Psychoanalytiker über Corona-Krise: „Jeder sieht, was er sehen möchte“
Was bringt die Coronakrise in uns hervor: Solidarität oder Egoismus? Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Peter Schneider.
taz am wochenende: Herr Schneider, viele wollen der Coronakrise etwas Positives abgewinnen – im Hinblick auf die Selbstbeschränkung etwa und den Umgang mit der Klimakrise. Aber warum sollte der Mensch ausgerechnet aus Krisen lernen?
Peter Schneider: Ich kann nichts über den Menschen sagen. Manche lernen etwas, manche nicht. Es ist außerdem sehr unterschiedlich, was man lernt, sogar widersprüchlich. Krisen richten Gesellschaften nicht in eine Richtung aus wie ein Magnetfeld. Es ist nicht hilfreich, die Zeiten „danach“ in der Fantasie mit zu viel Optimismus oder Pessimismus aufzuladen.
Sie halten nichts von moralischen Lektionen?
Nicht in diesem Zusammenhang. Pandemien zu einer Erweckungsbewegung der Natur umzufunktionieren und die Zeit danach utopisch aufzuladen führt schnell in eine ökofaschistische Querfront: mehr Verzicht, weniger Überbevölkerung …
Psychoanalytische Kulturkritik impliziert eher radikale Moralkritik. Ist die Psychoanalyse so eine Art Widerspruch zur Moralphilosphie?
Eher eine um die Genealogie der Moral angereicherte Moralphilosophie, das heißt, die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der Entstehung und der Veränderung und Struktur von Moral. Auch dabei geht es – wie in der Wissenschaftsforschung – nicht um eine Umdeutung, sondern um eine Anreicherung der Wirklichkeit.
Bringen Krisen wie die Coronakrise psychologische Grundmuster zum Vorschein?
Man redet oft davon. Dann werden gerne Urängste bemüht oder das von der Evolution übrig gebliebene Verhaltensprogramm. Das ist ahistorischer Quark.
Kommen wir zu etwas Konkretem, dem Hypochonder zum Beispiel. Der entspannt sich doch erst mal, wenn die Bedrohung endlich real ist, er hat nun etwas Konkretes zu bearbeiten, oder?
Ich kenne tatsächlich hypochondrische Menschen, die in dieser Krise zwar nicht unvorsichtig, aber doch recht entspannt leben. Es gibt aber auch solche, die nun unter noch mehr Druck stehen.
Die Vorstellung, dass es Kriege und Katastrophen braucht, damit die Menschen sich eines Besseren besinnen, ist ja eine religiöse. Die Linke spricht da gern von „Schulen der Solidarität“, letztlich folgt das aber auch dem religiösen Denkmuster. Wie erklären Sie als Psychoanalytiker die Wirkmacht solcher Vorstellungen?
Vielleicht ist es eine Art überspringende Kontingenzbewältigung. Zum einen sind wir Zufällen ausgeliefert. Unser Schicksal ist von statistischen Größen, nicht von Kausalität durchwirkt. Zum anderen machen wie die Erfahrung, dass wir – mit Bruno Latour zu sprechen – „niemals modern gewesen sind“, dass unsere Trennungen zwischen Natur und Kultur, Politik und Virus nicht funktionieren, sondern wir in einer hybriden Welt leben, in der ganz unterschiedliche Dinge Hybride und Netzwerke bilden.
Es ist nun schwierig, die Balance zwischen Kontingenz und Netzwerkdenken zu halten. Puren Zufall könnten wir ohnehin nicht ertragen. Aber ein Überschuss an Willen, ein System jenseits des puren Zufalls zu finden, führt in Verschwörungs- oder Erweckungstheorien.
Wo Sie von Erweckung sprechen, Slavoj Žižek beobachtet einen ungeheuren Auftrieb für neue Formen lokaler und globaler Solidarität. Aber sehen wir gerade nicht mindestens ebenso viel Egoismus? Hamsterkäufe, Diebstahl von Schutzequipment aus Kinderkrebsstationen, um nur das Offensichtliche zu erwähnen.
ist Psychoanalytiker in Zürich. Er ist Privatdozent für Klinische Psychologie an der Universität Zürich, Lecturer an der International Psychoanalyst University (IPU) in Berlin und beschäftigt sich mit wissenschaftsphilosophischen Fragen der Psychoanalyse und ihrer Geschichte. Außerdem ist er Kolumnist im Schweizer Radio und bei mehreren Zeitungen. Im Sommer erscheint sein neues Buch, „Normal, verrückt und gestört. Über psychiatrische Diagnosen“ (Schattauer).
Jeder sieht, was er gerne sehen möchte. Dieses Spektrum zeigt auch den hybriden Charakter einer Pandemie. Für die Pessimisten hätten wir ja noch Agamben. Zum Trost kann man sagen: Corona war nur das Sahnekrönchen auf dem Weg Ungarns in eine Diktatur.
Was denken Sie über die Aufforderungen zu mehr Empathie, die sehr en vogue sind – es gibt zahlreiche Neuerscheinungen zu dem Thema, und seit geraumer Zeit kommt kein Essay ohne das Wort aus.
Es braucht diese Aufforderung nicht. Menschen sind ohnehin empathisch. Andererseits ist Empathie auch zu einem Kampfbegriff geworden. Wer nicht die geforderte Empathie aufbringt – oft ist damit eine Art besonderer Gefühlsüberschwang gemeint –, wird pathologisiert. Autist*innen sind ein beliebtes Opfer solchen Empathiemangel-Bashings.
Warum bringt die Quarantäne regressives Verhalten hervor?
Weil die Anforderungen an soziale Anpassung gemindert sind? Wenn es Sie beruhigt: Ich gehe auch ins Homeoffice mit Krawatte.
Das beruhigt mich in der Tat, Sie glauben nicht, wie sehr, denn man weiß doch: Stil erhält die Schönheit von Gedanken. Versetzen das Ende des Alltags, mit dem wir alle gerade umgehen müssen, und die Unsichtbarkeit der Bedrohung vor allem Angstpatient*innen derzeit in eine besonders bedrohliche Lage?
Bei manchen kann die „reale“ Gefahr auch für eine Strukturierung der diffusen Ängstlichkeit sorgen. Menschen reagieren nicht diagnosekonform gleichartig.
Keine Witze übers Klopapier, aber: Was denken Sie als Psychoanalytiker über eine Gesellschaft, die Klopapier statt Champagner hortet?
Dass diese Dichotomie eine schlechte Gesellschaftsdiagnose abgibt. Aus einem dreckigen Arsch entweicht eben auch kein fröhlicher Furz. Und warum soll man auf einmal statt Bier Champagner saufen, bloß weil das besser in das derzeit in gebüldeten Kreisen gern bemühte Boccaccio-Landhaus-Seuchen-Story-Telling passt?
Ja, Sie haben völlig recht, aber apropos Bescheidenheit – werden wir nach Corona anders über uns denken?
Es gibt ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte, wie ein Virus das Denken und das Verhalten geändert hat: HIV. Die Aidspandemie hat einige Veränderungen ausgelöst.
An welche denken Sie konkret?
Sie hat den „Safer Sex“ hervorgebracht, das „Sex ist Befreiung“-Narrativ durchbrochen; und sie hat wider alle anfänglichen Erwartungen die Schwulenbewegung vorangebracht. Letzteres war ein überraschender Kollateralnutzen.
Der negative Fokus, der zunächst auf die Homosexuellen als Verbreiter der neuen Seuche gerichtet war, verschob sich ins Positive in dem Maße, wie die Schwulen schnell zur Avantgarde eines vernünftigen Präventionsbewusstseins wurden. Damit wiederum ist eine Verbürgerlichung der Schwulenbewegung befördert worden, die inzwischen die Forderung „Ehe für alle“ zu einer Maxime des gesunden Menschenverstands gemacht hat.
Das ist aber nicht die kausale Folge dieser Pandemie, sondern ein überaus erstaunlicher Effekt, den niemand hätte vorhersehen können. Es ist nicht „das Gute“, das Aids hervorgebracht hat.
Wie wird das mit Corona sein?
Man weiß nicht, welche Fäden Corona in die Zukunft hineinziehen wird. Daraus die Lehre zu ziehen, dass wir wirtschaftlichen Stillstand brauchen, damit die Luft wieder sauber wird, halte ich für fatal.
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