Protest gegen TTIP und Ceta: „Ich bin ein freies Elektron“
Eine Querflötenlehrerin aus Lüdenscheid organisiert Bürgerklagen gegen geplante Freihandelsabkommen. Was treibt sie an?
Als Marianne Grimmenstein ihre Arbeit von Monaten in einem braunen Karton durch Berlin trägt, wartet Brigitte Zypries mit Kaffee auf sie. Im Bundeswirtschaftsministerium treffen sich die beiden Frauen zum Gespräch. Im Karton, den Marianne Grimmenstein der Staatssekretärin und ehemaligen Justizministerin der SPD mitbringt, sind Listen mit insgesamt 163.000 Unterschriften.
Diese 163.000 Menschen fordern, dass der TTIP-Leseraum im Wirtschaftsministerium für alle Bürger geöffnet wird. Bisher sind die Akten darin nur den Bundestagsabgeordneten zugänglich – und die dürfen darüber öffentlich nichts erzählen.
Als die beiden Frauen gemeinsam Kaffee trinken, sagt Zypries zu Grimmenstein, dass es bei dieser Praxis bleiben wird.
Trotzdem: Eine derartige Beachtung seitens der Bundesregierung ist neu für Marianne Grimmenstein. Politisch hat sie kaum Erfahrung; eigentlich ist sie Querflötenlehrerin. Ihr größter politischer Erfolg bestand bisher darin, dass sie den geplanten Umzug der Volkshochschule in ihrer nordrhein-westfälischen Heimatstadt Lüdenscheid in ein heruntergekommenes Gebäude im Außenbezirk verhindern konnte.
Die Herrschaft der Wirtschaft über das Leben
Vor einiger Zeit jedoch meldete sich die Kampagnenorganisation change.org bei ihr. Grimmenstein hatte vor zwei Jahren eine Verfassungsbeschwerde gegen die geplanten Freihandelsabkommen Ceta und TTIP formuliert und sie zusammen mit 230 anderen Bürgern beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Sie war damit aus formalen Gründen gescheitert. Über change.org konnte sie nun nicht nur Unterschriften, sondern auch Geld sammeln, um einen erfahrenen Juristen zu bezahlen, der eine Verfassungsbeschwerde schreibt, die den Karlsruher Anforderungen gerecht wird. Sie fand ihn im Bielefelder Rechtsprofessor Andreas Fisahn.
TTIP und Ceta sollen den transatlantischen Handel erleichtern, TTIP zwischen der Europäischen Union und den USA, Ceta zwischen der EU und Kanada, indem Zölle abgeschafft und Normen angeglichen werden. Kritiker wie Grimmenstein befürchten, dass durch diese Abkommen die Herrschaft der Wirtschaft über das normale Leben zunimmt.
Am kommenden Freitag erscheint die taz mit acht Sonderseiten zu TTIP. Darin geht es um die Frage: Kann es ein gutes Freihandelsabkommen geben?
Ceta ist bereits ausgehandelt, der Text veröffentlicht. Demnächst müssen der Europäische Rat und das Europäische Parlament darüber entscheiden. Die Verhandlungen über TTIP sind dagegen noch im Gange. In Kürze findet die offiziell vorletzte, im Sommer dann die angeblich letzte Verhandlungsrunde statt. Sehr wahrscheinlich aber wird der Vertrag mit den Vereinigten Staaten so schnell nicht beschlossen und ratifiziert. Denn dort finden im Winter die Präsidentschaftswahlen statt, die die Verhandlungen vermutlich ins nächste Jahr verlängern.
Jede Menge Gegenwehr
Und in Europa gibt es inzwischen jede Menge Gegenwehr. Wenn US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel am kommenden Wochenende die Hannover-Messe eröffnen, werden dort einige zehntausend Leute gegen die Abkommen demonstrieren.
Einen Tag, bevor sie Zypries ihre gesammelten Unterschriften überreichen wird, sitzt Grimmenstein im Büro von change.org in Berlin, und schaut über die Dächer der Hauptstadt. Sie ist 69 Jahre alt, aber sie wirkt jünger. Ihre Stimme ist hell und fröhlich.
Vierzig Jahre lang hat sie an der öffentlichen Musikschule in Lüdenscheid Querflöte unterrichtet – Mozart und Jazz. Mit leichtem südosteuropäischem Akzent erzählt sie, dass sie 1968 von Budapest nach Deutschland übersiedelte. „Der Liebe wegen.“ Sie legt ihrem Mann, der neben ihr sitzt, die Hand aufs Knie.
Mittlerweile ist Grimmenstein in Rente. Auf Honorarbasis kümmert sie sich noch um zehn Musikschüler. Deswegen hat sie nun Zeit, ihr rechtswissenschaftliches Verständnis praktisch anzuwenden. Ihr Vater und ihr Großvater waren Juristen. „Zu Hause wurde immer viel über Recht und Politik gesprochen.“ Ein Urgroßvater saß im ungarischen Parlament. „Er war ein feuriger Abgeordneter.“ Die Urenkelin lacht laut. „Wir haben seine Reden gelesen.“
Postbote kommt mit dem Kleintransporter
Mit Hilfe von change.org hat Grimmenstein nun zwei Petitionen im Rennen. Mit ihrer zweiten Unterschriftenaktion mobilisiert die Aktivistin für ihre Verfassungsbeschwerde gegen das Europa-Kanada-Abkommen Ceta. Es ist die größte Bürgerklage in der deutschen Geschichte: 50.000 Vollmachten hat Grimmenstein bislang von Bürgern erhalten, die ihr Ansinnen unterstützen. „Wahrscheinlich weitere 20.000 liegen noch in den ungeöffneten Postsäcken bei mir zu Hause“, sagt sie. Der Postbote kommt inzwischen nicht mehr mit dem Fahrrad zu ihr, sondern hat sich einen Kleintransporter besorgt.
Der Rechtsprofessor Andreas Fisahn will die Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen, sobald eine deutsche Fassung des Ceta-Vertrags vorliegt. Wann das ist, ist noch unklar.
Grimmenstein sagt, sie stürzt sich so in die Sache, weil sie sich um die Zukunft ihres achtjährigen Enkelkinds sorgt. „Das westliche System ist kein Erfolg“, sagt sie. „Die Wirtschaft zerstört die Umwelt weltweit, und die bestehenden Gesetze hindern sie nicht daran.“ Wenn der TTIP-Vertrag in Kraft träte, könnte durch die Angleichung der Normen das europäische Prinzip der Vorsorge gegen Umweltschäden ausgehebelt werden, sagt sie. „Die Politik muss über der Wirtschaft stehen. Das menschliche Leben besteht nicht nur aus Warenaustausch.“
Außerdem will sie nicht einsehen, warum die Freihandelsabkommen das Recht der Unternehmen verbriefen sollen, Regierungen vor speziellen Gerichtshöfen zu verklagen.
Keine Linke
Die EU-Kommission ist den KritikerInnen zwar inzwischen entgegengekommen. Statt privater Schiedskommissionen soll es künftig öffentliche Handelsgerichte geben. Die Ceta- und TTIP-GegnerInnen fragen sich trotzdem: Warum wird den Konzernen ein neuer Rechtsweg eröffnet? Was ist so schlecht an den Verwaltungsgerichten, die auch den Bürgern reichen müssen?
Als Linke versteht sich Grimmenstein dabei nicht. „Ich bin ein freies Elektron.“ Würde sie auch die Zusammenarbeit mit Rechten und Rechtspopulisten in Kauf nehmen? „Jeder Bürger kann einer Verfassungsbeschwerde beitreten“, sagt sie. „Ich bin keine politische Sortieranlage.“
Angespornt von ihrem Erfolg denkt die Aktivistin schon weiter. Zur Bundestagswahl 2017 möchte Marianne Grimmenstein mit einer Liste unabhängiger Kandidaten antreten, die keiner Partei angehören. Sie selbst will aber nicht kandidieren. Ihr Talent bestehe eher darin, Leute zusammenzubringen, sagt sie.
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