Corona und der Alltag: Das Leben der Anderen

Wir leben nicht in dem Ausnahmezustand, den der Philosoph Giorgio Agamben beschreibt. Aber die Corona-Krise trifft nicht alle gleichermaßen.

Eine Frau mit Mundschutz

Potenziell gefährlich: Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden sich in dieser Krise verändern Foto: dpa

An einem Dienstag vor gar nicht langer Zeit: Ganz Italien wurde wegen der Ausbreitung des Coronavirus zur Sperrzone erklärt, die Nachtzüge ins Nachbarland waren ohnehin schon gestrichen. Hier in Österreich wurden alle Indoor-Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen abgesagt.

Beide Maßnahmen betrafen mich konkret: Unsere für Ostern geplante Reise nach Sizilien mussten wir absagen, auch das Konzert von der Band Die Sterne, das am selben Abend hätte stattfinden sollen, wurde gecancelt. Die Karte dafür hatte ich zu ­Weihnachten bekommen. Als auf diese Weise Weihnachten und Ostern für mich zusammenfielen, war mir klar: Der Ausnahmezustand ist da.

Symbolisch gesprochen. Aber auch wenn Freizeitaktivitäten wie Reisen und Konzertbesuche allein alles andere als ausschlaggebend sind: Der Ausnahmezustand ist nicht jener, den der Philosoph Gior­gio Agamben an der Grenze zwischen Recht und Politik verortet hat. Es handelt sich überhaupt nicht um die „Schaffung einer Zone der Unbestimmtheit“ (Agamben), in dem Rechtlosigkeit ins Rechtssystem integriert wird. Es ist ein so­zia­ler Ausnahmezustand, er schneidet tief in die alltäglichen Abläufe und Gewohnheiten ein.

Nach diesem Dienstag geht es Schlag auf Schlag: Die Museen, Theater und auch die Unis werden geschlossen – in Österreich hat das Semester schon begonnen –, ein paar Tage später dann auch die Schulen, Kindergärten und die Geschäfte. Nur Supermärkte, Post und Apotheken bleiben geöffnet. Derweil liegt die Sterberate für die Krankheit Convid-19 in Italien bei um die 7 Prozent, das sind in Norditalien zwischen 200 und 400 Personen – pro Tag! Zweifellos erleben wir in Europa das einschneidendste Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nie waren alle so betroffen

Gegen die Effekte, die die Anti-Corona-Maßnahmen haben, erscheinen all die anderen Einschnitte bloß als punktuell und partikular, der autofreie Ölschocksonntag, Tschernobyl, selbst Bau und Fall der Berliner Mauer. Nie waren alle dermaßen betroffen. Die Ausgangsbeschränkungen treffen alle, ins Kino oder Restaurant kann niemand mehr. Der Dax legt den schnellsten Absturz der Geschichte hin, das betrifft langfristig nicht nur börsennotierte Unternehmen. Und doch betrifft die Corona-Krise, und das ist entscheidend, nicht alle gleichermaßen.

Wenn Gleichheit zur Voraussetzung für Solidarität gemacht wird, kommt sie schnell an ihre Grenzen. Viele fallen raus, Differenzen werden überdeckt

Wenige Tage nach dem ausgefallenen Sterne-Konzert telefoniere ich mit einem Freund, der selbstständig als Mischer und Techniker im Veranstaltungsbetrieb tätig ist. Bis Anfang Juni habe er nun nichts mehr zu tun, erzählt er. Alles abgesagt. Ihm entgehen rund 25.000 Euro Einnahmen. Da entstehen ganz andere Probleme als jene, die meine Kolleginnen und Kollegen an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Instituten (mehr oder weniger) plagen: Was soll die vom Bildungsminister verkündete „Umstellung“ auf E-Learning eigentlich konkret bedeuten?

Die Pflegekraft aus Tschechien und der polnische Bauarbeiter können nicht auf Homeoffice umstellen. Die Supermarktkassiererin muss arbeiten und ist einem viel höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt als alle anderen. Der Plattenhändler darf nicht arbeiten und muss um den Fortbestand seines Geschäfts fürchten.

Aber es geht nicht nur um Unterschiede in ökonomischer Hinsicht. Die Besorgten bis Panischen in meinem Bekanntenkreis sind überwiegend Frauen. Männlich hingegen sind meist jene, die Gelassenheit bis Gleichgültigkeit, aber auch Ahnungslosigkeit verkörpern. Die klassische Geschlechtertrennung wird bestätigt und vertieft. Wer braucht da welche Unterstützung?

Das gemeinsame Schicksal

Dieser Tage ist ja viel von Solidarität die Rede. Der österreichische Gesundheitsminister appelliert in jeder Pressekonferenz daran, aber auch ohne Appell entstehen in vielen deutschen Städten solidarische Praktiken von Einkaufs- und Nachbarschaftshilfen. Meist wird dabei das gemeinsame Schicksal aufgerufen, Corona betreffe eben alle. Aber das ist problematisch.

Schon die Ansprache des österreichischen Bundeskanzlers sollte skeptisch machen, denn neben den „lieben Österreichern und Österreicherinnen“ leben im Land schließlich noch 1,5 Millionen Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Das sind 16,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, die nicht angesprochen werden.

Wenn Gleichheit zur Voraussetzung für Solidarität gemacht wird, kommt sie schnell an ihre Grenzen. Viele fallen raus. Jede Anrufung des nationalen Zusammenhalts überdeckt schließlich Klassen- und Geschlechterdifferenzen. Das gilt auch für das „Team Österreich“, das jetzt die Krise meistern soll. Ganz davon abgesehen, dass eine Pandemie natürlich nicht an Staatsgrenzen haltmacht. Solidarität sollte gerade jenen gegenüber geübt werden, die weder Schicksal geschweige denn nationale Zugehörigkeit teilen. Die fundamentalere Sorgen haben als die Verfügbarkeit von Klopapier.

Solidarität gegenüber seinesgleichen ist vergleichsweise einfach. Und beschränkt. Solidarität aber mit jenen, mit denen man nichts gemeinsam hat, darum geht es. Gerade von jenen, die jetzt keine 80-jährige Mutter oder keine Verwandte haben, die an der türkisch-griechischen Grenze festsitzen, ist eine solidarische Haltung verlangt. Um diese Solidarität, die keine Gemeinsamkeit zur Bedingung hat, werden die künftigen sozialen Kämpfe geführt werden.

Schilderung der Pest

Derweil sitzen wir noch in unseren Wohnungen, ein bisschen so, als würden wir Michel Foucaults Schilderung der Pest aus „Überwachen und Strafen“ performen: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung.“

Foucault zielte darauf ab, die Seuche als Ausgangspunkt für die Durchsetzung einer neuen Machttechnik zu beschreiben. Die Pest leitete die Entstehung der Disziplinarmacht ein. Jede Krise greift auch in die Machtordnungen ein. Foucault allerdings schrieb rückblickend, wir hingegen haben diese Neuordnung noch vor uns. Und sind daran beteiligt.

Giorgio Agamben sprach in einem aktuellen Beitrag zur Corona-Krise von „hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmaßnahmen, die wegen einer mutmaßlichen Epidemie […] ergriffen wurden“. Eine krasse Verkennung der Lage angesichts des exponientiellen Anstiegs der Ansteckungskurve. Und angesichts der Situation in Norditalien.

Geldbußen für das Verlassen des Hauses

Sicherlich mag die breite Akzeptanz von Geldbußen für das Verlassen des Hauses bedenklich erscheinen. Aber sie ist zumindest ambivalent. Denn die Präsenz des Staates ist hier nicht bloß Disziplinierungsmacht. Es geht ja nicht um Zurechtweisung, sondern um den Schutz der Schwächeren.

Insofern kann diese Krise auch helfen, die allgegenwärtige Logik des unternehmerischen Handelns und die anhaltenden Privatisierungen zu delegitimieren. Denn eine privatisierte Welt kümmert sich um die Schwächeren einen Dreck. In dieser Hinsicht hatte Agamben dann vielleicht doch recht: Leben im Ausnahmezustand, schrieb er in seinem Buch zum Ausnahmezustand 2003, biete immer auch die Chance, das „Funktionieren der Maschine zu unterbrechen“.

Die Sterne haben schon einen neuen Termin für das ausgefallene Wien-Konzert anberaumt. Es ist der 12. Juni. Auch das strahlt Optimismus aus.

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