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Proteste gegen PolizeigewaltÜber Gewalt und Sicherheit

Was die Morde von Solingen, die Proteste gegen Polizeigewalt in den USA und die Sehnsucht nach Sicherheit miteinander zu tun haben.

Vor das Gefängnis von Pittsburg haben sich Demonstranten auf die Straße gelegt Foto: Matt Freed/Pittsburgh Post-GAzette/ap

V or 27 Jahren fuhr ich nach Solingen, wo bei einem rechtsradikalen Brandanschlag fünf Angehörige einer türkischstämmigen Familie getötet wurden. Es war ein großer Schock, wie jedes dieser Pogrome und der Morde, die in diesen Jahren stattfanden – Solingen reihte sich ja ein in Geschehnisse wie den gewalttätigen Mob von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, aber auch die Morde von Mölln.

Wenn ich mich nicht völlig täusche, dann war Solingen der allererste Fall, bei dem es zu gewalttätigen Krawallen der jungen Einwanderergeneration in Deutschland kam. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals mit jungen Migrantinnen und Migranten durch die Stadt lief, wie Scheiben klirrten, wie wir später in einem alevitischen Restaurant zusammen saßen und ich mit der Tochter des Betreibers sprach. Ich kann mich mehr an meine Emotionen als an die konkreten Vorkommnisse oder gar an die genauen Gespräche erinnern.

Aber ich weiß, dass ich diesen militanten Aufstand der jungen Migrantinnen und Migranten gut und richtig fand, und zwar gerade den der normalen, nicht politisch besonders artikulierten. Die Hauptemotion war einfach die normaler junger Leute, die Jahre von Diskriminierungserfahrungen und Morden erlebt hatten und die jetzt ausdrückten: Wir lassen uns nicht mehr alles gefallen.

Ich fühlte mich ihnen zugetan.

Ich muss daran immer wieder denken, wenn die Bilder brennender Häuserzeilen und geplünderter Geschäfte aus den USA zu sehen sind. Natürlich bin ich ein Gegner von Gewalt. Und noch mehr bin ich ein Gegner von Politaktivisten, die glauben, mit gewalttätiger Straßenmilitanz irgendein „System“ herausfordern zu können. Das ist blöde Klassenkriegs-Romantik.

Friedrich Engels

Über diesen Unsinn hat schon der alte Friedrich Engels 1895 alles gesagt, was zu sagen ist, nämlich dass wir Radikalen bei den gesetzlichen Mitteln besser gedeihen als mit den revolutionären Mitteln (ja, auf seine alten Tage machte der greise Engels selbst die „reformistische Revision“, und zwar in einer Schärfe und Klarheit, die nichts zu wünschen übrig ließ).

Aber die spontanen Wutausbrüche derer, die von Chancenlosigkeit, Diskriminierung und alltäglicher Polizeigewalt gepeinigt sind, sind etwas ganz anderes. Sie sind absolut verständlich. ­Lachhaft sind die Fürsprecher gewaltsamer ­Verhältnisse, die den Opfern Friedfertigkeit predigen.

Der Moderator und Comedian Trevor Noah („The Daily Show“) hat das so formuliert: In einer Gesellschaft gehen wir davon aus, dass wir einen wechselseitigen Vertrag über die Normen und Prinzipien unseres Zusammenlebens haben. Chronische Polizeigewalt und Diskriminierung zeigen aber den Unterprivilegierten, die sich an diese Normen halten, dass der Staat selbst täglich den Vertrag bricht. Die Wut darüber ist die Quelle der Gewalt.

Race Riots

Natürlich schadet diese mehr, als sie nützt. Erstens ist Gewalt nie gut, zweitens gibt sie den Herrschenden die Legitimation, Proteste gewaltsam niederzuschlagen und im Extremfall sogar ein autoritäres Regime zu errichten.

In unseren Fernsehberichten ist jetzt auch oft von „Rassenunruhen“ zu hören, was ein blödes Wort ist, allein, weil es einfach auf der wörtlichen Übersetzung von „race riots“ beruht, aber race im amerikanischen Kontext das meint, was wir hier „Ethnizität“ nennen würden.

Aber es ist auch noch aus einem zweiten Grund falsch. Ich finde, das ist ja das Schönste an den Bildern aus den USA: dass hier eine bunte junge Generation auf den Straßen ist, Schwarze, Weiße, Hispanics, alle zusammen. Es sind eben keine primär „ethnischen“ Unruhen. Es ist ein demokratischer Aufstand jener, die einen Wandel wollen.

Was Linke aber meist nicht so gut verstehen, ist, dass die Menschen einerseits ein Bedürfnis nach Veränderung haben, aber auch ein Bedürfnis nach Sicherheit. Gerade die Verwundbarsten schätzen den Wandel nicht automatisch, da sie Unsicherheit fürchten, und zwar durchaus aus verständlichen Gründen.

Paradoxien

Wenn es gesellschaftliche Sicherheit gibt, dann wird der Wandel bevorzugt, wenn sich aber vielfältige Bedrohungen ins Leben fressen, dann eher die Sicherheit. Das ist vielleicht eine der großen Paradoxien der Geschichte: wenn Unsicherheit wächst, es also objektiv viele Gründe für radikalen Wandel gibt, wird die Sicherheit bevorzugt und nicht die Veränderung. Ich glaube, dass die großen Wellen des politischen Auf und Ab in höchstem Maße von dieser Tatsache bestimmt sind.

Wir sollten das im Kopf behalten, gerade weil wir auf die schwerste ökonomische und soziale Krise seit langer Zeit zusteuern: Wir brauchen zwar Erneuerung, aber die Menschen werden sich Sicherheit wünschen.

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Robert Misik
Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.
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7 Kommentare

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  • 0G
    05158 (Profil gelöscht)

    .......Brecht, Bertolt - Maßnahmen gegen die Gewalt - Textvergleich mit Günter Kunert "Zentralbahnhof" und Franz Kafka "Vor dem Gesetz" ......

    Bischen Schweiß von der Stirn wischen!

    ...die Gemeinsamkeiten in den drei Texten kann man darin sehen, daß sie sich auf irgend eine Art und Weise mit der Gewalt im allgemeinen auseinandersetzen. Bei allen Texten sind die Personen, auf die Gewalt ausge übt wird Einzelpersonen und stehen somit irgendwie alleine da. Im Gegensatz dazu, sind die, von denen die Gewalt ausgeht, immer Vertreter einer Größeren Gruppe und haben dadurch auch viel mehr Macht ihre Handlungen durchzusetzen ohne nachgeben zu müssen. Sie können immer auf die Hilfe der Leute hoffen, die hinter ihnen stehen, was den Einzelpersonen nicht gewährt ist. Aber Brecht zeigt uns auch, daß man auch als Einzelperson, ohne Fremde Hilfe, die Gewalt überleben kann, indem man sich ihr, zum richtigen Zeitpunkt, anpasst und sich ihr nicht entgegenstellt. So etwas nennt man auch überlegtes Handeln........

    ........So ist auch die uns bekannte Bürokratie ein Hindernis, was mit einigen Aufwand überwunden werden kann aber viele vor diesen Mühen, die aufgebracht werden müssen, abgeschreckt werden. So können sie ihr eigentlich zustehende Rechte, nach dem Gesetz, nicht wahrnehmen und müssen mit dem weiter leben, was sie bis dahin erreicht haben.......

    Mal lauschen......

    www.grin.com/document/102740

  • Ich bitte um Nachsicht, aber was an dieser Analyse des menschlichen Verhaltens - in sicheren und unsicheren Zeiten - in Gegenwart und Vergangenheit ist neu? So richtig sie ist, so ratlos macht sie.

    Wie richtig Misiks Feststellung ist, bestätigt sich monatlich in der metallzeitung (IG Metall) und der Publik (ver.di), wie vermutlich auch in jeder anderen Gewerkschaftszeitung. Die Neufassung des 50er Jahre Mantras der CDU ("Wenn es den Unternehmen gut geht, dann geht es den Arbeitnehmern gut") verklärt sich dort zu "Sichere Arbeitsplätze durch gesunde Unternehmen", egal was produziert wird. (Siehe die Ohrlasche der IGM für die SPD, wegen Verhinderung der Abwrackprämie)

    All die politischen, gesellschaftlichen soziologischen und ökonomischen Theorien, all die historischen Erfahrungen und Katastrophen, die daraus gezogenen oder nicht gezogenen Lehren, all die Ideologien, die bis aufs Blut verteidigt oder mit fremden Blut finanziert wurden, waren oder sind nur nutzlose Erkenntnisse?!

    Nicht ganz! Es gibt ja was Neues! Dieses neue Framing! Die "sozial-ökologische Transformation"! Dieses, "nicht mehr vom gleichen", sondern die "Veredelung des Lebensstils für diejenigen die es sich leisten können". Ralf Fücks, ein Vordenker der Grünen formulierte das bereits 2013 so auf zon; unter dem Titel 'Wir können auch anders'. Es ist heute das moderne Programm, für ein besseres Leben, in vergoldeten Ketten, mit einem nachhaltigen Öko-Aufkleber, der bei Bedarf auch abwaschbar lieferbar ist. Wenn es der Wirtschaftsstandort oder der potentielle KO-Partner fordert.

    An den Ungerechtigkeiten, der sozialen Spaltung, der Ausbeutung, dem Klimawandel, den Zukunftsperspektiven ändert sich dadurch nichts. Auch nicht an dem Paradoxon, dass nur die Halter des Konsumentenvieh umso fetter werden, je mehr es frisst.

    Bei aller Ratlosigkeit: Resignation ist keine Alternative!

  • Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - wirft ein -

    “ - "In einer Gesellschaft gehen wir davon aus, dass wir einen wechselseitigen Vertrag über die Normen und Prinzipien unseres Zusammenlebens haben. Chronische Polizeigewalt und Diskriminierung zeigen aber den Unterprivilegierten, die sich an diese Normen halten, dass der Staat selbst täglich den Vertrag bricht. Die Wut darüber ist die Quelle der Gewalt."







    Mehr Einsatz beim Dreisatz.



    Mehr Tugend in allen Ständen.



    www.zeno.org/Liter...delbuch%C2%AB+K%5D







    "Wenn Freiheit, wie man sagt, dem Menschen natürlich ist, ist es ihm denn minder natürlich, sich dem Schutze eines andern zu unterwerfen, wenn er nicht Stärke oder nicht Tätigkeit genug hat? Da man sich über Könige weggesetzt hat, wird es nicht immer Menschen geben, die sich über Gesetze wegsetzen? Tugend in allen Ständen ist die Hauptsache; wo die nicht ist, da ist alles nichts, und Wechsel wird stets Statt finden. [....] Man hat sich über Könige weggesetzt, nicht weil sie Tyrannen waren; sondern man nannte sie so, weil man sich über sie wegsetzen wollte.



    Und wie, wenn es nun nie an Ehrgeizigen fehlen wird, die die Gesetze für Tyrannen halten?"



    (Georg Christoph Lichtenberg)“

  • 0G
    05158 (Profil gelöscht)

    Sehr guter Beitrag!

    Zum letzten Absatz i.A. fällt mir der zeitlose Satz von B. Brecht ein



    ...Erst kommt das Fressen, dann die Moral .....

  • Danke …anschließe mich.

  • Danke für diesen schönen Artikel.

  • Das geschilderte Paradoxon ist tatsächlich etwas, was Journalisten mit Anspruch (und zwar nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst) im Kopf behalten sollten beim Schreiben. Nicht als „Schere“, nein. Nur als Anreiz, eine Sprache zu wählen, die die Unsicherheit nicht zusätzlich vergrößert und damit den ewig Reaktionären in die Hände spielt.

    Schon klar, so eine Sprache muss man erst mal haben um sie wählen zu können. Aber Fest steht: Es ist das eine, umfassend informiert zu werden. Etwas ganz anderes ist es, sich gehetzt zu fühlen von denen, die einen eigentlich befähigen sollten, das Richtige zu tun. Auch, wenn es vielleicht gerade ganz besonders viel Überwindung kostet.