Protestforscher über Montagsdemos: „Der Montag ist schon besetzt“
Die Montagsdemonstrationen haben ein zwiespältiges Erbe. Der Bewegungsforscher Alexander Leistner ordnet die geplanten Sozialproteste in Ostdeutschland ein.
taz: Herr Leistner, Sie arbeiten als Bewegungsforscher an der Uni Leipzig an dem Projekt Erbe 89, das die Montagsdemos in Ostdeutschland und ihre wechselhafte Bedeutung erforscht. Wie erleben Sie aktuell die Debatte über einen “heißen Herbst“?
Alexander Leistner: Das Charakteristische ist ja, dass wir über Demonstrationen sprechen, die noch gar nicht stattgefunden haben. Es gibt eine große mediale Aufmerksamkeit, ohne dass schon etwas passiert ist. Und diese mediale Debatte verstärkt wiederum die Mobilisierung, auch bei extremen Rechten.
Wer mobilisiert denn aktuell?
Da gibt es zwei Stränge: Es gibt aus der Linken seit einigen Wochen den Aufruf, diesen Herbst gegen die Energiepolitik zu demonstrieren, mit einer ersten Demonstration am kommenden Montag in Leipzig. Gleichzeitig gibt es seit 2014 Montagsdemos in vielen kleinen und mittleren ostdeutschen Städten: Zuletzt wurde dort gegen die Corona-Politik demonstriert, als die Querdenken-Bewegung bundesweit schon nicht mehr stark war. Und diese haben sich nun auch die Proteste gegen die Energiepolitik angeeignet.
Wie sieht das vor Ort aus?
Am vergangenen Wochenende waren in Plauen 2.500 Menschen auf der Straße, am Montag gab es in Gera, Görlitz, Chemnitz und vielen anderen ostdeutschen Städten Proteste. Einige Teilnehmer trugen Russlandfahnen, andere forderten, die Pipeline Nord Stream 2 zu öffnen. Viele Plakate richteten sich explizit gegen Robert Habeck und die Grünen.
Der Bundeskanzler hat die hohen Energiepreise als „sozialen Sprengstoff“ bezeichnet, die Außenministerin fürchtet „Volksaufstände“ – halten Sie das für realistisch?
Ich halte diese Äußerungen für ein Signal von staatlicher Seite: Man will nicht noch einmal aufkommende Proteste verschlafen, wie es bei den Protesten gegen die Corona-Politik der Fall war. Die Zuspitzung, es drohten Volksaufstände, ist aber trotzdem übertrieben.
Es gibt die Befürchtung, dass berechtigter Protest gegen die Energiepolitik der Bundesregierung von Rechten unterwandert wird. Teilen Sie das?
Das ist regional sehr unterschiedlich. In großen Städten wie Leipzig wird die Linke es vermutlich schaffen, die Proteste zu dominieren. Aber in kleineren ostdeutschen Städten gibt es seit 1990 eine rechte Hegemonie auf der Straße. Das hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt, durch Pegida und die Querdenken-Demos.
Nun organisiert die Linke den Auftakt ihres “heißen Herbstes“ ausgerechnet an einem Montag und ausgerechnet in Leipzig und will damit natürlich an die Tradition der Montagsdemos 89 und die Proteste gegen Hartz IV im Jahr 2004 anknüpfen. Halten Sie das für eine gute Idee?
Nein, ich glaube, das ist keine gute Idee. Der Montag ist seit Jahren von rechten Akteuren besetzt.
ist Protestforscher und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Dort verantwortet er das Forschungsprojekt „Das umstrittene Erbe von 1989“.
Klingt, als hätte man sich in der Linken mit dem Wochentag keinen Gefallen getan.
Für mich ist dieser Bezug auf Montagsdemos ein Fall von Selbstüberschätzung aus den Großstädten. Die Zivilgesellschaft ist in vielen ostdeutschen Städten schwach, die kann das gar nicht leisten, nach Jahren mit rechten Protesten in der Fläche zu demonstrieren. Die spannende Frage wird sein, ob es trotzdem gelingt, soziale Proteste zu organisieren, die sich räumlich, zeitlich und inhaltlich klar davon abgrenzen.
Was bedeutet das?
Es muss darum gehen, in der Energiekrise die rechten Deutungsmuster nicht zu übernehmen. Also die Frage nach solidarischer Lastenteilung zu stellen, ohne den russischen Angriffskrieg zu relativieren und damit Ursache und Wirkung zu verkehren.
