er ja nur Oralverkehr gehabt hatte (öffentliche Entschuldigung bei der Gattin) und keinen „richtigen“ Geschlechtsverkehr (Amtsenthebungsverfahren).
Trickreiches Herauswinden – das entspricht eigentlich so gar nicht dem aggressiven Charakter des Springer-Vorstands Mathias Döpfner. Als ihm die britische Financial Times jetzt nachwies, doch sehr viel früher und sehr viel mehr über die libidinösen Machtspielchen seines Starjournalisten Julian Reichelt gewusst zu haben, hätte der Boulevardmann, der überzeugt ist, hinter den Anschuldigungen gegen Reichelt stecke eine „Hass-Agenda“ gegen das Springer-Haus, wohl gern jemanden gefeuert.
Aber Reichelt ist schon entlassen (und, wie er vernehmen ließ, sehr glücklich mit seiner aktuellen Freundin, einer Springer-Mitarbeiterin). Also entschloss sich Döpfner zu einer papstähnlichen Nichtentschuldigung: „Rückblickend müssen wir zugeben, dass wir nicht alles richtig gemacht haben. Unser größter Fehler war, (Reichelt) zu lange zu vertrauen.“Den Einzelnen opfern, um das System zu erhalten: Ist nicht schön, funktioniert aber fast immer. Denn es lenkt die Aufmerksamkeit weg vom System, das dann munter weiter funktionieren und zum Beispiel eine schützende Hand über missbrauchende Priester halten kann.
Interessantes Detail des Münchner Missbrauchsgutachtens: Während von 53 Laien, die in katholischen Einrichtungen der Übergriffe auf Kinder beschuldigt wurden, 16 ihren Job verloren, wurden von 173 beschuldigten Klerikern gerade mal 4 aus dem Klerikerstand entlassen.Auch Döpfner geht es erkennbar darum, die Compliance-Affäre irgendwie zu überstehen – damit das Springer-System weiter seine Hetze gegen die mitregierenden Grünen und besonders deren Klimapolitik betreiben kann.
Nachdem erst Cem Özdemir für steigende Fleischpreise mit verbalem Gammelfleisch beworfen wurde, sind jetzt Wirtschaftsminister Habeck (lässt Rotmilane für Windräder sterben!), Außenministerin Baerbock (ernennt Ex-Greenpeace-Brückenabseilerin zur Klimasonderbeauftragten!) und Umweltministerin Lemke (verteidigt Autobahnblockieren als „zivilen Ungehorsam“!) dran.
Als Kronzeuge darf CSU-Landesgruppenchef bei Bild gegen den „Grünstaat“ wettern.Grünstaat, das klingt fast so schlimm wie Grünkohl – dass es einen Bayern da schüttelt, verstehe ich. Und ob es wirklich nötig und zielführend ist, sich die Fingerkuppen am Straßenbelag festzukleben, um auf die Zerstörung des Planeten aufmerksam zu machen, das bezweifle ich auch stark. Aber man kann bei Grünstaat ja auch an was Schöneres denken: Es ist sattgrün, hat handförmige Blätter, wirkt entspannend und soll bald legal konsumiert werden können. Dann werden wir alle guten Gewissens sagen können: Jawohl, ich habe geraucht. Und inhaliert!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär