Probleme in der Ausländerbehörde: „Ein blinder Fleck der Politik“
Helge Lindh (SPD) hat ein Praktikum in Wuppertals Ausländerbehörde gemacht. Seine Kritik: Mitarbeitende stehen unter Druck, Digitalisierung fehlt.
Helge Lindh wollte sich nach Jahren als Vorsitzender des Integrationsrats der Stadt einen tieferen Eindruck der umstrittenen Behörden verschaffen. Ende August begab er sich für vier Tage in die verschiedenen Bereiche des Hauses. Der Bundestagsabgeordnete spricht angesichts kurzer Wege und einer engen Verzahnung der Bereiche von einer „positiven Ausnahme“, durch die die Zusammenarbeit erleichtert wird. Doch auch in Wuppertal kennt man die Probleme, mit denen viele Kommunen kämpfen: Das Personal wechselt häufig, die Arbeitsbelastung ist hoch.
Nach Angabe von Suna Lenz, Leiterin des Ressorts Zuwanderung und Integration, haben 43 Prozent der Menschen in Wuppertal eine Zuwanderungsgeschichte. Sie benötigen von der Behörde Unterlagen, Verlängerungen oder Unterstützung – Dokumente, die fast ausschließlich in Papierform vorliegen, weil die Digitalisierung noch nicht weit genug vorangeschritten ist.
Der Redebedarf ist hoch
Lindh erklärt: „Wenn neue Gesetze und Regeln kommen, wird meist nicht diskutiert, was das mit der Wirklichkeit zu tun hat – das ist ein blinder Fleck der Politik.“ Manchmal handele es sich nur um einzelne Paragrafen, die nicht funktionieren, manchmal führten neue Gesetze in der Anwendung zu Widersprüchen mit bereits bestehenden Gesetzen.
Während seines Praktikums begleitete er sie in die Beratung mit den Antragstellenden, musste Akten kopieren und in einer Unterkunft ein Bett aufbauen. Im Austausch mit den Mitarbeitenden der Behörde glich Lindh dann die Entscheidungen der Politik in Berlin mit dem ab, was das für diese Stadt bedeutet – und bemerkte: Der Redebedarf ist hoch. „Die Mitarbeitenden bekommen viel Druck ab – aus allen Richtungen“, so Lindh. Die Behörden versuchten, die Gesetze anzuwenden, stünden aber auch immer moralisch in der Verantwortung – schließlich gibt es einen Ermessensspielraum für Einzelfälle. „Es ist ja nicht der emotionslose Staat, der dort arbeitet.“
Dies zeige sich auch daran, dass viele der Mitarbeitenden im Laufe der Zeit teils eine Nähe zu den Antragstellenden aufbauten. Mitgefühl spiele eine Rolle, außerdem gehe beispielsweise eine Sozialarbeiterin anders mit Geflüchteten um als eine Sachbearbeiterin – was besonders dann schwierig sei, wenn beide Funktionen von ein und derselben Person erfüllt werden müssten.
Helge Lindh, Praktikant und Bundestagsabgeordneter
Allein während der vier Tage in der Wuppertaler Behörde habe Helge Lindh viele hochemotionale Situationen erlebt: „Es sind auch Tränen geflossen“ – etwa als eine marokkanische Ärztin aus der Ukraine verzweifelt darum rang, in Deutschland bleiben und arbeiten zu dürfen.
Emotional werde es eigentlich immer, wenn Menschen abgeschoben werden sollen – und zwar auf beiden Seiten. Manchmal drohen die Situationen zu eskalieren. Bei einer der vielen Abschiebungen, im August 2022, hatte ein Geflüchteter eine Sachbearbeiterin der Wuppertaler Behörde mit einem Messer angegriffen und verletzt. In der Mehrheit der Fälle verhalten Betroffene sich friedlich. Doch auch wenn sie sich juristisch gegen Abschiebungen wehren, stellt dies Aufwand für die Mitarbeitenden dar. „Wir denken immer, dass sich die Regeln von alleine anwenden. Aber die Mitarbeitenden müssen umsetzen, was die Politik,verbricht'.“
Wichtig sei, findet Praktikant Lindh ebenso wie die Ressortleiterin Lenz, dass die Arbeit der Behörden bald digitalisiert wird, um die Schritte effizienter zu machen und den Mitarbeitenden beispielsweise Homeoffice zu ermöglichen, was wiederum die Attraktivität des Jobs steigere.
„Wenn Bund und Land hier keine Mittel zur Verfügung stellen, wird das aber schwierig“, betont Lenz. „Man muss den Kommunen mehr zuhören, um zu wissen, was die realen Probleme sind.“ Dazu gehört, dass den Städten und Gemeinden häufig die Ressourcen fehlen, um entsprechende Strukturen aufzubauen, damit sie die Aufgaben so erledigen können, wie es die Gesetze fordern. Suna Lenz hat hierbei noch nicht einmal Mittel für konkrete Projekte wie die Errichtung einer Unterkunft im Sinn. „Es fängt schon damit an, dass ein Team der etwa 300 Mitarbeitenden am laufenden Band rechtliche Schulungen gibt, damit wir uns an geänderte Gesetzeslagen anpassen können.“
Über das Praktikum von Lindh hat Lenz sich gefreut, da so über das Thema gesprochen werde. Aber Reden allein reiche nicht. Nicht nur für einzelne Abgeordnete wünscht sie sich einen „Realitätscheck“, sondern für die Gesetzgebung im Ganzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen