Pseudostudie zu Corona-Ursprung im Labor: Von der Lehr- zur Narrenfreiheit
Erst eine Pseudostudie kritiklos hochjazzen, dann sie verdammen und nach der Regierung rufen: Autoritäre Denkstrukturen gefährden Journalismus.
M acht Wissenschaft irre? Der Verdacht, dass extreme Spezialisierung, wie sie Forschung heute erfordert, die Genese monomaner Vorstellungswelten und Allmachtsfantasien begünstigt, liegt nahe. Umgekehrt haben Ergebnisse wirklich bahnbrechender, weltumwälzender Forschung notwendig einen Zug ins Wahnhafte – eben weil sie das Bild der Welt, das vorherrscht, grundsätzlich erschüttern und verschieben.
Es ist dabei gut, wenn Wissenschaftler*innen den Spielraum zwischen Irrsinn und Methode ausreizen – sofern man sich die Mühe macht, zu überprüfen, wo die Wissenschafts- in eine bloße Narrenfreiheit umschlägt. In der Wissenschaft selbst besteht diese Kontrolle darin, dass Schwachsinn bei der Begutachtung durch Fachleute, also dem peer review, durchfällt.
Das funktioniert: Entsprechend hat Roland Wiesendangers von ihm selbst irreführend als „Studie“ bezeichnete unsystematische Collage von Zeitungsausschnitten, willkürlich herausgepickten Studienresümees nebst, als Leim, einigen Absätzen flott geschriebener Prosa zum Thema Corona niemand angenommen; ja er hat noch nicht einmal Kolleg*innen gefunden, die an seiner Hobbybastelei hätten mitschrauben wollen.
Dabei ist der Festkörperphysiker in der Community bestens vernetzt, Mitglied diverser Akademien und auch kein No-Name, sondern laut Hirsch-Index ein international anerkannter Spitzenforscher.
Die Pressestelle darf nicht zensieren
Nicht funktioniert hat hingegen die Rezeption durch die Medien – und zwar nicht in erster Linie, weil die Pressestelle der Uni Hamburg, auf die jetzt viele einhauen, den Quatsch promotet hat: Sie kann ja schlecht anfangen, Professor*innen zu zensieren, genauso wenig übrigens wie der Uni-Präsident.
Ja, sie könnte sich die Regel geben, nur noch auf zertifizierte Forschungsergebnisse hinzuweisen. Aber auch das droht, mit der Wissenschaftsfreiheit der Autor*innen in Konflikt zu geraten. Jede institutionelle Begutachtung seitens der Uni würde sie verletzen.
Schlimm ist, dass alle Kontrollmechanismen bei anerkannten und als seriös gelabelten Publikumsmedien versagt haben: Hamburger Abendblatt, aber auch, ultraunrühmlich, der NDR, der durch seine wegweisende Coronaberichterstattung immerhin einen Ruf zu verlieren hat, Mopo und Bild haben das Werk erst gehypt, das ohne sie in der Senke verschwunden wäre, wie Millionen andere Paper.
Dass sie danach die Kritik an der erkennbar abseitigen Theorie groß fahren und nach Senatorin und Uni-Präsident – der ja auch eher kein Virologe ist – rufen, solche Peinlichkeiten zu verhindern, macht es nicht besser. Es legt allerdings die autoritären Denkstrukturen offen, die in vielen Redaktionen vorherrschen. Vor denen müssen wir uns fürchten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass