Proteste in Ägypten: Die Friedhofsruhe ist vorbei

Proteste erschüttern das Sisi-Regime in Ägypten. Wer dahintersteckt, ist ein Rätsel. Entzündet haben sie sich an Videos eines geflohenen Unternehmers.

Menschen die jeweils einen Arm mit geballter Faust nach oben gereckt haben

„Sisi muss weg“: Demonstranten in Kairo, 21. September Foto: reuters

KAIRO taz | Plötzlich war die Angst weg. Letzten Freitag trauten die Ägypter ihren Augen nicht, als fast zeitgleich in den sozialen Medien Videos von Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, in mehreren anderen Stadtteilen Kairos und Gizas, in Alexandria, in Suez und in den Nildeltastädten Mahalla und Mansoura auftauchten.

Die Demonstranten riefen zum Sturz des Präsidenten al-Sisis auf, mit den gleichen Slogans wie beim Arabischen Frühlings 2011. Es waren keine Massendemonstrationen wie damals, manchmal war nur ein Dutzend Menschen zu sehen, manchmal vielleicht ein paar hundert. Aber es war eine Sensation, dass diese Demonstrationen überhaupt stattfanden.

„Habt keine Angst, al-Sisi muss weg“, lautete ein Slogan. Jahrelang hatte es der ägyptische Sicherheitsapparat geschafft, ein allgemeines Demonstrationsverbot mit harter Hand durchzusetzen. Wer in Ägypten demonstriert, geht ein hohes Risiko ein, für Jahre weggesperrt zu werden.

Den meist sehr jungen Menschen jetzt scheint das egal zu sein. Mindestens 74 Menschen wurden verhaftet, berichtete AFP unter Berufung auf Sicherheitskreise. Doch das hielt einige Jugendliche nicht auf, am Samstag in Suez erneut zu demonstrieren, bevor sie mit Tränengas auseinandergetrieben wurden. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo sorgte dagegen eine hohe Präsenz der Sicherheitskräfte dafür, dass sich der Freitag nicht am Samstag wiederholte.

Videobotschaften aus dem Nähkästchen

Motiviert wurden die Proteste von einem Phänomen, das Ägypten nun seit zwei Wochen in Atem hält. Ein bis dahin kaum bekannter Bauunternehmer namens Muhammad Ali, der 15 Jahre lang als Subunternehmer für die ägyptische Armee gearbeitet hat und heute in Spanien lebt, begann auf Videos aus dem Nähkästchen zu plaudern.

Wie ein Whistleblower aus dem inneren Kreis der umfangreichen Geschäftstätigkeiten der Armee gab er Details über Immobiliengeschäfte in Milliardenhöhe preis und klagte Sisi persönlich mit pikanten Details an, große Summen für Präsidentenpaläste zu verschwenden.

Ali, der an diesen Geschäften mitverdient hat, aber nun offensichtlich ungehalten ist, weil ihm die Armee Geld schuldet, kommt dabei wenig sympathisch rüber. Aber er spricht in einem volkstümlichen Tonfall, der für alle in Ägypten verständlich ist. Die Ägypter begannen, die Videos in Massen anzuklicken, und warteten jeden Tag begierig, wie bei einer Fernsehserie, auf die Fortsetzung.

In einem Land, in dem jeder dritte Ägypter unter der Armutsgrenze lebt, trifft all das einen Nerv. „Warum lebt er in Palästen, während wir von Müllhalden fressen?“, schrie eine Frau am Rande einer Demonstration in eine Handykamera, bevor sich auch dieses Video verbreitete.

Sisis bisher einzige Antwort trug wenig dazu bei, die Wogen zu glätten. „Ich habe Paläste gebaut und ich werde mehr bauen“, sagte er – nicht für sich selbst, sondern für den neuen Staat, erklärte er, um dann hinzuzufügen: „Das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee – das Zentrum der Schwerkraft für Ägypten und die ganze Region.“ Auf die Details der Anschuldigungen ging er nicht ein.

Das Beispiel Sudan

Völlig unklar ist, wer die fast zeitgleichen Proteste am Freitag koordiniert hat. Die kleine verbliebene Opposition war von ihnen ebenso überrascht wie die einstigen Tahrir-Aktivisten. Unter den Verhafteten befinden sich keine bekannten Namen. Viele spekulieren, dass innerhalb des Regimes ein Machtkampf ausgebrochen sein könnte: Muhammad Ali sei hier nur eine Marionette.

Dass der ehemalige Stabschef Sami Anan sich zu Wort meldete, goss noch mehr Öl ins Feuer der Spekulationen. Anan sitzt eine zehnjährige Haft in einem Militärkrankenhaus ab. Auf Facebook rief er nun Verteidigungsminister Muhammad Zaki dazu auf, Sisi zu verhaften, wenngleich Anans Tochter abgestritten hat, dass dieser Aufruf von ihrem Vater stammt.

Aber selbst wenn das Ganze aus dem Regime heraus inszeniert oder gar von einstigen Mubarak-Leuten gelenkt sein sollte, könnte es eine Dynamik entwickeln, die am Ende niemand mehr kontrolliert. In der Region ist dieses Jahr einiges in Bewegung. Besonders der Umsturz im Sudan wird in Ägypten mit großem Interesse verfolgt.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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