Ein anderer Wochentag hätte andere Assoziationen geweckt.
Ja, Fridays for Solidarity, zum Beispiel. Aber von der Klimabewegung wollten sich Teile der Linkspartei offenbar bewusst abgrenzen.
Trotz Pegida bleibt die Montagsdemo offenbar auch für viele Linke ein starkes Narrativ.
Die Ereignisse 89 in der DDR waren eine charismatische Erfahrung, die die politische Kultur geprägt haben. Die überraschende Erfahrung, dass eine Diktatur wie ein Kartenhaus zusammenbricht, hat eine Unmittelbarkeitserwartung geweckt.
Was meinen Sie damit?
Es gibt in der politischen Kultur in Ostdeutschland die Erwartung, dass Demonstrationen direkt in politisches Handeln umgesetzt werden: Wir demonstrieren hier so lange, bis unsere Forderung erfüllt wird. Es fehlt die Erfahrung einer langjährigen, stabilen Demokratie, mit einer starken Zivilgesellschaft, Parteien und Gewerkschaften, in denen man sich langfristig für seine Interessen einsetzt.
Viele Linke denken bei Montagsdemos auch an die Demonstrationen gegen die HartzIV-Reformen 2004: Es waren die größten Sozialproteste in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie fing das an?
Die Proteste entstanden quasi aus dem Nichts. Das war eine Graswurzelbewegung, ähnlich wie Fridays for Future. In Magdeburg organisierte ein Einzelner, Andreas Ehrholdt, mit selbst gemachten Plakaten die erste Demonstration. Erst kamen 600, eine Woche später 6.000. In ganz Deutschland gingen bis zu 200.000 Menschen auf die Straße. Parteien und Gewerkschaften waren zunächst gar nicht beteiligt.
Heute will die Linkspartei also etwas von Oben organisieren, was damals von Unten kam.
Ja, so könnte man das formulieren. Und die Tragik ist natürlich, dass die Proteste zwar groß, aber politisch erfolglos waren.
Wer ging denn 2004 auf die Straße?
Aus Befragungen wissen wir, dass Menschen demonstrierten, die durch die HartzIV-Reformen etwas zu verlieren hatten. Viele waren über 55 Jahre alt und hatten Angst vor dem Verlust ihrer Arbeit, weil eine berufliche Umorientierung in diesem Alter schwer ist.
Heute ist diese Generation alt. Was wissen Sie über die rechten Montagsdemos von Pegida?
Bei Pegida ist es interessanterweise so, dass die Mehrheit der Demonstranten bei Befragungen angibt, dass sie 89 auf der Straße waren, nicht aber 2004. In den letzten Jahren hat sich bei den Montagsdemonstrationen gegen die Coronapolitik ein AfD nahes Kernmilieu herausgebildet.
Waren auch bei den Sozialprotesten 2004 schon Rechtsextreme beteiligt?
Ja, das ist relativ unbekannt. In einigen ostdeutschen Städten hatten Neonazis die Demonstrationen übernommen, in anderen wurden die Montagsdemos von den Veranstaltern eingestellt, um den Rechten keine Bühne zu geben. Lange vor Pegida schrieben damals ehemalige Bürgerrechtler, dass diese Protestform verloren ist.
Können neue soziale Bewegungen überhaupt an Demos vor 20, 30 Jahren anknüpfen oder ist das zum Scheitern verurteilt? Der erste Mai in Kreuzberg ist heute eine Bratwurstmeile.
Sicherlich gibt es bei Demonstrationen oft die Gefahr, folkloristisch zu werden. Ein anderes Beispiel sind die Ostermärsche, bei denen wir aus Befragungen von Teilnehmenden wissen, dass sie seit langem nur ihr Kernmilieu mobilisieren. Das ist aber bei Demonstrationen mit Bezug auf 89 in gewisser Weise anders.
Inwiefern?
Die Montagsdemos sind spezifisch ostdeutsch, aber erreichen unterschiedliche Gruppen. Ein Beispiel: In Plauen demonstrieren am Wendedenkmal die Rechtsextremen vom Dritten Weg, an einem anderen Tag wird der Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert.
Was glauben Sie, werden die neuen Sozialproteste ein Erfolg?
Es gibt sicherlich ein Potenzial für progressiven Protest. Aber zumindest in Ostdeutschland wird es nicht leicht, an den rechten Akteuren vorbei etwas auf die Beine zu stellen. Das ist wie beim Hasen und dem Igel: Der andere ist immer schon vorher da.
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